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Progressives Regieren international – das Beispiel Sahel Frieden braucht Entwicklung

»In einer Welt, in der zunehmend jeder auf jeden angewiesen ist und jeder von jedem abhängt, darf Friedenspolitik nicht vor der eigenen Haustür haltmachen.« Rund 43 Jahre nach der Vorstellung des Berichts der Nord-Süd-Kommission »Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen von Industrie- und Entwicklungsländern« und im Umfeld der Halbzeitbilanz der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen ist die Perspektive von Willy Brandt aktueller denn je.

Entwicklungszusammenarbeit ist Friedenspolitik und daher notwendiger Bestandteil einer progressiven Regierungsführung. Zusammenarbeit erfordert in einer multipolaren Welt ein völlig neues Miteinander; eine Politik – und das schließt die Entwicklungspolitik ein –, die Partnerschaft nicht nur behauptet, sondern tatsächlich lebt und umsetzt. Das ist der Kern eines progressiven Verständnisses von Partnerschaft in den internationalen Beziehungen und ein öffentlich bislang weithin unterschätzter Akzent der aktuellen Regierungspolitik. Einer zudem, der nach den menschenverachtenden Attacken der Hamas auf Israel nun auch für den Nahen Osten eine besondere Bedeutung bekommt. Progressives Regieren – das bedeutet, sich für die Belange und Ansichten der Partner ernsthaft zu interessieren und diese in die eigene Handlungsweise einzubeziehen; statt die eigene nationale Perspektive als alleinigen Maßstab zu setzen.

»Unsere gesamte Zusammenarbeit muss von Respekt und Anerkennung getragen sein.« (Olaf Scholz)

Partnerorientierung erfordert eine zentrale Kompetenz: das Zuhören. Und progressives Regieren nach oder besser in der Zeitenwende erfordert eine Investition in eben diese Kompetenz: mit dem Ziel, sich ernsthaft mit den gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Partner auseinanderzusetzen. Bundeskanzler Scholz brachte dies in seiner Rede auf den Punkt: »Vor allem aber muss unsere gesamte Zusammenarbeit von Respekt und Anerkennung getragen sein. Die Länder Asiens, Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik sind verständlicherweise sensibel für jede Form westlicher Bevormundung oder gar Doppelmoral.« Er stellte auch klar, dass der Vorwurf nicht immer gerechtfertigt sei, es aber sehr wohl Bereiche gäbe, die zum Beispiel in der EU-Handelspolitik eine Änderung erfahren müssten.

In einer globalisierten Welt, in der nationale Grenzen zunehmend verschwimmen, ist es unerlässlich, erst den Kontext verstehen zu wollen, dann die Herausforderungen daraus anzunehmen und erst im dritten Schritt, Veränderungen anzustreben. Das kann bedeuten: Natürlich haben wir Interesse an hohen Umwelt- und Sozialstandards. Aber wir müssen auch darüberhinausgehende Interessen unserer Partnerländer wahrnehmen und attraktive Angebote machen. Kurzum: Es braucht Realismus und Offenheit, weniger das Festhalten an Glaubenssätzen. Gerade jetzt, wo Krisen, Konflikte und Fragilität zunehmen, heißt es genau hinzuschauen, sich intensiv und aufmerksam damit auseinanderzusetzen. Ein Anspruch, den der Dreischritt »verstehen, annehmen, verändern« als Grundlage der Arbeit der GIZ in ihrem Einsatz für eine lebenswerte Zukunft zum Ausdruck bringt. Verstehen, annehmen, verändern – das ist auch das Fundament für ein progressives Regieren, das die Entwicklungszusammenarbeit als Friedenspolitik braucht.

(Kontext) Verstehen

Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen und in eine Region schauen, die, ob wir es wollen oder nicht, uns etwas angeht. Und was im Sahel passiert, geht uns wahrlich etwas an. Wenngleich die Aufmerksamkeit angesichts der Lage in Nahost und der Ukraine immer geringer wird. Am 15. August 2023 titelte tagesschau.de im Kontext des Militärputsches im Niger »Deutschlands Sahel-Strategie. Krachend gescheitert?«. Der nachfolgende Beitrag enthält eine Vielzahl von Zitaten und Bewertungen. Eines enthält er allerdings nicht, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Sahel.

Wir sehen im Sahel, etwa in Mali, eine fortschreitende und existenzbedrohende Unsicherheit für die Bevölkerung. Es fehlt Vertrauen in die Funktionsfähigkeit des Staates, der das Gewaltmonopol weder aufbauen noch erhalten kann. Die putschenden Militärs begründen sowohl ihre Machtübernahme als auch die Distanzierung aus dem bisherigen westlichen militärischen Kooperationssystem (Frankreich, UN und so weiter) wesentlich mit der fortschreitenden Verschlechterung der Sicherheitslage.

Rund dreieinhalb Mal so groß und mit einer doppelt so langen Grenze wie die Bundesrepublik konfrontiert, sind die Herausforderungen per se schon erheblich. Mehr als Zweidrittel dieser Grenze liegen zudem in der Wüste – wo sie sozial und politisch eh eher virtuell als konkret ist. In einer Situation extremer, regionaler Durchlässigkeit interagieren die Gesellschaften und Staaten im Sahel wie ein System kommunizierender Röhren. Die ethnischen und soziokulturellen Verbindungen, die weit über die Einzelstaaten und ihre kolonial geschaffenen Grenzen hinausgehen, sind bedeutsamer als eben diese Grenzlinien.

Die größeren regionalen Zusammenhänge sind von der internationalen Gemeinschaft in der Kooperation und der bisherigen Regionalpolitik unterschätzt worden: Das Eingreifen in Libyen 2011 ohne ein Konzept für die Region hat einen (sicherheits-)politischen Dammbruch in der Region ausgelöst. Daraus folgt: Stabilisierung im Sahel funktioniert nicht im Einzelstaat, Lösungen müssen diese regionale Dimension unmittelbar einbeziehen.

Die soziale Verflechtung zwischen Bevölkerung und bewaffneten und djihadistischen Gruppen schreitet ebenfalls voran: Wenn der Staat Sicherheit nicht liefert, sind die einzigen verbleibenden Mittel der Bevölkerung Flucht oder Allianz. Eine Konstellation, die militärisch kaum aufzulösen ist.

»›Teilhabe‹ durch Radikalisierung und Gewalt scheint eine Art alternativer Zugang zu Anerkennung, Wichtigkeit und Einfluss geworden zu sein.«

Woher kommt aber nun die hohe Putschanfälligkeit und die in Teilen hohe Akzeptanz? Man muss sich klar machen, dass der Sahel eine außerordentlich junge Bevölkerung hat – mit wenig Perspektiven für wirtschaftliche, gesellschaftliche und politischeTeilhabe. Im Niger liegt der Altersmedian weltweit am niedrigsten mit 14,5 Jahren, gefolgt von Mali mit 15 Jahren und Burkina Faso mit 16 Jahren. 85 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 35 Jahre. Es gibt keinerlei Repräsentation und Teilhabe für die junge Bevölkerung durch formaldemokratische Prozesse. Die junge Generation hat keine Bindung mehr an die alten politischen und wirtschaftlichen Präferenzbeziehungen im postkolonialen System »France-Afrique« und sie profitiert auch nicht davon. »Teilhabe« durch Radikalisierung und Gewalt scheint eine Art alternativer Zugang zu Anerkennung, Wichtigkeit und Einfluss geworden zu sein.

In den meisten Fällen sind die Putschisten vergleichsweise junge Offiziere mittlerer und unterer Ränge; für die junge Bevölkerung scheinen sie »role models« und Hoffnungsträger für machbare Veränderung zu sein. Schnelle Wahlen nach dem Putsch scheinen zudem keine Priorität zu haben. Vorrang hat offenbar die Sicherung fundamentaler Existenzbereiche wie Sicherheit und Daseinsvorsorge. Und schließlich: Eine besondere Gestaltungsaufgabe für Politik, für Dialog und auch für Staatlichkeit liegt auch darin, dass sahelische Gesellschaften Beschluss und Entscheidung im Wesentlichen durch Konsensfindung suchen. Man möchte gehört und nicht überstimmt werden.

(Herausforderungen) Annehmen

Die Bundesrepublik Deutschland genießt nach wie vor hohe Anerkennung in der Region, deshalb ist es wichtig, dass Deutschland in Gesprächen bleibt. Dies wurzelt unter anderem in der postkolonialen Geschichte. Deutschland war der erste Staat, der Mali als unabhängig anerkannte – dies ist in Mali fest im kollektiven Gedächtnis verankert.

Die starke Fokussierung der westlichen Geber auf die Durchführung von Wahlen befindet sich in einem riskanten Ungleichgewicht zur Bedrohungslage in der Region: Dies ist die massiv fortschreitende Expansion bewaffneter Gruppen, insbesondere Al-Quaida und Islamischer Staat. Sie betreiben gezielt und strategisch den Ausbau ihres Einflusses in Richtung südliche Küstenstaaten und profitieren von jederlei Vakuum.

»Es scheint, als wiederhole sich Geschichte.«

Gesellschaftlich scheinen die Reaktionen auf den Putsch eine Solidarisierung der Bevölkerung mit den Putschisten eher voranzutreiben als zu schwächen. Es scheint als wiederhole sich Geschichte. Bereits im Jahr 2012 herrschte in Mali eine vergleichbare Situation: Der Geberfokus lag nach dem Putsch vom März 2012 mit großer politischer Intensität auf Verhandlung für die schnellstmögliche Rückkehr zur »demokratischen Ordnung« in Form von Wahlen. Unterdessen vereinnahmten die bewaffneten islamistischen Gruppen den Norden des Landes, der von malischer wie auch von internationaler Seite ins politische Vakuum geriet.

Diese Vereinnahmung ist nicht nur im Sinne von territorialer Präsenz und Gewaltherrschaft zu verstehen, sondern auch im Sinne einer Übernahme von quasi-staatlichen Funktionen: Es waren die bewaffneten islamistischen Gruppen, die für »Sicherheit«, Treibstoff und Wasser für die Bevölkerung sorgten, als bewaffnete Tuareg-Elitetruppen 2011/12 nach dem Sturz von Gaddafi aus Libyen nach Mali zurückkehrten und im Streben nach einem unabhängigen Staat im Norden Malis Angriffe auf Armee und Infrastrukturen führten.

Progressives Regieren bedeutet am Ende auch, dahin zu wirken, Perspektiven zu verändern. Deutschland kann sein Gewicht und seine Reputation im Sahel einsetzen und Dialogkorridore offenhalten für einen Transitionsdialog, der dazu beiträgt, dass der sensible Sahelraum nicht gewaltbereiten und antidemokratischen Akteuren überlassen wird und der dabei unterstützt, die Verwerfungen zu adressieren, die der Krise zugrunde liegen. Jedes neue Gestaltungsvakuum spielt letztlich bewaffneten djihadistischen Gruppen in die Karten und ist auch ein Treiber für die immer weiter fortschreitende Integration dieser Gruppen in die Bevölkerung. In der Fragilität des Sahels ist es deshalb zentral, existierende und aufgebaute, basisnahe und funktionierende Strukturen zum Beispiel auf Gemeindeebene, auch in Zeiten politischer Krisen vital zu halten: Keine Staatlichkeit ist keine Option.

Für die Region hat Bundesministerin Svenja Schulze eine klare Perspektive formuliert: »Viele Menschen im Sahel schließen sich Terrorgruppen nicht aus Überzeugung an, sondern weil sie ein Einkommen brauchen. Hier kann Entwicklungspolitik dazu beitragen, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Wir werden unser entwicklungspolitisches Engagement für die gesamte Region ausweiten. Dabei sind wir erfolgreicher, wenn wir gemeinsam mit internationalen Partnern agieren als jeder für sich allein.« Die Bundesministerin unterstreicht damit die Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit als friedenspolitischer Anker und Unterstützerin eines progressiven Regierens der stetigen kleinen Schritte. Frieden braucht Entwicklung! Gerade im Sahel zeigt sich, dass die Voraussetzung für Veränderung in der Auseinandersetzung mit dem Kontext der Partnerländer beginnen muss, ohne die damit einhergehende Komplexität und Herausforderung zu scheuen. Wichtige Schritte sind auf diesem Weg gemacht worden – so auch im Sahel –, viele weitere müssen folgen!

(Mein besonderer Dank gilt Frederike von Stieglitz und Miriam Leidinger für die Unterstützung.)

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