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Die Suche nach Auswegen aus dem Krieg in der Ukraine Frieden in Sicht?

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Bevor Frieden geschlossen werden kann, muss es, jedenfalls in der Regel, zu einem Waffenstillstand kommen, wobei ein solcher, gerade bei länger andauernden Kriegen, oftmals eine Vorverständigung darüber verlangt, wie ein Friedensschluss in Umrissen aussehen soll. Vorgekommen sind auch Waffenstillstände, die lange Zeit andauerten, ohne dass ein Friedensvertrag zustandekam, weil beide Seiden den durch die militärische Lage gegebenen Zustand als provisorisch betrachteten, so seit 1953 auf der Koreanischen Halbinsel.

Bei der öffentlichen Auseinandersetzung über den Ukrainekrieg werden gegen die Möglichkeit beziehungsweise Wünschbarkeit einer Waffenruhe zwei unvereinbare Thesen ins Feld geführt: Von einer Seite heißt es, eine solche könnte genutzt werden – wobei man Russland im Blick hat –, um weitere militärische Aktionen vorzubereiten. Das kann in der Tat nicht ausgeschlossen werden, auf keiner Seite.

Andererseits will man wissen, dass Russland überhaupt nicht gewillt sei, ernsthaft zu verhandeln: weder über einen Waffenstillstand noch gar über einen Friedensvertrag. Um dieses Urteil zu stützen, werden verschiedene, mehr oder weniger plausibel klingende Annahmen vorgetragen, als wären es auf der Hand liegende Tatsachen. So diejenige, dass Wladimir Putin aus Prestigegründen keinen Kompromiss eingehen könne, wolle er nicht gestürzt oder umgebracht werden.

»Das weltpolitische Eigengewicht und der Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland wie der Europäischen Union sind mit der Dauer des Krieges ständig kleiner geworden.«

Begleitet werden solche »Analysen« oder Prognosen häufig von der Unterstellung, wer nach Verhandlungen rufe, empfehle der Ukraine die Kapitulation oder wünsche die sofortige und bedingungslose Einstellung aller westlichen Waffenlieferungen – Vorwürfe, die das Diskussionsklima ebenso vergiften wie die pauschale Etikettierung von Vertretern der Gegenposition als »Kriegshetzer«. Offensichtlich ist jedenfalls, dass das weltpolitische Eigengewicht und der Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland wie der Europäischen Union mit der Dauer des Krieges ständig kleiner geworden sind.

Ob verhandelt werden kann, zeigt sich letztlich erst bei dem ernsthaften Versuch, Gespräche in Gang zu bringen. Es ist davon auszugehen, dass hinter den Kulissen mehr sondiert wird als die Zeitungen berichten. Doch scheint es so, als ob die Hardliner in der ukrainischen Führung wie in jenen der wichtigen westlichen Länder, namentlich der USA, einschließlich einiger ostmitteleuropäischer Regierungen, aussichtsreiche Initiativen bisher blockieren können. Das Ziel, das gesamte ukrainische Territorium in den Grenzen von 1991, also einschließlich der Krim, zurückzugewinnen und die Ukraine, wie in der Verfassung seit 2019 verankert, in die NATO zu integrieren, wäre in der Tat nur bei einem vollständigen militärischen Sieg realisierbar.

Nach der Vorstellung der Protagonisten des Siegfriedens würde ein solches Ergebnis des Krieges Russland militärisch, politisch und wirtschaftlich für längere Zeit schwächen und als Faktor der internationalen Politik marginalisieren. Es ist die radikale Variante der inzwischen weit verbreiteten Vorstellung, »der Westen« als Repräsentant von Freiheit und Demokratie stünde erneut in einem universellen Ringen mit den Mächten des Autoritarismus beziehungsweise der »Autokratie«, jedenfalls mit denjenigen autoritär regierten Staaten, die als Kontrahenten des Westens, namentlich der USA, agieren.

Wertebasierte Außenpolitik vs. Interessenlagen

Dabei tritt seitens der Vertreter einer vermeintlich wertebasierten Außenpolitik die nüchterne Analyse der Interessenlagen zurück, jedenfalls in der öffentlichen Präsentation – oder diese werden in grotesker Weise verzeichnet, so bei der Diskussion über die chinesische Minderheitsbeteiligung an einem Hamburger Hafenterminal. Wenn von Staaten allgemeine Menschenrechte, die selbstverständlich umfassend und überall thematisiert werden sollen, ins Feld geführt werden, geschieht das in aller Regel nicht unabhängig von deren ökonomischen, politischen oder geostrategischen Interessen. Interessenlagen werden allerdings nicht unbedingt auf gleiche Weise wahrgenommen, und auch objektiv lassen sie unter Umständen unterschiedliche politische Schlussfolgerungen und Optionen zu.

Abgesehen davon unterscheiden sich die Länder der beiden Kategorien, also repräsentativ-demokratische und autoritäre Systeme, untereinander gravierend, so etwa die USA von West- und Mitteleuropa im jeweiligen Menschenrechts- und Demokratieverständnis sowie Russland von China nicht allein, aber hauptsächlich in der Wirtschafts- und Sozialordnung. Wie will man schließlich der existenziellen globalen Umweltprobleme Herr werden ohne aktive Mitwirkung und Einbindung des bevölkerungsreichsten und des flächenmäßig größten Landes der Erde?

»China ist der Hauptnutznießer der marktkapitalistischen Globalisierung der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte und der Herausbildung einer multipolaren Weltordnung.«

Im Hintergrund des Krieges im Osten Europas steht die vor allem wirtschaftliche Rivalität zwischen der mittelfristig absteigenden Weltmacht USA und dem neuen China, der zweiten Supermacht des 21. Jahrhunderts. Kaufkraftbereinigt hat die Wirtschaftsleistung der Volksrepublik die der USA bereits überholt, und das teilweise auch in den Zukunftsindustrien. Die Rede vom angeblichen Weltherrschaftsstreben Pekings verdeckt den tatsächlichen Vorgang: China mit seinem gemischten Wirtschaftssystem ist der Hauptnutznießer der marktkapitalistischen Globalisierung der vergangenen viereinhalb Jahrzehnte und der Herausbildung einer multipolaren Weltordnung.

Wie dramatisch der Gegensatz zu China im amerikanischen Establishment beider Parteirichtungen empfunden wird, zeigen Gedankenspiele von Militärs und Experten über einen in wenigen Jahren ausbrechenden Krieg der beiden Giganten im indopazifischen Raum. Die Taiwan-Frage, die dabei Anlass liefern könnte, schien seit einem halben Jahrhundert beruhigt, als der damalige US-Präsident Richard Nixon und Chinas Parteichef Mao Tse-tung beim Neuanfang ihrer zwischenstaatlichen Beziehungen 1972 übereinstimmend feststellten, dass es nur ein einziges China gäbe und Taiwan rechtlich ein Teil Chinas sei.

Chinas Interessenlage im Hinblick auf den Ukrainekrieg ist ambivalent: Es möchte Russland als Bundesgenossen minderen Ranges an sich binden, wünscht aber aus verschiedenen Gründen ein Ende des Krieges und die Herstellung eines Kompromissfriedens. Deshalb bezog sich die chinesische Initiative von Ende April 2023 auch auf die zwischen den Kriegsparteien in Istanbul ein knappes Jahr zuvor bereits erreichten Zwischenergebnisse.

In der Bundesrepublik Deutschland – einschließlich des friedensbewegten Milieus – ist es fast unstrittig, dass (ungeachtet der sehr viel komplizierteren inneren und äußeren Vorgeschichte des Krieges) Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, die Ukraine einen nach Artikel 51 der UN-Charta legitimen Verteidigungskrieg führt. Diese Feststellung wird nicht dadurch hinfällig, dass die Ukraine eine weiterhin oligarchisch-kapitalistische Gesellschaft, eine defizitäre Demokratie und ein defizitärer Rechtsstaat ist.

Ob der alte Gegensatz zwischen dem prowestlichen, nationalukrainischen Westen mit der Landesmitte einerseits, dem russischsprachigen und einst prorussischen Osten und Süden (vgl. P. Brandt in NG/FH 4/2015) durch die russische Aggression und die Erfahrung mit dem rabiaten Regime in den östlichen Oblasten, tatsächlich mental eingeebnet worden ist, wie behauptet wird, wäre zumindest mit einem Fragezeichen zu versehen. Vermutlich wartet auf das Land nach Kriegsende nicht nur eine riesige materielle Wiederaufbauaufgabe, sondern auch ein ebenso herausforderndes gesamtnationales Versöhnungswerk.

Die Realität des Stellvertreterkrieges sollte man nicht tabuisieren.

Es gibt indessen eine zweite Dimension des Krieges neben der erwähnten: Er ist zugleich ein Stellvertreterkrieg, den die Ukraine mit massiver Unterstützung der NATO-Staaten, insbesondere der USA, ausficht, im vorherrschenden Narrativ mit der Floskel ausgedrückt, die Ukrainer würden »für unsere«, also die westliche »Freiheit« kämpfen. Die Debatte namentlich in den USA ist viel nüchterner und offener als hierzulande. Die Realität eines Stellvertreterkrieges (»proxy war«) neben der des ukrainischen Verteidigungskriegs wird nicht tabuisiert, sondern ist Gegenstand einer intensiven öffentlichen Debatte.

Der zunehmend repressive und diktatorische Charakter des inneren russischen Regimes unter Putins Präsidentschaft und die imperiale Agenda der führenden Kreise, nicht nur Putins persönlich, sind offenkundig. Ob mit dem militärischen Angriff vom 24. Februar 2022 tatsächlich die gesamte Ukraine erobert und annektiert oder in einen Satellitenstaat verwandelt werden sollte, in der Folge gar weitere, der NATO angehörende Staaten attackiert werden sollten, erscheint angesichts der zunächst begrenzten personellen Stärke der Invasionsstreitmacht sehr zweifelhaft, selbst wenn man in Moskau die Fähigkeiten der amerikanisch aufgerüsteten ukrainischen Armee und die nationale Identifikation der Ukrainer unterschätzte.

Eine historische Chance wurde vertan

Es bedeutete keine Aufteilung der unmittelbaren Kriegsschuld, auf den großen Anteil der NATO und insbesondere der USA am erneuten Aufkommen eines Ost-West-Konflikts zu beharren: Die historische Chance der Jahre um 1990, in Überwindung beider Paktsysteme des Kalten Krieges, eventuell durch längerfristige Verschmelzung der Strukturen von NATO und OSZE, ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu errichten, wie es die Charta von Paris vom 21. November 1990 andeutete, wurde nicht genutzt. Vielmehr wollten die USA unbedingt die NATO (und damit die »strategische Gegenküste« in Europa) als Instrument amerikanischer Hegemonie erhalten; die Wiedervereinigung Deutschlands war für sie nur unter der Voraussetzung dessen fortdauernder (und mit gewissen Einschränkungen auf die östlichen Bundesländer ausgedehnter) NATO-Mitgliedschaft denkbar.

Dass dann auch die ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen, von der sowjetischen Kuratel befreiten Staaten aufgrund ihrer historischen Erfahrungen zügig in die NATO strebten, ist verständlich, aber bedeutete für Russland, dass die Ostgrenze des westlichen Militärbündnisses binnen einiger Jahren von der Elbe an den Bug verschoben wurde, im Baltikum sogar frühere Sowjetrepubliken einschließend. Die einstige konventionelle militärische Überlegenheit der Sowjetunion mit ihrem Warschauer Pakt, aus östlicher Sicht die stets gegebene globale Überlegenheit der USA ausbalancierend, ist längst nicht mehr gegeben – im Gegenteil.

Keineswegs nur bei den Gefolgsleuten Putins und anderen Nationalisten hat sich in Russland im Lauf der Jahre der Eindruck verfestigt, vom Westen betrogen worden zu sein, denn erhebliche Vorleistungen seien nicht angemessen honoriert worden. Auch der in Deutschland hoch geschätzte und verehrte Michail Gorbatschow hat sich mehrfach tief enttäuscht in diesem Sinn geäußert.

Von der »begrenzten Militäroperation« zum blutigen Stellungskrieg.

Im Frühjahr 2022 wurde schnell klar, dass die »begrenzte« Militäroperation Russlands in der Ukraine jedenfalls keine schnelle sein würde: Der Vormarsch auf Kiew wurde abgebrochen, der im Süden Richtung Odessa blieb stecken; die Ukrainer konnten sogar manche Gebiete zurückerobern; die formelle Annexion der östlichen Oblaste durch Russland am 30. September 2022 blieb faktisch auf die russisch-kontrollierten Teile beschränkt; und die Teilmobilmachung Russlands laut Dekret vom 21. September 2022, wodurch in der Folge rund 300.000 Soldaten rekrutiert worden sind, trifft im eigenen Land auf sehr gemischte Reaktionen, vor allem unter den Betroffenen; das sind weiterhin vorrangig ethnische Minderheiten aus peripheren Regionen.

Doch auch die Ukraine konnte dem imaginierten Sieg trotz quantitativ und qualitativ ständig ausgeweiteter westlicher Waffenlieferungen nicht näherkommen. Vielmehr entwickelte sich ein blutiger Stellungskrieg, der mit der deutschen Westfront im Ersten Weltkrieg verglichen worden ist. Die Anfang Juni 2023 gestartete, groß angekündigte Offensive der Ukraine konnte keinen Frontdurchbruch erzielen, und es ist unwahrscheinlich, dass sich daran etwas ändern wird.

Derweil bewegt sich die Zahl der gefallenen Soldaten beider Seiten, inzwischen im höheren fünfstelligen, die der Verwundeten im sechsstelligen Bereich, die der zivilen Todesopfer nähert sich den 10.000; neben fünf Millionen Binnenflüchtlingen sind über acht Millionen ins europäische Ausland Ausgewichenen; die ukrainische Infrastruktur und beträchtliche Teile des städtischen Wohnraums sind weitgehend zerstört.

Ungeachtet gelegentlichen Theaterdonners in Moskau haben weder Russland noch die NATO ein Interesse an der Ausweitung der Kämpfe hin zu einem regelrechten Krieg zwischen Russland und der NATO, also unter Beteiligung amerikanischer und europäischer Truppen. Denn dieser könnte, was schon in der gegebenen Konstellation nicht auszuschließen ist, schnell zu einem ganz Europa erfassenden großen Atomkrieg werden, eine kaum auszumalende humanitäre und ökologische Katastrophe, selbst wenn eine Begrenzung auf diesen Kontinent gelingen würde.

Unerfreuliche und realistische Szenarien

Eine die Sicherheitsinteressen Russlands unter jeder Regierung engstens tangierende Mitgliedschaft der gesamten Ukraine in der NATO wäre, wie eingangs festgestellt, wohl nur realisierbar bei einem vollständigen Sieg über Russland, eine sehr unwahrscheinliche Perspektive. Denkbar ist sie im Fall einer Teilung des Landes, käme sie nun aufgrund einer Vereinbarung oder als Resultat einer »eingefrorenen« Frontlinie zustande. Dieses unerfreuliche Szenario könnte anhaltend gefährliche Wirklichkeit werden als Bestandteil eines neuen, jetzt offenen Kalten Krieges, nachdem im vergangenen Jahrzehnt das Regime der Rüstungskontrolle teils bewusst aufgelöst, teils verfallengelassen worden ist – nicht allein, aber vor allem seitens der USA unter der Präsidentschaft Donald Trumps.

Eine realistische Aussicht auf Erhaltung der territorialen Integrität der Ukraine besteht nur bei Einigung auf einen (bewaffneten) paktfreien Status des Landes, garantiert von relevanten, von Kiew benannten ausländischen Mächten. Der militärisch neutrale Status müsste eine Annäherung an die EU mit späterer Mitgliedschaft nicht ausschließen, günstigenfalls verbunden mit einer Brückenfunktion nach Osten, hin zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Verhandlungen können nur ohne Vorbedingungen und ohne vorherige Anerkennung territorialer Ver­änderungen stattfinden.

Russland hat mit der Annexion der ostukrainischen Gebiete im September 2022 eine zusätzliche Hürde aufgebaut. Wenn Putin sich mehrfach positiv zu Verhandlungen mit der Ukraine geäußert hat, auch unter Bezugnahme auf die Annäherung der Standpunkte bei den Istanbuler Gesprächen im März/April 2022, vorausgesetzt, auch die Ukraine und der Westen wollten Verhandlungen, wird ihm klar gewesen sein, dass solche nur ohne Vorbedingungen, also auch nur ohne vorherige Anerkennung territorialer Veränderungen, stattfinden können.

Zuletzt erklärte er am 17. Juni dieses Jahres gegenüber der afrikanischen Friedensdelegation: »Wir sind offen für einen konstruktiven Dialog mit allen, die Frieden wollen, der auf den Grundsätzen der Gerechtigkeit und den legitimen Interessen der unterschiedlichen Seiten beruht.« Dabei zeigte Putin demonstrativ ein von beiden Verhandlungsführern von Istanbul paraphiertes Exemplar des Vertragsentwurfs.

Ein für beide Kriegsparteien akzeptabler Weg und sowohl in der Ukraine als auch in Russland noch vorzeigbares, eventuell sogar als Erfolg deutbares Resultat könnte darin bestehen, die Bewohner der annektierten und teilweise besetzten Ostukraine (nach Rückkehr der Geflohenen) unter UNO-Kontrolle über ihre staatliche Zugehörigkeit und im Fall des Verbleibens bei der Ukraine über eine sprachlich-kulturell wie politisch angezeigte Autonomie abstimmen zu lassen.

Der einzige Teil des ukrainischen Staatsgebietes, in dem es vor 2014 verbreitet eine Zusammenführung prorussischer Bevölerungsteile gab, ist die Krim. Die verdeckte russische Invasion war ungeachtet dessen ein völkerrechtswidriger Akt, der aber wohl dem Wunsch der Bevölkerungsmehrheit entsprach. Sie rückgängig zu machen, wäre – wie die NATO-Mitgliedschaft der ungeteilten Ukraine – nur durch einen vollständigen Sieg über Russland möglich. Denkbar wäre hingegen die Wiederholung des Plebiszits von 2014 unter internationaler Kontrolle und zweifelsfreien Bedingungen.

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