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Ein politisches Buch von Hans Joas zur gegenwärtigen Lage Friedensprojekt Europa?

Politisch sein, das verlangt unter die Oberfläche der Entwicklungen zu schauen, Zusammenhänge zu erkennen, sie zu verstehen und Perspektiven zu entwickeln. Damit aber tut sich unsere Zeit schwer, auch weil sie radikal auf die Gegenwart programmiert ist, statt Prozesse historisch einzuordnen. Richard Sennett spricht diesbezüglich von einem »Regime der kurzen Frist«, eine »erniedrigte Oberflächlichkeit«, die der »klassischen Vernunft« widerspricht, die eine Reflexion notwendig macht. Sehr wohltuend ist es deshalb, das durch und durch argumentative Buch Friedensprojekt Europa? von Hans Joas zu lesen.

Grundlage für einen anhaltenden und stabilen Frieden ist für Joas die Theorie des »zivilisatorischen Hexagons« von Dieter Senghaas. Diese verbindet das staatliche Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, soziale Regelung von Gewalt, Demokratie, Gerechtigkeit und institutionelle Stabilität. Das »Friedensprojekt Europa« entwickelt die Folie »für die Analyse der Bedingungen, unter denen eine (…) stabile Friedensordnung im heutigen Europa bewahrt und über ihre bisherigen Grenzen hinaus vielleicht sogar ausgeweitet werden kann«. Das ist dringend notwendig, denn die Bedeutung des Friedens steht derzeit in einem deutlichen Missverhältnis zur öffentlichen Beachtung, zumal sich seine Grundlagen in unseren postnationalen Zeiten verändern.

Joas stellt wichtige Fragen: Ob Europa durch eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu einer »eigeninteressierten Großmacht (wird), die sich von den anderen Mächten nicht prinzipiell unterscheidet« oder kann Europa zu einem globalen Akteur werden, der »sich (…) von der ewigen Dynamik von Machtkämpfen unterscheidet?« Ob Europa zu einer Kraft wird, die auch jenseits ihrer Grenzen postnationale und kooperative Tendenzen fördert, oder ob es als global auftretender Akteur einen Nationalismus im Inneren verstärkt? Und: Ob die europäische Einigung künftig zu einer neuen Form des Imperialismus führen kann?

Die Antworten darauf sucht Joas in einer historischen Reflexion von Föderalismus und Imperialismus, besonders in den Denkweisen der 1920er Jahre, nachdem der Erste Weltkrieg ein epochaler Bruch in der europäischen Geschichte war. Wichtig sind ihm Überlegungen, die sich mit der neuen Rolle von Föderationen in der Weltpolitik beschäftigten, vor allem ihr Verhältnis zu Imperien und Imperialismus. Sie nahmen in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen stärker als in anderen Ländern eine militaristische Denkrichtung ein, von der sich unser Land nach 1945 weitestgehend abgewandt hat. Joas konzentriert sich auf den Historiker Otto Hintze, einen Pionier der vergleichenden Verfassungsgeschichte, und den Staatsrechtler Carl Schmitt, der mit seinem glühenden Einsatz für das NS-Regime ein »Prototyp des gewissenlosen Wissenschaftlers« (Thomas Darnstädt) war.

Hintze sah nach dem Ersten Weltkrieg einen »föderalen« oder »föderalistischen« Imperialismus heraufziehen, der auf eine Machtpolitik hinausliefe, die durch Expansion und Gewaltandrohung zur Bildung von Großreichen führe. Er sah Föderationen aber nicht nur negativ, sondern beschrieb auch neue Kooperationsformen und verwies dafür z. B. auf die »Schweizer Eidgenossenschaft«. Hintze kritisierte den Völkerbund als Instrument des französischen Imperialismus, schloss aber nicht aus, dass das Föderale das Imperiale auch erfolgreich zurückdrängen kann.

Dagegen verfolgte Schmitt eine radikale Entnormativierung friedenspolitischer Ziele und sah durch die explizite Anerkennung der Monroe-Doktrin im Völkerbund eine Unterwerfung Deutschlands unter die Interessen eines anglo-amerikanisch-französischen Universalismus. Oder – auch das schien ihm möglich – unter die Dominanz einer weltbestimmenden marxistischen Ideologie. Sein Fazit: Der Versuch, den Krieg zu verdammen oder gar zu verbieten, trüge nicht zum Frieden bei, sondern verschlimmere die Sache. Nachdem US-Präsident Franklin D. Roosevelt von Hitler und Mussolini eine Garantieerklärung verlangt hatte, dass sie nach der Besetzung der Tschechoslowakei in den nächsten 25 Jahren keine weiteren Angriffe durchführen würden, lieferte Schmitt mit der Argumentation von der Großraumordnung mit Interventionsverbot, in der ein machtvoller Staat völlige Bewegungsfreiheit genieße, Hitler die ideologische Rechtfertigung für Gewalt und Krieg und für eine »völkerrechtliche Unzulässigkeit von Interventionen raumfremder Mächte in einem von einem Ordnungsprinzip beherrschten Großraum«. An der Idee der Großraumordnung als einzige Alternative zu einer globalen Hegemonie der USA hielt Schmitt auch nach 1945 fest.

Die zweite Reflexionsebene in Joas Buch ist die Epoche in Europa nach 1945. Die Verhinderung eines neuen Krieges und die Friedenssehnsucht wurden zur Triebkraft für die europäische Einigung, die sich anfangs auf das »karolingische Dreieck« (Rheinländer Adenauer, Lothringer Schuman und Trentiner De Gasperi) reduzierte. Aus historischen Gründen und unter den Bedingungen des Kalten Krieges war das Projekt auf den europäischen Westen begrenzt. Und es wurde verknüpft mit der NATO unter der Führung einer imperialen Macht. In der Außenwahrnehmung Europas hat dieses »Doppelgesicht« eine zentrale Bedeutung für die heutigen Konflikte und für die fatale Verhinderung einer gesamteuropäischen Perspektive. Joas verweist auch auf die Interessen früherer europäischer Kolonialmächte in diesem Prozess, speziell gegenüber Afrika, die sich in den Verträgen widerspiegeln. Vor diesem Hintergrund sind die Gefahren, die eine verstärkte Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit sich bringt, nicht zu verleugnen, zumal wenn sie in einer Situation erfolgt, in der dieses Europa nicht ganz Europa (durch den Ausschluss Russlands) umfasst.

Natürlich hat sich die EU zu einem Gebilde entwickelt, ­­das sich durch eine Präferenz zum Multilateralismus, eine regelorientierte Ordnungspolitik und eine strukturbildende Friedens- und Entspannungspolitik hohe Anerkennung erworben hat. Doch was bedeutet das in einer Zeit, in der in der (NATO-basierten) EU eine »Sprache der Macht« und eine massive Aufrüstung gefordert werden? Offen wird bereits der deutsche Parlamentsvorbehalt als Hemmschuh für eine »stärkere Integrationsfähigkeit Deutschlands« bezeichnet. Oder eine Verlagerung der Kompetenz für Militäreinsätze auf EU-Institutionen gefordert, womöglich sogar als Mehrheitsentscheidung. Und was bedeutet das für eine »Europäische Armee«. Joas fragt zu Recht, ob die in schneidigem Ton geforderte »Normalisierung« der deutschen Rolle in der Welt als »deutsche Verantwortung« bezeichnet werden darf. Das Buch bezieht klar Stellung und stellt die Fragen, die gerade in einer Partei, deren Vorsitzender Willy Brandt hieß, unbedingt gestellt werden müssen. Lesenswert!

Hans Joas: Friedensprojekt Europa? Kösel, München 2020, 112 S., 14 €.

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