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Wie Populisten nur scheinbar den Volkswillen vertreten Führer als Verführer

Nach dem Ende des Kalten Krieges um 1989 war auch der epochale Feinddes freien Westens verschwunden. Kein feindlicher Machtblock mehr, keine antagonistische Klasse oder systemoppositionelle Partei. Alle waren plötzlich mehr oder weniger liberal. Für eine kurze Zeitspanne schien es, als seiendie freie Marktwirtschaft und die parlamentarische Demokratie alternativlos. Ab den 90er Jahren war dann zunehmend von Populismus die Rede. Seit den 70er Jahren war es in Westeuropa vermehrt zur Gründung von Parteien am rechten Rand des Parteienspektrums gekommen. Da man sie nicht kurzerhand als rechtsextrem bezeichnen konnte, nannte man sie rechtspopulistisch.

Veränderungen des Wahlverhaltens sind bereits die Antwort auf tieferliegende sozialstrukturelle Mutationen. In der Soziologie kann man drei visuelle Schichtungsmodelle unterscheiden: Das Modell der Pyramide, der Zwiebel und der Sanduhr. Der pyramidale Aufbau moderner Gesellschaften galt spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg als nicht mehr realitätsadäquat. Das Modell der Zwiebel mit kleinen Ausläufern oben und unten, aber einer breiten Mitte symbolisierte in den Worten des Soziologen Helmut Schelsky von 1953 die nunmehr zeittypische »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«. Sie prägte nicht nur das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik, sondern bis heute auch das der SPD: Eine Unterschicht gebe es nicht; wer diesen Begriff dennoch verwende, diskriminiere Menschen, die es im Leben schwerer haben, aber doch irgendwie zur Mitte gehören, erklärte Franz Müntefering. Unterschicht gilt nicht mehr als analytische, sondern als moralisch abwertende Kategorie, ja als Schimpfwort, mit dem man niemanden stigmatisieren wolle, so die ehemalige Justizministerin Katarina Barley. Das mag hochherzig gedacht sein, ist aber trotzdem falsch.

Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus seit den 70er Jahren zeichnet sich immer deutlicher eine materielle und psychologische Krise dieses breiten Mittelschichtbauches ab. Wie bei einer Sanduhr werden die mittleren sozialen Lagen zusammengepresst, während die Zahl der Gewinner und Verlierer der Globalisierung zugenommen hat. In Südeuropa kommt eine hohe Arbeitslosigkeit, vor allem unter Jugendlichen, hinzu.

Die Zukunfts- und Aufstiegsgewissheit in den rund 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ist einer Zukunftsangst gewichen und bildet einen fruchtbaren Humus für rechtspopulistische Parteien, die mit der Rückkehr zum souveränen Nationalstaat einen Ausweg aus der Krise versprechen. Im Unterschied zum deutschen Ordoliberalismus, der Grundlage des »rheinischen Kapitalismus«, setzte der Neoliberalismus eine Dynamik frei, deren Folgen die gegenwärtige Situation prägen: Kommodifizierung sämtlicher Lebensbereiche (alles wird zur Ware und nur noch nach Effizienzkriterien beurteilt), Dominanz der Wirtschaft über den Staat, das Ideal individueller Selbstverwirklichung (»Jeder ist seines Glückes Schmied«).

Aber der eigentliche Aufstieg dieser Parteien begann erst, als ab 2008 vier Faktoren zusammenkamen: erstens die Auswirkungen der Deindustrialisierung, zweitens die schwindende Kraft der beiden Volksparteien zu gesellschaftlicher Integration, drittens die Krise der EU im Gefolge der Banken- und Finanzmarktkrise von 2008 und viertens die Massenimmigration mit ihrer Zuspitzung im Herbst und Winter 2015/16.

Nach der Definition des niederländischen Politikwissenschaftlers Cas Mudde ist Populismus eine »dünne« Ideologie, die auf der Polarisierung von »gutem Volk« und »korrupten Eliten« beruht. Dünn heißt: Es gibt im Populismus keine geschlossene Weltanschauung, keine Buchideologie, keine namhaften Theoretiker, kein spezifisches Menschenbild, kein historisches Endziel, sondern nur einen vorpolitischen Groll gegen »die da oben«, die unterschiedlich adressiert werden können. Entgegen der Ansicht des Wirtschaftswissenschaftlers Clemens Fuest lassen sich Populisten auch wirtschaftspolitisch nicht festlegen. Ob sie Protektionismus oder Freihandel anstreben, richtet sich nach äußeren Umständen und internen Machtverhältnissen.

Bei so viel Unbestimmtheit liegt es nahe, Populismus eher als sozialpsychologisches Phänomen zu begreifen. Aber auch das Anwachsen von Wut, Hass und Ressentiments muss politisch erklärt werden. Ebenso einseitig ist es, im Populismus nichts weiter als einen provokanten Stil, ein ungehobeltes, polemisches Auftreten zu sehen. Dahinter steht die Annahme, dass es in parlamentarischen Demokratien gesittet, vernunftgeleitet und kompromissbereit zugehe und nur das bessere Argument zähle. Die Debatten im britischen Parlament anlässlich des Brexit sollten uns von dieser Illusion kuriert haben.

Verunglimpfung des Gegners und Emotionalisierung der Rede sind kein Alleinstellungsmerkmal von Populisten. In der Frühgeschichte der Bundesrepublik waren Politiker wie Herbert Wehner oder Franz Josef Strauß nicht gerade Leuchttürme politischer Rationalität und rhetorischer Ausgewogenheit, sondern schreckten auch vor Beschimpfungen und Beleidigungen nicht zurück. Schon der »aristokratische« Liberale Max Weber scheute sich nicht, tief ins Arsenal der Schmähungen zu greifen. 1920 schrieb er, in Deutschland sei es unmöglich, rationale Politik treiben zu wollen, solange »Irrsinnige in der Politik ihr Wesen treiben können«. In einer Rede erklärte er: »Man sieht nichts als Schmutz, Mist, Dünger, Unfug und sonst nichts anderes. Liebknecht gehört ins Irrenhaus und Rosa Luxemburg in den Zoologischen Garten.« Intellektuelle, insbesondere Literaten, schmähte er als »lackierte Plebejer« oder »Phrasendreschmaschinen«.

Populistische Führer treten als Sprachrohr des immer schon vorhandenen Volkswillens auf. Ihrem Selbstverständnis nach fungieren sie nicht als Repräsentanten dieses Willens, sondern als dessen Verkörperung. Charismatische Führerqualitäten werden im Populismus aber weit überschätzt. Man tut Alexander Gauland oder Alice Weidel (AfD) gewiss nicht Unrecht, wenn man ihnen charismatische Begabung abspricht. Auch Marine Le Pen vom französischen Rassemblement National verfügt nicht über Eigencharisma, sondern über Erbcharisma. Sie hat ihren Vater Jean-Marie Le Pen beerbt und zehrt von seinem Namen als Parteigründer.

Gibt es vor der Verzweigung in Rechts- oder Linkspopulismus auch so etwas wie »reinen« Populismus ohne qualifizierende Etikettierung? Die italienische Fünf-Sterne-Bewegung verkörpert Populismus im Reinzustand, aber auch die damit einhergehende kurze Halbwertszeit. Reiner oder genuiner Populismus ist ein Übergangsphänomen. Seine Merkmale sehe ich in Folgendem: erstens im Protest gegen herrschende Missstände und gegen die Bevormundung der Bürgerinnen und Bürger durch kulturelle und politische Eliten, zweitens in seiner Ambivalenz, drittens in der Moralisierung des politischen Diskurses und viertens in der Nicht-Mediatisierung politischen Handelns. Anders formuliert: Populisten richten sich gegen die Filterung des Volkswillens durch Zwischeninstanzen, seien es Parteien oder meinungsprägende Medien. Die britische Populismusforscherin Margaret Canovan wies 1999 auf eine kaum beachtete religionsgeschichtliche Parallele hin. Wie in der frühen Neuzeit die protestantischen Sekten gegen die Vermittlung von Religion durch eine Priesterkaste antraten und den Weg zu Gott direkt und unvermittelt ins Subjekt verlegten, so sehen auch heutige Populisten eine abgeschottete Kaste oder ein politisches Kartell am Werk. Politische Macht habe sich in der Parteiendemokratie verselbstständigt und zu Verkrustungen des Systems geführt, die es aufzubrechen gelte.

In der deutschen medialen Berichterstattung stößt man auf ein eigentümliches Schwanken bei der Zuordnung der Fünf-Sterne-Bewegung. Mal wird sie als links-, mal als rechtspopulistisch bezeichnet. Diese analytische Unsicherheit ergibt sich aus der Ambivalenz des Phänomens. Es oszilliert zwischen rechts und links und mischt oder hybridisiert linke und rechte Forderungen. Man sei weder rechts noch links, sondern eine Bürgerbewegung, der es nicht nur um bessere Funktionsfähigkeit des Systems gehe, sondern um mehr Ehrlichkeit und Transparenz in der Politik. Wohin das führen kann, machte ein führender Fünf-Sterne-Vertreter deutlich, als er erklärte, es komme nicht darauf an, Faschist oder Antifaschist zu sein, sondern ehrlich zu sein.

Zeitdiagnostiker sprechen von einer neuen epochalen Trennlinie zwischen erstarkendem Nationalismus und liberaler Weltoffenheit. Näher betrachtet überlagern sich aber vier Konfliktlinien: ein Konflikt zwischen materieller und postmaterieller Werteorientierung, ein Identitätskonflikt zwischen dem Partikularismus des »Eigenen« und Kosmopolitismus, ein soziogeografischer Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie sowie ein Konflikt zwischen repräsentativer und direkter Demokratie. Überspitzt formuliert: Gut ausgebildete großstädtische Modernisierungsgewinner wenden sich von den Globalisierungsverlierern an der deindustrialisierten Peripherie ab. Sie haben kein Interesse an einem Bündnis mit den »Abgehängten«, zumal diese sich nicht, wie noch die Arbeiterklasse, als Subjekt der Weltrevolution romantisieren lassen.

Populisten instrumentalisieren nicht nur drohenden Statusverlust sondern auch gesellschaftliche Missstände (aufgeblähte, aber ineffiziente Bürokratie, Korruption, Abbau sozialer Dienste, Vernachlässigung der Infrastruktur). Die eigentliche Aufgabe rechtspopulistischer Politiker liegt indessen in einer Diskursverschiebung von innen nach außen. Innenpolitisch verursachter Bürgerunmut wird nach außen (auf Immigranten, Flüchtlinge, aber auch die EU) abgelenkt. Matteo Salvini von der Lega war damit erfolgreich, die Fünf-Sterne-Bewegung wegen Führungsschwäche und Identitätsproblemen dagegen nicht und steht nach rasanten Erfolgen heute vor dem Niedergang.

Haben wir also nur die Wahl zwischen illiberaler Demokratie, für die heute Viktor Orbán – auch als Vorbild der AfD – steht, und einem undemokratischen, technokratischen Liberalismus als der vorherrschenden Orthodoxie? Oder wachsen nicht immer wieder neue, populistische und antipopulistische soziale Bewegungen nach? Schon seit Beginn der parlamentarischen Demokratie in Deutschland hat sich politisches Handeln in den gesellschaftlichen Raum ausgeweitet. Man denke nur an das reiche Vereinsleben bei den sozialdemokratischen und christlichen Volksparteien. Aber diese Einbindung »von der Wiege bis zur Bahre« in einen politischen Referenzkosmos hat sich aufgelöst. Heutige soziale Bewegungen entstehen und funktionieren nicht mehr als verlängerter Arm der Parteien, sondern als deren von außen kommende Korrektive.

Parteien, zumal die linken, hatten ursprünglich in Anlehnung an die Volkstribune im antiken Rom eine tribunizische Funktion. Vieles spricht dafür, dass diese Funktion heute von den Parteien auf soziale Bewegungen übergegangen ist. Bei aller Volatilität könnten sie dazu beitragen, die Spannung zwischen repräsentativer und direkter Demokratie abzumildern, indem sie den Raum des Politischen erweitern und von außen auf politische Machtstrukturen einwirken. Derzeit stehen eher Menschheitsbelange wie der Klimawandel im Fokus der Öffentlichkeit. Lediglich die französischen Gelbwesten artikulieren sozialen Protest, werden aber ein soziales Ferment bleiben, wenn sie nicht das alte Übel des Populismus, seine Institutionenfeindlichkeit, überwinden.

Populisten plädieren aber keineswegs für mehr Partizipation oder Basisdemokratie. Ihr Ziel ist vielmehr, einer Gegenelite zur Macht zu verhelfen, die im Namen des Volkes aufzutreten verspricht. Der als Parteitheoretiker der AfD geltende Philosoph Marc Jongen erklärte 2017 in einem Gespräch mit der Sezession, der Zeitschrift des rechten Instituts für Staatspolitik: »Eliten sind nicht per se etwas Schlechtes, das sind sie nur, wenn sie parasitär werden und gegen das eigene Volk arbeiten. Sie müssen dann durch nichtkorrupte Eliten ersetzt werden, die ihr Ohr und Herz beim Volk haben.«

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