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Führung und sozialer Kontext: das Beispiel SPD

In Zeiten der Corona-Krise, in denen ein Virus und seine Verbreitung alles andere in den Schatten stellt, in denen Infektionsängste grassieren, das öffentliche Leben stillsteht und sich die Menschen schicht- und kulturübergreifend in häusliche Quarantäne begeben – in einem solchen Moment erscheint ein Text über politische Führung zunächst unzeitgemäß. Warum sich mit Führung beschäftigen, wenn es doch um eine Krise geht? Dennoch schrieb Stefan Willeke in der Zeit zuletzt, während die Krise zugleich eine weitere Zuspitzung erfuhr, von »Führungsqualität« als »etwas Elementarem«, ja als »etwas, das vielen Menschen wichtiger erscheint denn je«. Mehr noch: Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen Krisenwahrnehmung und Führungssehnsucht. Mitte der 80er Jahre beispielsweise hat der 1994 verstorbene amerikanische Historiker Christopher Lasch in seinem Buch Das Zeitalter des Narzißmus mit Blick auf die USA notiert, in Krisenphasen mache der Präsident seine Präsidentenqualitäten geltend, »indem er seine Entschlossenheit kundgibt, sich der Krise gewachsen zu zeigen« und »zu kühnen und entschlossenen Maßnahmen zu greifen«. Diese Inszenierung von Tatkraft sei nun insofern problematisch, als Politiker, die »nur noch darauf abzielen, dem Publikum ihre Führungsqualitäten zu verkaufen«, die Erfolgsaussichten und die Situationsangemessenheit ihres Handelns ausblenden und etwa auch dann für Aktion plädieren würden, »wenngleich die Situation vielleicht Vorsicht und Zurückhaltung erfordert« und die »Meidung außergewöhnlich hoher Risiken« oder die »Vorausberechnung der strategischen und politischen Konsequenzen im Falle einer Niederlage« angezeigt wäre.

Insofern gilt: leadership matters. Das ist zwar durchaus kein neues Phänomen, die Personen an der Spitze waren vielmehr immer schon wichtig, wie mit Blick auf die Geschichte der SPD nicht zuletzt die Rolle Ferdinand Lassalles bei der Formierung einer sozialistischen Arbeiterbewegung, die Verehrung des »roten Kaisers« August Bebel, die Bedeutung Kurt Schumachers für den Neubeginn der SPD nach dem Nationalsozialismus und der bis heute auf sozialdemokratischen Parteitagen beschworene Kult um Willy Brandt belegen. Manches spricht aber doch dafür, dass die Personalisierung in der jüngeren Vergangenheit sogar noch zugenommen hat. Die Parteienbindung erodiert, die Aufmerksamkeitsspanne breiter Bevölkerungskreise reicht angesichts einer Informationsflut für die Erfassung komplexer Sachverhalte nicht aus und die modernen Medien rücken ohnehin Köpfe in den Mittelpunkt.

Vor allem jedoch sind die großen politischen Streitfragen der Vergangenheit, an denen sich die politischen Lager ausrichten und formieren konnten, verschwunden. Je unklarer und schwammiger die Differenzen zwischen den sich in einer virtuellen Mitte konzentrierenden Konkurrenten um Regierungsmacht werden, desto stärker treten greifbare politische Inhalte gegenüber eher diffusen Sympathien zurück. Und desto stärker rücken die Führungsfiguren ins Zentrum. Der Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis hat so frühzeitig wie hellsichtig erkannt, welche Folgen sich daraus ergeben, dass die Parteien sich von ihren vormals konstitutiven Milieus, ihrem »sozialen Kontext«, gelöst haben und in ihren Zielvorgaben beliebig geworden sind: »Da das ›Angebot‹ der Parteien (…) nicht hinreicht, wirklich substantiellen Grund unter den Füßen zu finden«, konstatierte er im Jahr 1977 in seinem Aufsatz Parteienstruktur und Regierbarkeit, »drängt sich in allen modernen Parteien die charismatische Führergestalt oder der, von dem man hofft, er sei eine, in den Vordergrund.« Von dieser Führergestalt werde »jene Verklammerung erwartet, die die geschichtlichen Ordnungen nicht mehr hergeben«. Der enorme Anteil, der Spitzenkandidaten im 21. Jahrhundert auf den Ausgang von Bundes- und Landtagswahlen zugeschrieben wird, dürfte nicht zuletzt hierin seine Erklärung finden – und ebenso die enormen Erwartungen, die viele Mitglieder der SPD auf ihre Parteivorsitzenden projizieren.

Auch dies erklärt das Missbehagen der SPD-Mitglieder über ihre Spitzenleute, das vielfach kopfschüttelnd und bisweilen bloß noch achselzuckend mit ungläubigem Staunen betrachtete Scheitern der Vorsitzenden an den eigenen ebenso wie den fremdgesetzten Ansprüchen. An Korrekturen, Neuanfängen, Personalrochaden hat es jedenfalls nicht gefehlt. Seit 1987, dem Jahr des Rückzugs von Willy Brandt, hat die SPD – die momentanen Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans mit- und jede der beiden Amtszeiten Franz Münteferings separat gerechnet – ganze 14 verschiedene Vorsitzende gehabt. Rechnet man gar die kommissarischen Vorsitzenden in den Vakanzen zwischen dem Rücktritt des alten und der Wahl des neuen Parteiführers hinzu, dann sind es sogar 13 seit Gerhard Schröders Demission im Jahr 2004. Mehr als zwei Jahre hielt es in diesem Amt seitdem nur Sigmar Gabriel aus. Und immer, auch bei Gabriel, war an der Parteibasis der anfänglichen Euphorie mehr oder weniger rasch eine tiefe Enttäuschung und Frustration über das Führungspersonal gefolgt. Insofern ist die aktuelle Ernüchterung mit Blick auf die amtierenden Spitzenleute Esken und Walter-Borjans nichts Neues – neu ist allenfalls das Tempo des bereits unmittelbar nach ihrer Wahl einsetzenden Prozesses der Desillusionierung ursprünglich gehegter Hoffnungen.

Dabei entsprechen Esken und Walter-Borjans zumindest in einer Hinsicht dem Zeitgeist: An die Parteispitze gelangt sind sie als Außenseiter, als Anti-Establishment-Politiker, als Gegenentwürfe zu den Hauptstadteliten, die – Bundestagshinterbänklerin die eine, nordrhein-westfälischer Polit-Rentner der andere – gegen den Prototypen des Regierungspolitikers Olaf Scholz die Basis auf ihrer Seite hatten. Eben diese Nichtzugehörigkeit zum politischen Establishment, und sei sie auch noch so künstlich und inszeniert, ist eine zentrale Aufstiegsressource nicht nur diverser rechter Populisten in Europa und Amerika: von Geert Wilders und Heinz-Christian Strache über Matteo Salvini und Marine Le Pen bis hin zu Donald Trump oder Polit-Clowns wie dem vormaligen Komiker Beppe Grillo in Italien und Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine.

Die Suggestion des Neuen, Unverbrauchten, Unkonventionellen verbindet auch die internationalen Shootingstars progressiver Parteien und Politikangebote der letzten Jahre, die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern, die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, der französische Präsident Emmanuel Macron, die amerikanische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez und der kanadische Premierminister Justin Trudeau. Sie alle reüssierten in einer je spezifischen Mischung als Kontrastfolien zu stromlinienförmigen Ochsentour-Politikern, selbstgenügsamen Platzhirschen, routinierten Pragmatikern, immer gleichen Volksparteienrepräsentanten, dem politischen Mainstream des alten, weißen Mannes.

Auch von ihrem Alter her verkörpern sie die Ablösung der Generation der Babyboomer durch die Generation der zwischen 1980 und 2000 geborenen Millennials. Diese Millennials, das zeigen sämtliche Studien über sie, sind idealistisch, ohne ideologisch zu sein, optimistisch, doch um den sozialen Zusammenhalt und die Umwelt besorgt. Sie sind demokratiezufrieden und zugleich politikerverdrossen sowie zu politischem Engagement bereit, jedoch nicht in den etablierten Parteien. Sie wünschen nonkonformistische Idealisten als ihre Repräsentanten, die weitreichende Ziele postulieren und sich nicht in vorauseilendem Gehorsam kampflos den Kompromisszwängen des politischen Systems ergeben – und die dabei locker, lässig, cool auftreten. Beispielhaft verkörpert die Neuseeländerin Ardern das politische Millennial-Ideal: »Sie ist modern, aber nicht elitär; familienbewusst, aber nicht spießig; emanzipiert, aber nicht aggressiv«, konstatierte Till Fähnders in der FAZ.

Sicher: Immer mal wieder wird zu Recht bemerkt, die jungen Politstars seien Galionsfiguren, Projektionsflächen, bloß die kameratauglichen Gesichter einer etablierten-kritischen Bewegung mit in diesen Fällen nicht reaktionärer, sondern progressiver Stoßrichtung. Und richtig ist zweifellos auch, dass unkonventionelle Hoffnungsträger – ebenso wie in früheren Jahren die politischen Seiteneinsteiger – nach umso steilerem Aufstieg alsbald desto jäher wieder abstürzen können, besonders aufgrund der zuvor geweckten und im Überschwang des Erfolgsmomentes von ihnen auch bedienten unmäßigen Hoffnungen.

Macron und Trudeau beispielsweise drohen gerade zu Opfern ihrer Versprechungen zu werden, mit den althergebrachten Methoden in der Politik zu brechen und das Politische besser, bürgernäher, moralischer zu machen, da die nun von ihnen zu verantwortende politische Wirklichkeit vor allem deshalb so unbefriedigend erscheint, weil sie so weit hinter der fulminanten Verheißung ihres Anfangs zurückbleibt. So oder so: In der deutschen Politik kommen dergleichen Zuschreibungen, wie sie für die Millennial-Politiker charakteristisch sind, die Grünen Robert Habeck und Annalena Baerbock derzeit wohl am nächsten. Die Medien produzieren demgegenüber mit dem gerne als »knuffigen Onkel« gezeichneten Norbert Walter-Borjans und der als humorlos und provinziell etikettierten Saskia Esken ein ungerecht negatives Gegenmodell dieser Gegenmodelle der Jahrtausendwechsel-Generation.

Andererseits: Ein Gutteil der Schwierigkeiten der SPD, mit ihrer Parteispitze über den Moment des Wahlparteitags hinaus im Reinen zu bleiben, dürfte über das eben Gesagte hinaus mit den allgemein und parteiübergreifend sehr diffusen, auch widersprüchlichen Vorstellungen davon zusammenhängen, was politische Führung eigentlich leisten muss. Politiker sollen unabhängig vertreten, was sie für richtig halten, und gleichzeitig auf Volkes Stimme hören. Sie sollen vorausschreiten, aber bloß nicht zu weit. Großer Wert wird auf Ehrlichkeit und Integrität gelegt, doch bewundert werden vielmals eher die begabten Trickser, die zumal in internationalen Verhandlungen durch klug gelegte Finten Erfolge erzielen. Prinzipien gelten als unverzichtbar, der Grat zum Verdacht, ein Ideologe zu sein, ist andererseits schmal. Kaum verwunderlich daher, dass sich eine pauschalisierende Antwort auf die Frage, welche Führungseigenschaften Erfolg versprechen, nur schwerlich geben lässt.

Dies gilt eingeschränkt ebenfalls für den engeren Bereich von politischer Führung in Parteien. Auch hier münden Bestimmungsversuche meist in denkbar allgemeine Aufzählungen von schwer Vereinbarem. Eine größere Klarheit herrscht da – jedenfalls in der akademisch betriebenen Parteienforschung – bei der Erwartung, dass politische Führung durch den zeitgenössischen Trend, Partizipationsmöglichkeiten auszuweiten, eher erschwert als erleichtert werde. Durch eine umfassendere Einbindung der Parteimitglieder würde sich der Kreis der Mitbestimmungsberechtigten verbreitern, zusätzliche Interessen träten auf den Plan, Hierarchien würden abgeflacht und Entscheidungsbefugnisse an der Organisationsspitze beschnitten. Eigenmächtigem Handeln und nicht abgesprochenen, von verschworenen Zirkeln in Hinterzimmern gefassten Beschlüssen werde der Boden entzogen, der Informations-, Diskussions- und Klärungsbedarf im Vorfeld von Abstimmungen steige, damit verbunden das Zeiterfordernis von Prozessen der Willensbildung.

Das erleichtert politische Führung nicht, ein wesentlicher Faktor für die Entwicklungsperspektiven der Gesamtpartei bleibt das Spitzenpersonal aber dennoch. Es ist dieser Hintergrund, vor dem das Problem mangelnder Abstimmung und Friktionen zwischen den Führungspersonen, das in der SPD durch die gesamten 2010er Jahre hindurch bestand, so verhängnisvoll ist. Die Bundestagswahlkämpfe von Peer Steinbrück und Martin Schulz zum Beispiel krankten von Anfang an auch daran, dass ihre Mitarbeiter im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, isoliert waren und die Abstimmungsprozesse zwischen den Vertrauten der Parteivorsitzenden, der Generalsekretäre und der Spitzenkandidaten nie reibungslos gelang. Unter den neuen Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken scheint sich dieses Problem nun noch einmal zugespitzt zu haben, auch das ein Grund dafür, weshalb sie sofort nach ihrer Wahl schon in die Kritik gerieten und die übliche 100-tägige Schonfrist bei ihnen, wie Esken spöttisch gegenüber der Zeit bemerkt hat, bereits »nach 100 Sekunden vorüber« gewesen sei.

Jedenfalls: Nach einem Kandidatenrennen, das weniger verbindend denn trennend gewirkt hat, stehen die Parteivorsitzenden gegen die mächtige Riege der Minister, Ministerpräsidenten und Fraktionsmitglieder ziemlich verlassen da. Was Walter-Borjans und Esken inhaltlich vorschlagen, wird von den eigenen Leuten wenig beachtet; der unterlegene Rivale Scholz hat seit der Hamburger Landtagswahl wieder Auftrieb, taxiert seine Chancen, Kanzlerkandidat der SPD zu werden. Die Lage an der Spitze bleibt mithin auch nach dem Mitgliedervotum über den Parteivorsitz ziemlich ungeklärt.

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