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© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Stephan Schulz

Als Elitenprojekt wird die Transformation von der Wachstums- zur widerstandsfähigen Gesellschaft scheitern Führungssehnsucht in Krisenzeiten

Die Coronakrise, die die Welt seit 2020 in Atem hält, und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 haben die Grundlagen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens auch in Deutschland erschüttert. Der Klimawandel als dritte Krise wird mittel- und langfristig beide Krisen ergänzen beziehungsweise ablösen. Weder auf die Corona- noch auf die Russlandkrise war das politische System hierzulande vorbereitet. Der Zukunftsforscher Matthias Horx spricht von einer »Omnikrise«.

Krisen wie Corona, der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel lassen sich als »Game Changer« bezeichnen, weil sie mehrere Trends beschleunigen und ihre Folgen zerstörerische Veränderungen mit sich bringen. Politisches Handeln wird komplexer und damit auch riskanter. Resilienz, die Widerstands- und Krisenfestigkeit wird dabei zu einem Schlüsselfaktor.

Drei politische Trends, die sich seit vielen Jahren bereits latent entwickeln, werden dabei die Zukunftsfähigkeit definieren:

Trend eins: Das Ende der Lager. Traditionelle Politik bezieht ihre Dynamik aus dem Streit der Lager und ihrer Milieus. »Linke« und »rechte« Konzepte treten gegeneinander an und differenzieren sich im politischen Wettbewerb. Dabei werden weitgehend duale ideologische Konzepte aus dem vergangenen Jahrhundert abgearbeitet: Markt gegen Staat. Ökologie gegen Ökonomie. Frieden versus Sicherheit. Corona, Krieg und Klimawandel bilden gleichzeitig den Höhe- wie einen Wendepunkt des alten, in heillose Deutungskämpfe verstrickten politischen Systems, das für die Wähler immer weniger erklärt. Diesem Trend verdankt die Ampelkoalition als erstes Dreierbündnis seit Bestehen der Bundesrepublik ihren Erfolg. (Volks-)Parteien, die ideologisch statt pragmatisch, verwaltend statt visionär und gegenwärtig statt nachhaltig agieren, verlieren an Bedeutung.

Trend zwei: Der Drang zur neuen Mitte. In den Wohlstandsgesellschaften haben sich inzwischen neue Mittelschichten herausgebildet, die den traditionellen Milieus entwachsen sind und längst eine strukturelle Mehrheit bilden. Diese Schichten sind kulturell liberal, mental grün, ökonomisch marktorientiert, sozialdemokratisch im Sinne des fairen Ausgleichs. Die »Klasseninteressen« dieser Milieus konzentrieren sich nicht mehr nur auf ein Konzept des Politischen, sondern changieren stark nach der eigenen Position in der Gesellschaft. Die eigenen politischen Interessen werden in der modernen Individualgesellschaft virtuos: die politische Melodie wird immer neu gespielt – und deshalb wird auch die politische Gesellschaft volatiler. Politische Führung muss darauf reagieren, indem sie flexibler und anschlussfähiger wird, ohne beliebig zu werden.

Trend drei: Das neue Bedürfnis nach guter politischer Führung (Good Governance). Insbesondere die Coronakrise hat die Notwendigkeit effektiven staatlichen Handelns in einer existenziellen Weise gezeigt. Äußere und innere Krisen lassen sich weder mit überbürokratisierten und schwach geführten Institutionen noch mit einer Rhetorik ideologischer Freiheit und Eigenverantwortung bewältigen. Gutes Regieren braucht eine effektive Exekutive, eine vermittelnde Judikative und eine vorausschauende und ausgleichende Legislative. Staatliche Systeme müssen transparent und erreichbar sein. Und sie müssen früher als bislang Expertise von außen einholen. Auch durch die Beteiligung der Bürgergesellschaft etwa in Form von Bürgerversammlungen. Die Ampel-Parteien setzen in ihrem Koalitionsvertrag auf »neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte«.

Zu defensiv gerät jedoch ihre Rolle: »Eine Befassung des Bundestags mit den Ergebnissen wird sichergestellt.« »Mehr Demokratie wagen« wäre – mehr als 50 Jahren nach der Rede von Willy Brandt – angezeigt. Viele Kommunen sind weiter und setzen Bürgerversammlungen als beratende und Entscheidungen vorbereitende Instrumente ein. In einer koproduktiven Demokratie haben Bürger die Freiheit, Neues auszuprobieren und ihre Ideen mit der gesamten Gesellschaft zu teilen. Die Erfahrungen mit kommunalen Bürgerforen und ‑räten machen Mut und sollten auch auf nationaler und europäischer Ebene als verpflichtendes konsultatives Element etabliert werden. Bürgerdialoge bis hin zu Abstimmungen können bei nationalen oder europäischen Grundsatzfragen wie der Einführung einer CO2-Steuer oder einer europäischen Armee für die nötige Be- oder Entschleunigung sorgen. Intelligente Formen der politischen Willensbildung zerstören das Repräsentationsprinzip und politische Führung nicht, sondern können beide stärken.

Konsequenzen für die Zukunft

Aus dem Ende der Lager, dem Drang zur neuen Mitte und der Renaissance von Gutem Regieren ergeben sich drei Konsequenzen für die Zukunft. Ein anderer Politikstil, ein neuer Politikertyp und der Wandel von der Volks- und Mitgliederpartei zur Mitmach- und Zukunftspartei.

Das Bedürfnis nach einem neuen Politikstil hat sich nicht zuletzt bei den Landtagswahlen in diesem Jahr gezeigt. Der Durchbruch einer »Politik des Zuhörens« führt zu einem neuen Aushandeln von Interessenskonflikten und Bürgerprotesten. Der Unterschied und die große Stärke der Demokratie im Unterschied zur Despotie ist, dass sich liberale Demokratien als »Überraschungsgesellschaften« verstehen. Ihr aufgeklärter kooperativer Individualismus kann in Krisenzeiten zur großen Stärke mutieren, wenn Politik die Individuen nicht als Problemverursacher, sondern als Ideengeber betrachtet. Es geht um eine Kommunikation des Zuhörens, die Handlungsfähigkeit und Kompromissfähigkeit der Bürgergesellschaft schult und nutzt. Der rapide Wandel verlangt einerseits schnelle und radikale Veränderungen in Staat und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Radikale Veränderungen müssen aber nachhaltig sein und brauchen die Akzeptanz der Menschen. In der kommenden Politik-Ära werden weichere Führungsstile von herausragender Bedeutung sein. Viele kleine europäische Länder sind heute bereits politisch »feminisiert« – allen voran die skandinavischen und baltischen Länder. Die Zeit des politischen Macho-Heroismus, der in den vergangenen Jahren noch einmal eine Blüte erlebte, ist vorbei, weil sich das paritätische Prinzip auch in der Politik durchsetzen wird. Die österreichische Politikwissenschaftlerin Astrid Séville nennt den Politikstil der Zukunft »progressiv-pragmatischen Pessimismus«. Statt sich von der Angst lähmen zu lassen, geht es darum, diese produktiv und kreativ zu nutzen und zu politisieren.

Je unübersichtlicher die Welt, desto stärker ist die Sehnsucht nach starken Personen. Der Wandel zur Bürgerdemokratie führt in zweiter Konsequenz zu einem neuen Politikertyp: dem Zukunftspolitiker. Die Antwort auf das Bedürfnis nach neuer Politik ist nicht nur ein neuer Politikstil, sondern auch ein neuer Politikertyp. Während Populisten bereits existierende Stimmungen aufgreifen und verstärken, erzeugt der neue Typ Politiker eine neue Stimmung. Repräsentation bedeutet für die neuen Politikertypen nicht mehr die Wiedergabe von etwas, das bereits existiert, sondern das Erschaffen von etwas Neuem. Statt auf alte Ideologien und Karrierewege kombiniert der neue Politikertyp eine Sprache der emotionalen Zuversicht und Zumutung und verbindet bislang Unvereinbares.

Der neue Politikertyp setzt auf eine neue Balance aus Be- und Entschleunigung – auf eine »moderierte Entschleunigung« als Antwort auf die permanente Beschleunigungsrhetorik der Ökonomie. Gefragt sind Moderator:innen des politischen Wandels, die gemeinsam mit den Menschen Lösungen finden und so Hoffnung für eine bessere Zukunft bieten. Es ist kein Zufall, dass die beliebtesten Politiker:innen heute Robert Habeck, Annalena Baerbock und Winfried Kretschmann sind. Der neue Politiker ist kein Typ der Transformation, er und sie sind vielmehr transformativ im Sinne eines kollektiv-reflexiven Handelns nach dem Motto »Anregen und anpacken!«

Statt auf die »Große Transformation« setzen er und sie auf viele kleine Transformationen und Veränderungen. Corona, Krieg und Klima sind dann keine externen Ereignisse, die nur der Staat lösen kann, sondern Chancen zur Selbst- und Zukunftsermächtigung. Im Unterschied zum Populisten und den Verwaltern des Status quo, die ein »Zurück zur alten Normalität« versprechen, spricht der Zukunftspolitiker Widersprüche offen an und versucht sie im offenen Diskurs aufzulösen und neue Antworten zu finden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage einer nachhaltigen Zukunftspolitik, die verhindert, dass aus der »Omnikrise« eine Gesellschafts- und Demokratiekrise wird. Nachhaltige Zukunftspolitik ist resilient, wenn sie es schafft, notwendige Veränderungen mit Orientierung und Halt zu verbinden.

Daraus ergibt sich die dritte Konsequenz: Die Suche nach einem neuen Modell Partei. Die neuen Politikertypen wissen, dass die reine Milieu- und Mitgliederpartei der Vergangenheit angehört. Die Organisationsform der Zukunft sehen sie in der Mitmachpartei und der Integration des Gesellschaftlichen in eine Idee konstruktiver Veränderung und in Allianzen der Unterschiedlichen und nicht der Blasen. Zukunftsparteien verstehen sie als Plattformen der Gemeinsamkeit über die trennenden Elemente hinweg, sie sind offen für aktive Mitglieder und Mitmacher:innen. Das gemeinsame Ziel ist die Förderung der demokratischen Resilienz, die Widerstandsfähigkeit der Institutionen und Bürger:innen.

Die Deutschen als Resilienz-Weltmeister

Die Transformation von der Wachstums- zur Nachhaltigkeitsgesellschaft braucht neben neuen Modellen der demokratischen Willensbildung auch einen neuen Bürgersinn. Transformation braucht Translation, die Übersetzung von Eigen- und Zukunftsverantwortung. 18 Grad im Winter in der eigenen Wohnung und über 30 Grad im Sommer draußen werden wir nur überstehen, wenn es für jeden erreichbare Orte des Schutzes gibt. Resilienz wird zur Daseinsvorsorge: ein schattiger Park, ein kühlendes kommunales Bad oder eine Sporthalle mit öffentlicher Sauna.

Transformation ist kein Wert, sondern ein Weg hin zu mehr Widerstands- und Krisenfestigkeit. Die Deutschen gelten für viele ausländische Beobachter:innen als Weltmeister in Resilienz, im Durchhaltevermögen, fähig zu großen Veränderungen. Als Projekt nur der Eliten wird die Transformation aber scheitern. Politischer Führung, die die Fähigkeit der Bürger:innen zur Veränderung und Resilienz nutzt zur Krisenbewältigung und (!) einem gemeinsamen Aufbruch zu neuen Ufern, gehört die Zukunft. Das Schöne an der liberalen Demokratie ist: Jeder und jede kann dabei ein Held oder eine Heldin werden. Wir können der Angst und der autoritären Versuchung entkommen, wenn wir uns aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien. »Wir selbst sind die, auf die wir gewartet haben«, heißt es bei den Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future.

Der erste Schritt aus den Krisen unserer Zeit besteht darin, sie als Chance für einen neuen Anfang zu sehen. Initium ut esset – damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geboren, zitiert Hannah Arendt Augustinus am Ende ihrer Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Corona, Krieg und Klima: Ein politischer Neuanfang ist immer möglich. Jetzt ist die Zeit für die Zukunft.

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