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Reformvorschläge aus gewerkschaftlicher Sicht Für ein Europa der Vielfalt – auch in einer Währungsunion!

Die europäische Wirtschaftspolitik der letzten Jahre ist aus gewerkschaftlicher Perspektive enttäuschend. Um nur ein paar Tiefpunkte zu nennen: Die Anpassungsprogramme der sogenannten Troika, dem Kooperationsverbund aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission, haben in Griechenland verheerende soziale Auswirkungen gehabt, das Tarifsystem unter Druck gesetzt und die Gewerkschaften geschwächt. Die über das Europäische Semester verordnete Austeritätspolitik hat nach 2009/10 in vielen südeuropäischen Mitgliedstaaten den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholungsprozess abgewürgt und die Arbeitslosigkeit in die Höhe schnellen lassen. Seit der Finanzkrise 2008 ist klar: Die Währungsunion hat das ursprüngliche Konvergenzversprechen nicht einlösen können. Ein Auseinanderdriften zwischen Nord- und Südeuropa lässt sich an zentralen wirtschaftlichen Indikatoren wie der Arbeitslosenrate und dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ablesen.

Ursache für die wirtschaftspolitischen Fehlentwicklungen in der Eurozone in den letzten Jahren sind nicht nur politische Mehrheitsverhältnisse. Ausschlaggebend ist vielmehr das Design der Währungsunion oder was der Ökonom Stephan Schulmeister treffenderweise als »Spielanordnung« bezeichnet hat. Damit ist zum einen die restriktive EU-Fiskalpolitik gemeint, welche die Mitgliedstaaten weitestgehend unabhängig von der konjunkturellen Lage und von den politischen Entwicklungen zur Haushaltskonsolidierung zwingt. Zum anderen hat sich das Fehlen von Sicherungsmechanismen, wie etwa das eines Kreditgebers der letzten Instanz, als folgenreiche Lücke erwiesen. Denn Spekulationen auf den Staatsbankrott einiger südeuropäischer Länder trieben die Zinsen in unfinanzierbare Höhen. Die Refinanzierungsschwierigkeiten einiger Mitgliedstaaten belasten bis heute die Funktionsfähigkeit der Währungsunion und setzen den Mitgliedstaaten bei der Finanzierung öffentlicher Ausgaben enge Grenzen.

Wie lässt sich diese marktliberale Schlagseite der Währungsunion beheben? Welche Reformen sind notwendig, damit die Währungsunion ihr sozioökonomisches Konvergenzversprechen doch noch einlöst? Wie kann die Eurozone zurück auf den Pfad des inklusiven Wachstums gebracht werden?

Während die einen die Lösung in einem weiteren Integrationssprung, in einer ambitionierten Reformagenda sehen, die das Ziel hat, eine Fiskalunion zu schaffen (Option 1), fordern die anderen einen Rückbau der Währungsunion (Option 2). Ich diskutiere beide Vorschläge kurz und stelle ihnen eine dritte Reformoption gegenüber, einen Mittelweg, der in einer radikalen Reformagenda bestünde, die der sozioökonomischen Heterogenität der Mitgliedstaaten genügend Rechnung trägt und gleichzeitig an dem gemeinsamen Währungsprojekt festhält.

Meine Reformvorschläge orientieren sich an dem Leitbild eines Europas der Vielfalt, welches an die Theorie der »EU Demoicracy« anknüpft, wie sie von Politikwissenschaftler/innen wie Kalypso Nicolaïdis und Richard Bellamy erarbeitet wurde: Demnach stellt der Nationalstaat eine schützenswerte demokratische Arena dar, in der historisch gewachsene Institutionen für einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen sorgen. Daher sollten politische Entscheidungen, die im Nationalstaat getroffen wurden, nicht vorschnell durch supranationale europäische Institutionen übergangen werden. Das Leitbild eines Europas der Vielfalt, wie ich es hier vertrete, sieht im Nationalstaat diejenige politische Organisationsform, in der sich das Ideal der demokratischen Selbstbestimmung bestmöglich realisiert, und hebt gleichzeitig die Vorteile und Notwendigkeit europäischer Kooperation hervor.

Option 1: Mehr Europa wagen?

Eine Vielzahl von progressiven Ökonomen schlussfolgert, dass sich die marktliberale Schlagseite durch einen weiteren Integrationsschritt, insbesondere in der Fiskalpolitik beheben ließe. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hat sich dafür stark gemacht, die Vollendung der Währungsunion über die Schaffung einer EU-Fiskalunion voranzubringen. Die visionären Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Reform der Eurozone, sei es durch einen Europäischen Finanzminister, einen automatischen Stabilisator, eine europäische Wirtschaftsregierung oder ein Eurozonenbudget haben wir als wichtige Impulse in der Reformdebatte begrüßt. Über ein wie auch immer beschaffenes Eurozonenbudget, so die Idee, hätte die Währungsunion ihre makroökonomische Handlungsfähigkeit zurückerlangen können.

Doch die konkreten Vorschläge, die von der Politik in diesem Kontext vorgelegt wurden, sind enttäuschend. Es scheint, als sei die EU-Wirtschaftspolitik gefangen in einer bestimmten ordnungspolitischen Grundausrichtung. Die EU kann gar nicht anders, als Reformen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und fiskalischer Konsolidierung zu fordern – mit massiven Auswirkungen auf die industriellen Beziehungen, die öffentliche Investitionspolitik und die sozialen Sicherungsmechanismen in den Mitgliedstaaten. Vor diesem Hintergrund pauschal »mehr Europa« zu fordern, scheint mir ein riskantes Unterfangen. Natürlich wäre es aus gewerkschaftlicher Perspektive wünschenswert, wenn die Währungsunion künftig einen europäischen automatischen Stabilisator hätte, um effektiver auf Konjunkturflauten reagieren zu können. Oder ein Eurozonenbudget, das genutzt wird, um in die Zukunftsfähigkeit der nationalen Volkswirtschaften zu investieren und öffentliche Investitionen in den Bereichen Bildung, Infrastruktur und sozialer Wohnungsbau fördert. Doch dieses Szenario scheint alles andere als realistisch. Viel wahrscheinlicher ist es, dass EU-Finanzhilfen jeglicher Art an rigide Strukturreformauflagen geknüpft werden, welche die wirtschaftspolitische Autonomie der Mitgliedstaaten einschränken und folgenreiche Auswirkungen auf die nationale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik haben.

Darüber hinaus gibt es erhebliche demokratietheoretische Bedenken gegenüber einer EU-Fiskalunion. Denn diese würde eine vertiefte Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken notwendig machen. Schon jetzt gibt die Europäische Kommission den Mitgliedstaaten über das Europäische Semester jährlich wirtschaftspolitische Reformempfehlungen, welche zum Teil (insbesondere die fiskalpolitischen) rechtlich verbindlich sind. Das heißt: Mitgliedstaaten drohen bei Nichteinhaltung der Reformauflagen finanzielle Sanktionen. Bislang wurde von dieser Option noch kein Gebrauch gemacht, doch schon allein die Androhung dieser Sanktionen übt in den Mitgliedstaaten einen hohen politischen Druck aus. Das Problem ist, dass die Entscheidung darüber, ob ein Land gegen die EU-Defizitregeln verstößt, weitestgehend auf technokratischem Weg ohne parlamentarische Beteiligung erfolgt. Noch immer haben weder die nationalen Parlamente noch das Europäische Parlament ein Mitspracherecht bei den länderspezifischen Empfehlungen, die im Rahmen des Europäischen Semesters formuliert werden. Zwar werden die Sozialpartner umfangreich konsultiert, diese informellen Konsultationen können aber einen ordentlichen parlamentarischen Prozess nicht ersetzen. Aus meiner Sicht ist eine umfassende Demokratisierung des Europäischen Semesters eine Grundvoraussetzung, die erfüllt sein muss, bevor man einen weiteren Integrationsschritt Richtung Fiskalunion wagt. Die Entscheidung, ob ein Land gegen die Defizitkriterien verstößt und welche Strukturreformen es umsetzen sollte, ist keine technische, die abgeschirmt vom politischen Prozess verhandelt werden darf.

Option 2: Weniger ist mehr

Eine weitere Position, die in einem eher kleinen Kreis von linken Intellektuellen vertreten wird, teilt weitestgehend die oben beschriebene Problembeschreibung und kritisiert ebenso die marktliberale Schlagseite der Währungsunion, kommt aber zu einer diametral entgegengesetzten Schlussfolgerung: Wenn wir die soziale Seite der EU stärken wollen, kann die Lösung nicht in einer vertieften Integration liegen, sondern in einem sukzessiven Rückbau der Währungsunion. Autoren wie Martin Höpner und Fritz W. Scharpf schlagen eine Rückkehr der Euroländer zum früheren Europäischen Währungssystem (EWS) vor, welches bei großen Ungleichgewichten eine gemeinsame Entscheidung über Auf- und Abwertungen der Währung ermöglicht. Ausgangspunkt der Argumentation ist die strukturelle Heterogenität der europäischen Volkswirtschaften, welche die Funktionsfähigkeit der Währungsunion einschränkt und dazu führt, dass den Weichwährungsländern des Südens, die stärker von einer florierenden Binnennachfrage abhängen, ein Wirtschaftsmodell aufgezwungen wird, das sich an den exportstarken Hartwährungsländern des Nordens orientiert.

Die genannten Autoren leisten aus meiner Sicht einen wichtigen Beitrag für die Eurozonen-Reformdebatte, weil sie aus der Rhetorik der Alternativlosigkeit, die in der Politik vorherrscht, ausbrechen und auf der Basis einer beeindruckenden Problemanalyse einen konkreten politischen Vorschlag entwickeln, der eben kein einfaches Zurück zur nationalen Währung postuliert, wie es nationalistische und rechtspopulistische Kräfte wie die AfD fordern, sondern eine europäische Lösung, nämlich die Rückbesinnung auf das Europäische Währungssystem, in Aussicht stellen.

Dennoch ist der Vorschlag für mich aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen müssten die sozioökonomischen Folgen des EWS-Vorschlags eindeutiger benannt werden. Wie würde man mit der Aufwertung der D-Mark bzw. eines Nordeuros umgehen? Welche Folgen hätte das für die Exportwirtschaft in Deutschland? Welche Kosten wären damit für die öffentliche Hand verbunden? Die Bürgschaften, die Deutschland im Rahmen des Europäischen Stabilitätsmechanismus zur Verfügung gestellt hat und die Forderungen der Deutschen Bundesbank gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB) im TARGET2-System würden drastisch an Wert verlieren. Wie würde man damit umgehen?

Zum anderen wären vor allem die politischen Folgen eines Rückbaus der Währungsunion unberechenbar. Gerade in der jetzigen politischen Situation könnte das Eintreten für einen solchen Vorschlag die politischen Fliehkräfte verstärken. Zu groß ist das Risiko eines Dominoeffekts: Zur Diskussion stünde dann nicht nur das Währungsprojekt, sondern das europäische Integrationsprojekt als solches.

Option 3: Europa der Vielfalt

Das Leitbild eines Europas der Vielfalt auf die Währungsunion anzuwenden, scheint auf den ersten Blick ein unmögliches Unterfangen zu sein: In anderen Politikbereichen könnte durch differenzierte Formen der Integration, der kulturellen und sozioökonomischen Heterogenität der Mitgliedstaaten stärker Rechnung getragen werden. Aber in einer Währungsunion? Mit der Vereinheitlichung der Geldpolitik ist eine Integrationstiefe erreicht, die den weiteren Entwicklungspfad in Richtung einer Fiskalunion und einer politischen Union vorzugeben scheint.

In der Tat besteht ein Zielkonflikt zwischen der Bewahrung der sozioökonomischen Heterogenität der Mitgliedstaaten und der Gewährleistung einer effektiven Funktionsfähigkeit der Währungsunion, der sich auch in der hier skizzierten Reformagenda nicht gänzlich auflösen lässt. Die hier gemachten Vorschläge stellen zumindest den pragmatischen Versuch dar, beiden Zielen gerecht zu werden. Ein Mittelweg bestünde in einer Reformagenda, die an der gemeinsamen Währung festhält, die marktliberale Spielanordnung der EWU ändert und die sozioökonomische Heterogenität der Mitgliedstaaten stärker berücksichtigt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit will ich abschließend zumindest drei Bausteine einer solchen Reformagenda skizzieren. Alle drei Reformbausteine stellen zentrale Forderungen des DGB zur Reform der Eurozone dar.

Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Der DGB fordert seit Jahren die Abschaffung des Fiskalpaktes und eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Eine goldene Regel für öffentliche Investitionen würde es erlauben, öffentliche Nettoinvestitionen über Kreditaufnahme zu finanzieren. Ausgaben für öffentliche Nettoinvestitionen würden nicht von den EU-Defizitregeln erfasst werden. Investitionen in den Bereichen sozialer Wohnungsbau, Infrastruktur und Schulsanierung könnten so angekurbelt werden. Eine solche goldene Regel für öffentliche Investitionen würde nicht nur eine Verstetigung öffentlicher Investitionen auf einem höheren Niveau bewirken und damit die Zukunftsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften stärken. Sie hätte auch eine konjunkturstabilisierende Funktion, weil sie verhindern würde, dass öffentliche Investitionen in Krisenzeiten zu stark einbrechen. Insgesamt würden die Mitgliedstaaten damit fiskalpolitischen Handlungsspielraum zurückgewinnen.

Mindeststandards der sozialen Grundsicherung: Durch EU-Mindeststandards der Arbeitslosen- und Grundsicherungssysteme könnten die nationalen, sozialen Sicherungssysteme gestärkt werden. Solche Mindeststandards würden einen Beitrag dazu leisten, das Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse und die sozioökonomische Ungleichheit in der EU einzudämmen. Zudem könnte mit einer solchen politischen Maßnahme zukünftig verhindert werden, dass mitgliedstaatliche Standards durch eine fehlgeleitete EU-Krisenpolitik und entsprechende Kürzungsvorgaben ausgehöhlt werden. Doch auch aus wirtschaftspolitischer Sicht spricht einiges für soziale Mindeststandards: Die Stärkung nationaler sozialer Sicherungssysteme hätte eine konjunkturstabilisierende Wirkung und würde es Mitgliedstaaten erlauben, effektiver auf wirtschaftliche Abschwünge zu reagieren. Starke soziale Sicherungssysteme haben in den Mitgliedstaaten die Funktion von automatischen Stabilisatoren. Länder mit stabilen Sicherungssystemen und hohen Sozialausgaben sind nachweislich besser durch die Krise gekommen. Eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (Gerechter. Sozialer. Weniger ungleich. Was die Deutschen von Europa erwarten) zeigt schließlich, dass ein solches Projekt bei den Bürgerinnen und Bürgern auf große Zustimmung stößt.

EZB als Kreditgeberin der letzten Instanz: Schließlich muss wirksam ausgeschlossen werden, dass an den Finanzmärkten auf den Staatsbankrott einzelner Mitgliedstaaten spekuliert wird und die Zinskosten in unfinanzierbare Höhen schnellen. Die nach 2008 einsetzenden Verschuldungskrisen einiger Eurozonenländer hätten vermieden werden können, wenn die EZB, ähnlich wie die US-amerikanische Fed oder andere große Zentralbanken, die Kompetenz gehabt hätte, Staatsanleihen der Mitgliedsländer auf dem Sekundärmarkt bedingungslos aufzukaufen, die Zentralbank also als Kreditgeberin der letzten Instanz fungiert hätte, oder wenn sie in der Lage gewesen wäre, gemeinsame europäische Anleihen (Eurobonds) auszugeben. Hier braucht es ein mutiges Zeichen seitens der Politik: Mehr Marktdisziplin an den Staatsanleihenmärkten wird den Euro schwächen und die Unsicherheit im Euroraum weiter verschärfen. Eine Stabilisierung der Staatsfinanzierung etwa durch gemeinsame europäische Anleihen ist längst überfällig.

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