Die Globalisierung, insbesondere der Finanzmärkte, hat die Weltwirtschaft krisenanfällig gemacht und zwei neue Formen von Abhängigkeit geschaffen: diejenige der Realwirtschaft von der globalen Finanzwirtschaft und diejenige staatlicher Politik von den internationalen Finanzmärkten. Beide stellen Herausforderungen für die Demokratie dar, da sie die Idee kollektiver Autonomie, die für jede demokratische Ordnung zentral ist, infrage stellen. Die in den vergangenen Dekaden praktizierte Form der Liberalisierung und Globalisierung ist eine der Wurzeln der aktuellen Demokratiekrise. Wenn unterdessen die AfD unter dem Konterfei Willy Brandts mit dessen berühmten Zitat »Mehr Demokratie wagen« Landtagswahlkämpfe bestreitet, wird die neue Konstellation deutlich: Die Identitären verteidigen das, was sie für die Interessen des Volkes halten, gegen Globalisierung, internationale Verrechtlichung und Elitenherrschaft. Es lohnt sich jedoch, eine liberale Weltordnung zu verteidigen, die zu ihren Wurzeln zurückkehrt. Diese muss sich von Instrumentalisierungen durch wirtschaftliche und geostrategische Interessen lösen, um als normative Ordnung gegen die neuen Autoritarismen, Nationalismen und Fundamentalismen bestehen zu können. Um uns terminologisch abzugrenzen, bezeichnen wir diese Alternative als eine kosmopolitische Ordnung.
Der Kosmopolitismus war seit seinen Anfängen im antiken Griechenland mit einer Hypothek belastet, nämlich der der Illoyalität. Die frühen Kosmopoliten, zunächst des Kynismus, dann des Stoizismus, brachten sich in einen Gegensatz zu den Loyalitätsbindungen als Bürger einer polis. Sie nutzten die Selbstdefinition als »Kosmopolit«, als Bürger im Kosmos, als Mitglied einer die gesamte Menschheit umfassenden Bürgerschaft, um sich den Verpflichtungen als Bürger ihrer Stadt, ja sogar (bei den Kynikern) als Mitglied sozialer Gemeinschaften generell, zu entziehen. Diese Botschaft des »Ich gehöre nicht zu euch« transformiert sich in der Gegenwart zum Konflikt zwischen den anywheres und den somewheres, wie es der britische Journalist David Goodhart unter anderem in seinem Buch The Road to Somewhere bezeichnet hat: Die anywheres sind nirgends verwurzelt, sie fühlen sich überall auf der Welt gleichermaßen zu Hause, teilen eine oberflächliche zivilisatorische Praxis, die die kulturellen Unterschiede verschwinden lässt, zahlen dafür aber den Preis der Entwurzelung und der Atomisierung. Sie nehmen vor Ort, dort wo sie sich jeweils aufhalten, nicht mehr an den Nachbarschaftsaktivitäten teil, sie sind nicht bereit und meist auch nicht in der Lage, sich längerfristig in, wie auch immer verfassten, sozialen Gemeinschaften, vom Sportverein bis zur freiwilligen Feuerwehr, zu engagieren, sie schätzen Steuersparmodelle unter Einbeziehung von Anlagemöglichkeiten in Steueroasen, sie bedienen sich des globalisierten Englisch als Verkehrssprache, sie sorgen dafür, dass ihre Kinder an englischsprachigen Schulen im In- oder Ausland sozialisiert werden und bezahlen für den kosmopolitischen Lebensstil mit dem Verlust von Bindungen privater und kommunitärer, auch politischer Art. Kulturelle Identitäten verwandeln sich für diese Form des Kosmopolitismus in ethnische und folkloristische Phänomene. Metropolen der Welt bieten überall vergleichbare Lebens- und Arbeitsbindungen und die Mehrheit der Menschen und die für diese charakteristischen Lebensformen geraten aus dem Blick. Die somewheres sind der Gegenentwurf zum urbanen Kosmopoliten; sie sind regional verwurzelt, sozial wenig bis kaum mobil; leiten ihre Identität nicht aus einem globalistischen beruflich-ökonomischen Gewinnergefühl ab, sondern aus der Zugehörigkeit zu einer lokalen, subkulturellen oder nationalen Gemeinschaft.
Dieser Konflikt zwischen der Praxis des Kosmopolitismus und der Praxis des Kommunitarismus hat eine philosophische Entsprechung in der Auseinandersetzung zwischen Universalismus und Partikularismus. Die universalistische Lebensform der Kosmopoliten stützt sich auf eine dünne, universalistische Moralität. Die dichte, auf Zugehörigkeiten angewiesene, lokal verwurzelte Lebensform der Kommunitaristen erkennt die Prägungen der moralischen Identität durch Gemeinschaftszugehörigkeiten an. Um eine lange Geschichte kurz zu machen: Ein anti-kommunitaristischer Kosmopolitismus hat weder politisch noch ethisch eine Zukunft.
Globale Rechtsordnung
Der Kosmopolitismus, für den ich plädiere, versteht sich nicht als Programm des Staatsabbaus unter der Ägide des globalisierten Finanzkapitalismus. Seine zentrale Idee ist die einer globalen Rechtsordnung. Diese beruht auf den ethischen Prinzipien der gleichen individuellen menschlichen Würde, des gleichen Respekts und der gleichen Anerkennung. Menschlichen Individuen kommen gleiche fundamentale Rechte, Grund- oder Menschenrechte, zu, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Religion etc. Die globale Rechtsordnung bindet alle Staatlichkeit, unabhängig davon, welchen Umgriff diese hat (als Stadtstaat, als Regionalstaat, als Nationalstaat bis zu transnationaler Staatlichkeit, wie etwa der der Europäischen Union). Die kosmopolitische Rechtsordnung stützt sich auf den normativen Konsens der Menschenrechte, der moralischen Erkenntnis, dass Menschen unveräußerliche Rechte haben. Die Weltgemeinschaft ist bei der Kodifizierung dieses normativen Grundkonsenses seit der General Declaration of Human Rights vom 10. Dezember 1948 weit vorangeschritten. Die politische und staatliche Praxis allerdings ist in den meisten Regionen der Welt noch nicht auf der Höhe dieser Erkenntnis angelangt.
Eine kosmopolitische Rechtsordnung bedarf, über einen normativen Grundkonsens hinaus, einer zumindest rudimentären Institutionalisierung, etwa in Gestalt von Weltstrafgerichten oder dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Diese Institutionalisierung ist aber nur universalisierbar, wenn sie nicht die gegebenen globalen Machtverhältnisse widerspiegelt. Das Recht nimmt Schaden, wenn es in Abhängigkeit von politischer, religiöser oder ökonomischer Macht gerät. Die Tatsache, dass sich bislang nur Politiker kleiner oder gescheiterter Staaten vor internationalen Gerichten für ihre Menschenrechtsverletzungen verantworten mussten, musste über kurz oder lang zu einer Entsolidarisierung der Weltgesellschaft führen, die unterdessen eingetreten ist. Nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika, China oder Russland, sondern auch afrikanische Staaten entziehen sich der internationalen Gerichtsbarkeit: die USA, weil sie sich keinem internationalen Rechtsregime unterwerfen möchten und die afrikanischen Staaten, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Eine kosmopolitische Rechtsordnung erfordert keine Verfügung über Gewaltmittel zur Rechtsdurchsetzung. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verfügt darüber nicht, ebenso wenig wie das Bundesverfassungsgericht. Es genügt eine mittelbare Rechtsdurchsetzung, die allerdings von einem umgreifenden normativen Konsens getragen sein muss.
Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass der militärische Interventionismus, auch wenn er humanitär motiviert ist, ein stumpfes Schwert zur Etablierung einer kosmopolitischen Rechtsordnung darstellt. Einmal deswegen, weil militärische Gewalt sich von polizeilicher Gewalt fundamental unterscheidet, nicht nur insofern, als militärische Gewalt einen Kombattantenstatus voraussetzt, der Menschen als Soldaten, unabhängig davon, ob sie ein Verbrechen begangen haben, militärischer Gewalt, ja Tötung, aussetzt, sondern auch, weil zivile Opfer der Kriegslogik und dem Kriegsrecht entsprechen, sofern Verhältnismäßigkeitskriterien eingehalten werden. Die Kriegslogik ist anders als die zivile Logik der staatlichen Gewalt kollektivistisch: Sie macht Menschen als Individuen zu Gewaltopfern, deren einziges »Vergehen« darin besteht, zur militärischen Gegenseite zu gehören. Die Kriegslogik setzt individuelle Menschenrechte zu einem Großteil außer Kraft. Sowohl das ius ad bellum wie das ius in bello ist mit einer kosmopolitischen, auf individuellen Grundrechten aufbauenden Rechtsordnung unverträglich.
Kosmopolitsche Sozialstaatlichkeit
Eine liberale Weltordnung als Strategie des Staatsabbaus und der finanzwirtschaftlichen Globalisierung muss durch eine kosmopolitische Weltordnung, die auf globale Rechts- und Sozialstaatlichkeit setzt, ersetzt werden. Zunehmend haben das auch die großen internationalen Institutionen wie die Weltbank, auch der Internationale Währungsfonds, verstanden. Die Ungleichverteilung und die wachsenden sozialen Spannungen in den ökonomisch entwickelten Ländern, aber auch in den Schwellenländern und Teilen des globalen Südens, gelten nun als Hemmnis für Produktivitätsentwicklung und Wirtschaftswachstum.
Die ökonomisch entwickelten Nationalstaaten haben in einem langen historischen Prozess ihre je eigene Sozialstaatlichkeit etabliert, diese spielt für das nation building, die Konstitution einer demokratischen Bürgerschaft und die politische Legitimation eine zentrale Rolle. Dies gilt auch für die USA, obwohl dort die Marktorientierung von allen westlichen Ländern am stärksten ausgeprägt ist. Eine kosmopolitische Strategie, die diese nationalen Sozialstaatlichkeiten durch eine kosmopolitische ersetzen wollte, müsste von vornherein scheitern. Diese je national etablierten sozialstaatlichen Strukturen sind nicht nur Formen des Ausgleichs, die man so oder auch anders gestalten könnte, sondern zugleich Ausdruck einer jeweiligen Zivilkultur, die sich von Land zu Land deutlich unterscheidet. Die südeuropäischen Sozialstaaten konzentrieren ihre Mittel ganz überwiegend auf Renten und Pensionen, die ihrerseits eine wichtige Rolle spielen, in Gestalt eines innerfamiliären Ausgleichs. Dieses Modell ist auf die skandinavischen Gesellschaften nicht zu übertragen. Diese haben ihre Sozialstaatlichkeit im Wesentlichen auf den Bürgerstatus fokussiert, sodass es den Bürgerinnen und Bürgern möglich ist, soziale Transfers und soziale Dienstleistungen des Staates je nach individueller Lebenslage (Arbeitslosigkeit, Elternschaft, Alter etc.) einzufordern. Diese individuellen sozialen Rechte sind gebunden an den Bürgerstatus und nicht an vorausgegangene eigene Leistungen und Beitragszahlungen. Das Aufkommen des skandinavischen Sozialstaats wird ganz überwiegend über Steuern erbracht. Anders schließlich das deutsche Modell (und das französische, das diesem in vielem gleicht): Dieses setzt in weit höherem Maße als das skandinavische auf Kooperation und vorausgegangene eigene Leistungen. Es ist allerdings ähnlich wie das skandinavische inklusiv, das heißt, es bezieht den größten Teil der Bürgerschaft ein, es finanziert sich aber zum überwiegenden Teil nicht aus Steuern, sondern aus Abgaben, womit der Umverteilungseffekt des Staates gegenüber dem skandinavischen Modell vermindert ist.
Kosmopolitische Sozialstaatlichkeit kann es nur als Komplement nationaler und regionaler Sozialstaatlichkeit geben. Sie schafft eine temporäre globale Solidargemeinschaft und in der langfristigen Perspektive besteht die Hoffnung, dass durch eine Verstärkung ihrer Strukturen die Lebensbedingungen soweit konvergieren, dass die Abhängigkeit der Lebenschancen vom Ort der Geburt, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vergrößert hat, eine immer geringere Rolle spielt. Dann erst wären die Voraussetzungen erfüllt, die die Durchlässigkeit staatlicher Grenzen im Sinne von Freizügigkeit, dem individuellen Recht auf Mobilität, erlauben.
Die kosmopolitische Weltordnung etabliert das Primat der Politik auch gegenüber ökonomischen Märkten. Das, was dem Nationalstaat in der Einhegung ökonomischer Märkte gelungen ist, durch Regelsetzung, durch staatliche Infrastruktur, auch durch Umverteilung, durch Normierung der Industrieproduktion, etwa in Gestalt der Deutschen Industrienorm (DIN), die überaus erfolgreich war, durch Umweltstandards und Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, durch Genehmigungsverfahren und staatlich moderierte Risikominimierung, muss nun auch jenseits der Nationalstaaten auf den globalen Finanz- und Gütermärkten durchgesetzt werden. Ohne eine politische Einhegung ökonomischer Märkte bleiben diese chaotisch, sie haben eine Tendenz der Marginalisierung derjenigen, die über eine zu geringe Produktivität verfügen, sie schaffen durch Vermögenskonzentration eine neue Form des kapitalistischen Feudalismus mit großen Einflussmöglichkeiten Einzelner und der Machtlosigkeit der Vielen, und sie generieren Einkommensverteilungen, die nicht nur die individuellen Möglichkeiten und Bedürftigkeiten außer Acht lassen, sondern auch die Grundlage nachhaltigen ökonomischen Wachstums zerstören. Allzu große Ungleichheit der Einkommen führt zu einer Nachfrageschwäche und zu einem Transfer der Vermögen ins Ausland, sowie durch das Überangebot an anlagesuchendem Kapital zu instabilen Finanzmärkten. Es ist, so paradox es klingen mag, im Interesse des Kapitalismus, dass er politisch eingehegt wird. Die kosmopolitische Ordnung hat darin eine zentrale Aufgabe.
Globale Zivilgesellschaft
Eine kosmopolitische Ordnung äußert sich darin, dass eine globale Zivilgesellschaft, eine Weltbürgerschaft entsteht. Den ersten philosophischen Aufschlag dazu formulierte Immanuel Kant 1795 mit seiner kleinen Schrift Zum ewigen Frieden. Diese hat die Form eines Vertragsentwurfs, eines foedus pacificum, das Republiken verpflichtet, keine stehenden Heere zu erhalten, keine geheimen Nebenabsprachen zu treffen, keine Angriffskriege zu führen etc. Vor allem aber beruht diese Form des Weltfriedens auf der Idee, dass Bürgerinnen und Bürger einer Republik, die selbst über die politische Gestaltung ihres Landes entscheiden, die individuelle Würde für sich in Anspruch nehmen, diese auch denjenigen zuschreiben, die in ihren Ländern die Freiheit als Staatsbürger genießen und ebenfalls nicht bereit sind, andere, nur weil sie einem unterschiedlichen Staat angehören, als bloßes Mittel zum Zwecke der eigenen Vorteilsmaximierung oder der Vorteilsmaximierung des eigenen Staates, einzusetzen. Die auf Autonomie gegründete Würde der einzelnen menschlichen Person weitet sich zur zivilen Ordnung der Republik und der Friedensordnung der Welt. Sie beruht auf wechselseitigem Respekt, auf gleicher Anerkennung und der Fähigkeit zu autonomer, selbstverantworteter Lebensführung.
Die kosmopolitische Ordnung bewahrt das Erbe des philosophischen Liberalismus: Selbstverantwortung, Autonomie und Freiheit des Einzelnen, Einschränkungen staatlicher Willkür, Rechtsordnung im Inneren und Rechtsordnung im Verhältnis der Staaten zueinander, eine globale Zivilgesellschaft, im Sinne einer weltumspannenden Bürgerschaft, die bei allen Differenzierungen, bei allen Bindungen nationaler, regionaler, kultureller und religiöser Art, die Würde jeder einzelnen Person achtet und die globalen politischen Bedingungen verantwortet. Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind normativ zwingende Konsequenzen aus der ethischen Erkenntnis, dass jedes Individuum gleichen Respekt verdient und gleichermaßen befähigt ist, ein Leben in eigener Verantwortung zu führen. Die kosmopolitische komplementäre Staatlichkeit schafft die rechtlichen und sozialen Bedingungen dafür, dass Menschen Autorinnen und Autoren ihres Lebens sein können. Sie dehnt die Idee der Demokratie auf die Weltgesellschaft aus, ohne die einzelstaatliche Demokratie ersetzen zu können oder zu wollen.
(Auszug aus dem im März 2020 in der Edition der Körber-Stiftung erschienenen Buch »Die gefährdete Rationalität der Demokratie«)
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