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Für mehr Realismus in der Migrations- und Integrationsfrage

»Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und dem Bemänteln dessen, was ist.« Dieses Zitat stammt von Ferdinand Lassalle, einem der Gründerväter der Sozialdemokratie. Und es könnte aktueller nicht sein. Denn seine SPD hat diesen hier beschriebenen Realismus zum Teil verloren. Die Botschaft lautete: »Alles ist gut und alles wird besser«. Bestes aktuelles Beispiel für einen partiellen Realitätsverlust ist die Debatte um die Essener Tafel. Was war passiert? Die Essener Tafel hatte einen Aufnahmestopp für Ausländer verhängt. Aber welche ersten Reaktionen kamen dazu aus dem politischen Berlin, ja auch und gerade aus vielen SPD-Büros?

Von vielen SPD-Funktionären, von den postmodernen Grünen sowieso, aber auch von Angela Merkel, kam zunächst mal eher eine moralische Ermahnung. Warum beschäftigt man sich aber nicht oder nur selten mit den Hintergründen einer Entscheidung und setzt sich kaum mit den zugrunde liegenden Problemen auseinander? Das liegt an einem neuen postmodernen Bewusstsein in Teilen des SPD-Funktionärsapparats. Dieses Bewusstsein verhindert es, genau und empirisch nüchtern hinzusehen.

Das Grundproblem ist: Man ging als SPD seit Längerem nicht mehr dahin, »wo’s laut ist, wo’s brodelt, wo’s manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt«, wie es Sigmar Gabriel noch 2009 gefordert hatte. Stattdessen gab es eher eine Erfolgsrhetorik: Eigentlich sei doch alles sehr gut – man schaue nur auf die Arbeitslosenzahlen und die Konjunktur. Die Politik arbeite bestens und man müsse nur punktuell hier und da etwas besser verwalten. Mit der »sozialen Frage« oder eben den Problemen und Herausforderungen von Integration und Migration wollte man sich weniger beschäftigen.

Wo man jedoch noch viel zu tun habe, sei auf dem Feld der – politischen – Kultur. So beschäftigt man sich intensiv mit einer Wertedebatte, in der die drängendste politische Frage die zu sein scheint, wie man die gesellschaftliche Liberalisierung noch weiter treiben kann. So konnte es dazu kommen, dass nun ein Diskurs über Weltbilder die politische Debatte prägt – natürlich angefacht durch die Ideologie der Rechten, die wiederum selbst vor allem nur eine Weltbilddebatte führen. Dabei geht es eher darum, mit der jeweiligen Sicht auf die Welt Recht zu bekommen und unaufhörlich werden die Wähler/innen dann dazu aufgefordert, sich für eine Seite zu entscheiden – die der CSU und AfD oder die der liberalen Linken und der Liberalen von den Grünen bis zum Merkel-Flügel der CDU. Aber es verwundert nicht, warum es so gekommen ist.

Wer beispielsweise den Twitter-Kosmos für einen Ausdruck dessen hält, was die Menschen wirklich bewegt, der bekommt ein falsches Bild. Twitterer leben in einer Parallelwelt aus kurzen Soundbites. Dort wird die Komplexität einer politischen Diskussion auf ein kurzes »Like« oder »Dislike« heruntergebrochen. Man soll eben seine Seite wählen. So kommt es, dass der politische Diskurs eher von Identitätspolitik bestimmt wird: einer liberalen und einer rechten. Bei beiden geht es nicht um die Wirklichkeit, sondern um die Deutungshoheit, ja um die Diskursmacht. Mit aufklärerischer Politik, mit dem freien Räsonieren, dem ausgewogenen Urteil zum Wohle der Polis, ja mit der Suche nach den besten Lösungen für vorhandene Probleme der Wirklichkeit hat das nur noch wenig zu tun. Statt Aufklärung und freier Debatte gibt es Bemäntelung.

Neuestes Beispiel dafür ist die – fast reine politische – Kulturdebatte über Mesut Özil. Dem Eindruck kann man sich einfach nicht erwehren, dass man sich nur für A oder B entscheiden kann. Verteidigt oder kritisiert man ihn? Bestätigt man seinen Vorwurf des strukturellen Rassismus oder nicht? Die binäre Codierung des Diskurses schreitet zurzeit immer weiter voran. Die Räume für Differenzierung, Abwägung, freie Erörterung und den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (Jürgen Habermas) werden kleiner. Es drängt sich mehr und mehr das Gefühl auf: Man soll einfach seine Seite wählen.

Dieser Kulturkampf, denn nichts anderes ist es, in den wir zurzeit geraten oder eigentlich bereits geraten sind, minimiert aber den Blick dafür, worum es in dem Fall geht. Das Normative beginnt das Kommando zu übernehmen, die Empirie wird nebensächlicher. Mit der Analyse dessen, was ist, sollte Politik aber beginnen.

Mir scheint, dass es heute selbst dabei große Schwierigkeiten gibt, überhaupt zu definieren, was ein Problem ist und was nicht. Es scheint mir immer weniger Interesse daran zu geben, sich über die »Wirklichkeit« zu verständigen. Das mag nur mein subjektiver Eindruck sein – und kann darum auch nicht verallgemeinert werden –, aber nicht nur die Fake-News-Beschimpfungskaskaden von Donald Trump drücken aus, wie sehr viele Menschen nicht mehr hören wollen, was nicht in ihren Wertekosmos passt. Das ist eine äußerst negative Entwicklung – sofern man denn annimmt, dass diese Behauptung stimmt.

Nun sollten es gerade die Sozialdemokrat/innen sein, die von dem ausgehen, »was ist«. Mit ihrem eigenen postmodernen Bemäntelungsaktionismus tun sie hingegen oft genau das Gegenteil. Das ist nicht nur die größte Kommunikations- und Programmatikkrise der Sozialdemokratie in ihrer bisherigen Geschichte, die sie zurzeit deshalb erlebt, weil einfach zu viele ihrer Funktionäre von diesem Aktionismus gefangen gehalten werden. Dieser Bemäntelungsaktionismus ist zudem auch Ausdruck einer der größten Krisen, die die Demokratie als solche seit Langem durchlebt. Das muss sich ändern. Denn andernfalls profitieren nur die Rechtspopulisten. Und die SPD, ja man muss es so deutlich sagen, versinkt sonst in der Bedeutungslosigkeit.

Und nirgendwo wird die Notwendigkeit für mehr Realismus deutlicher als in der Migrations- und Integrationsfrage. Die SPD muss hier empirisch nüchtern davon ausgehen, was ist und darf dabei keine ideologischen Scheuklappen haben. Erste richtige Ansätze sind erkennbar: Andrea Nahles fordert einen »Realismus ohne Ressentiment«, möchte Humanismus und Realismus verbinden. Sigmar Gabriel hat sich unlängst ähnlich geäußert. Zunehmend wächst ein neuer Realismus in der SPD heran. Aber er hat noch längst keine Mehrheit. Noch hält eine postmodern-libertäre Hegemonie die SPD im Geist der Bemäntelung. Noch sind sehr viele SPD-Funktionäre im Grunde als links-libertäre Kulturkämpfer aktiv.

Gerade bei der Frage bzgl. Migration und Integration kann die SPD aber ihren Realitätssinn beweisen, der sie eigentlich immer ausgemacht und ausgezeichnet hat – eben bis zu ihrer neuen postmodernen Phase. Das drängendste Thema, dem sich die SPD hierbei widmen muss – und keine Partei ist prädestinierter dafür – ist die Frage der Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten.

Jeder vierte Geflüchtete hat laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zwar mittlerweile einen Job. Aber das ist eben nur ein Viertel. Es wäre naiv zu glauben, dass sich daran etwas ohne eine große »konzertierte Aktion« ändert.

Es ist Zeit für einen New Deal für Integration. Kommt dieser nicht, könnte Deutschland ein ähnliches integrationspolitisches Fiasko wie Frankreich erleben, wo sich strukturelle Perspektivlosigkeit für viele ehemalige Migranten mittlerweile verfestigt hat. Es wäre naiv darauf zu spekulieren, dass Syrien und der Nordirak bald wieder so sicher sind, dass viele von dort Geflüchtete wieder in ihre frühere Heimat zurückkehren können.

Große Integrationspolitik zu unterlassen, nur weil man auf etwas spekuliert, wird nach hinten losgehen. Jetzt ist die Zeit, aktiv zu werden und mehr Geld für Arbeitsmarktintegration der Geflüchteten auszugeben, um ihnen so eine Perspektive zu schaffen. Ansonsten droht uns eine Art Frankreich 2.0 und wozu das führt, darf oder muss man regelmäßig in den Medien zur Kenntnis nehmen. Es führt zu einer Frustentladung in heruntergekommenen Vorstädten und zu einer Absage der Migranten an ihre – neue – Heimat. Integration lässt sich nicht allein mit Sprache und Appellen leisten. Menschen brauchen handfeste Perspektiven, um »anzukommen«.

Wenn dabei eine Integration in normale Beschäftigung nicht sofort gelingt, muss man für Geflüchtete hier in Deutschland auch über einen »sozialen Arbeitsmarkt« nachdenken. Arbeit ist jedenfalls der Integrationsfaktor Nummer eins. Und wenn es eine Partei gibt, die das ernst nehmen sollte, dann ist es die SPD.

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