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Deutschland 68 und der (wahre) Soundtrack der Revolte Ganz neue Töne

»Die neue Rock-Musik entsteht bislang nur in den angelsächsischen Ländern (…). Niemand weiß, ob es jemals bei uns Gruppen oder Musiker geben wird, die aus dem Fahrwasser der vorfabrizierten Beatschnulzen herauskommen werden«. So vernichtend dieses Urteil des Musikmagazins Sounds im Herbst 1967 auch ausfiel, so realistisch bildete es die deutschen Zustände jener Zeit ab.

Während in England The Rolling Stones mit (I Cant Get No) Satisfaction und The Who mit My Generation bereits 1965 die ersten Hymnen der anbrechenden neuen Zeit schufen und progressive popkulturelle Impulse setzten, gab sich die deutsche Musikproduktion mit Schlagern und billigen Kopien englischer Beatmusik zufrieden. Was bis in die späten 60er Jahre aus deutscher Produktion kam, entsprach aber auch exakt dem inneren Zustand der damaligen Bundesrepublik: Nach Zweitem Weltkrieg und Holocaust war das Land moralisch völlig diskreditiert, die Städte weitgehend zerstört und die meisten Menschen hatten an Leib und Seele schweren Schaden genommen. Man sehnte sich daher nach Eskapismus, nach »Ruhe und Ordnung«, nach »heiler Welt« und unkritischem Herzschmerz. Schlagerbarden wie Roy Black, Peter Alexander oder der zwölfjährige Kinderstar Heintje (Mama, du sollst doch nicht um deinen Jungen weinen) erfüllten diese Wünsche und waren die Chartkönige von 1968.

Doch über zwei Jahrzehnte nach dem Ende des nationalsozialistischen Traumas stand auch in (West-)Deutschland eine junge Generation in den Startlöchern, die die Ängste und Verklemmtheiten ihres »defekten Elternhauses« (Der Spiegel, 39/1966) hinter sich lassen wollte. Aufgewachsen in einer Zeit des wirtschaftlichen Aufstiegs, in gesicherten Verhältnissen und ausgestattet mit einer guten Bildung wurde ein Teil der Mittelschichtjugend nun kritischer, aggressiver und kreativer, wollte »aus der Reihe tanzen« und – das vor allem – einen anderen Weg als die Eltern einschlagen. Und die Rahmenbedingungen dafür waren in der zweiten Hälfte der 60er Jahre günstig, denn in diesem kleinen Zeitfenster verdichteten sich Entwicklungen und Ereignisse politischer, gesellschaftlicher, kultureller und technischer Natur zu einem brisanten Mix, den es bis dahin nicht gegeben hatte und den es auch danach nie wieder geben sollte. Er setzte revolutionäre Prozesse in Gang und eröffnete neue Möglichkeitsräume, auch in der Kultur.

In den 60ern hatten viele Ältere noch keine »sichere innere Distanz« zum Nationalsozialismus, wie Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern konstatierten, und wurden daher nun von ihren Kindern nach ihrer Rolle im »Dritten Reich« befragt. Dazu kam die Ermordung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 in Berlin, das abscheuliche Massaker in My Lai am 16. März 1968 in einem zunehmend barbarischen Vietnamkrieg, die US-Bürgerrechtsbewegung und die Ermordung Martin Luther Kings am 4. April, das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968 sowie die Befreiungsbewegungen in der damals sogenannten »Dritten Welt« – all das politisierte nun auch mehr und mehr zuvor Unpolitische.

Zeitgleich globalisierten sich die Medien und bewusstseinserweiternde Drogen bahnten sich ihren Weg in die Gesellschaft. Es bildete sich eine komplexe kreativ-dynamische Umgebung heraus, die eine Gegenkultur beförderte und ihren Ausdruck in neuen Kunstbewegungen, alternativen Modetrends und neuen Wohnformen fand, die mit der Ablehnung klassischer Familienstrukturen einhergingen; alternative Buchläden und Szenemagazine entstanden (wie 1966 Sounds) und eine neue progressive und avantgardistische Rockmusik bahnte sich ihren Weg.

Initialzündung war das erste Rockfestival der Geschichte im Juni 1967 in dem kleinen kalifornischen Ort Monterey. Dieses Wochenende »markierte (…) einen Paradigmenwechsel. Es ebnete einer neuen musikalischen Sprache den Weg in den Mainstream« (Ernst Hofacker). Tanzbarkeit und Eingängigkeit waren von nun an für einen Teil des jungen Publikums unwichtig, die bis dato den Musikmarkt dominierende Single wurde von der Langspielplatte als Haupttonträger verdrängt. Bands, die hier auftraten – The Jimi Hendrix Experience, Canned Heat, Jefferson Airplane, Janis Joplin & Big Brother and the Holding Company, The Who, Greatful Dead und viele andere – schufen nicht nur den Soundteppich für den vielzitierten »Summer of Love« der Hippie- und Beatnik-Generation, sie veröffentlichten in den Jahren 1967/68 bahnbrechende Alben und dominierten die Rockmusik über viele Jahre.

Die Mehrheitsgesellschaft bekam nun also plötzlich ordentlich Gegenwind – und zwar auf mehreren Ebenen. Neben der kritischen Studierendenschaft, die auf gesellschaftliche und politische Veränderungen aus war, verwirrten sie auch die »euphorische Friedfertigkeit der Hippies wie die gleichmütige Passivität der Gammler« (Der Spiegel, 41/1967). Langhaarige Jugendliche, die sich nicht »anpassen« wollten, die »rumgammelten« und in der »großen Verweigerung« (Herbert Marcuse) den Gegenentwurf zu den Konsumenten und Karrieristen jener Zeit lebten. Trotz massiven Widerstands ließ sich dieses vielstimmige »Anti« nicht mehr beiseite drängen, denn selbst die weitgehend unpolitischen und angepassten Jugendlichen jener Zeit wollten ja »anders« als ihre Eltern leben. Zudem wurde Mitte der 60er Jahre – vor allem durch die weitgehende Erstarrung der Elterngeneration – erstmals in der Geschichte »die Jugend« zum Schrittmacher der gesellschaftlichen Entwicklung.

Mit einiger Verspätung kam Ende 1967/Anfang 1968 so auch Bewegung in die deutsche Rockmusikszene. Als erste gründete sich bei München die Rockkommune Amon Düül. Ihre experimentelle Musik war für alle Einflüsse offen, psychedelisch und avantgardistisch, schräg und dissonant. Die Gruppe wurde stilprägend für den ersten (und bisher wohl auch einzigen) originär deutschen Beitrag zur Entwicklung der internationalen Pop- und Rockmusik, die bald den Namen »Krautrock« erhielt.

Der Ursprung dieses Begriffs ist nicht eindeutig geklärt. Natürlich wurden Deutsche im angloamerikanischen Raum vor allem im Zweiten Weltkrieg pauschal als »Krauts« bezeichnet.

Die Band Amon Düül griff dies 1969 in ihrem Titel »Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf« ironisch auf und von da an fühlte sich die britische Musikpresse wohl dazu animiert, neu erscheinende Rock- und Popmusik aus (West-)Deutschland bis Mitte der 70er Jahre generell als »Krautrock« zu bezeichnen. Verband sich damit zunächst immer auch eine gewisse Missachtung gegenüber dem popmusikalischen Entwicklungsland Deutschland, so wuchs der Respekt bald spürbar an.

In den Folgejahren entstand so eine Fülle an neuen deutschen Bands: Can und Guru Guru (1968), Embryo und Epitaph (1969), Faust, Grobschnitt und Popol Vuh (1970), Karthago und Neu! (1971) sowie viele andere mehr. Die meisten sind heute einem breiteren Publikum kaum noch bekannt, ihr Einfluss aber reicht bis ins neue Jahrtausend hinüber. Die musikalische Abgrenzung fällt schwer. Bands wie die sehr erfolgreichen Tangerine Dream und Kraftwerk werden meist eher dem Electronic-Rock zugerechnet, andere wie Ton Steine Scherben eindeutig dem Polit-Rock. Dazwischen aber tummelte sich eine wilde, antiautoritäre und antikommerzielle Mischung kreativer Bands mit transnationalem Selbstverständnis. Keinesfalls wollten sie als spezifisch deutsch wahrgenommen werden und doch konnten damals in Deutschland gerade durch die vorangegangene Abschottung »Gewächse ganz eigener Art« gedeihen und »im Aufeinandertreffen von teutonischem Grübler- und entgrenztem Hippietum entstand etwas Urdeutsches, aber zugleich auch Authentisches« (DerTagesspiegel, 19.9.2010), das nun international Aufsehen erregte.

Die musikalischen Ansprüche klafften weit auseinander. Während Amon Düül 2 (ein Spaltprodukt von Amon Düül) eher Wert auf eine unverbildete »Jeder-kann-mitmachen-Kommunenmusik« (Jens Balzer) legte, waren die Mitglieder der Formation Can musikalisch umfassend ausgebildet, kamen aus der elektronischen Musik, dem Free-Jazz, Avantgarde- und Psychedelic-Rock sowie der Neuen Musik.

Der Oberbegriff »Krautrock« war also schwammig und verdeutlichte nur das Dilemma, einem neuen Phänomen einen Namen geben zu wollen, welches sich eigentlich nicht fassen ließ. Krautrock war ja gerade kein neues Genre, sondern die Bezeichnung für eine Phase der aus (West-)Deutschland stammenden progressiven Musik, die 1968 aufblühte und deren große Zeit schon ein Jahrzehnt später wieder vorbei war. Trotz ihrer Verschiedenartigkeit gilt aber für all diese Gruppen zumindest, dass man sich von angloamerikanischen Vorbildern lösen und etwas ganz Neues ausprobieren wollte. So entstanden recht experimentelle Kollektive, die sich oft in endlosen Improvisationen verloren. Holger Czukay, Mitgründer und Kopf von Can verwertete zudem Alltagsgeräusche und fremdländische Klänge und führte damit das später weitverbreitete Sampling in die Musik ein.

Daneben beförderten technische Entwicklungen die Entstehung neuer elektronischer Musik. So entwickelte Robert Moog Mitte der 60er Jahre die ersten Synthesizer, die etwa 1968 studiotauglich wurden und schnell zum Standardequipment vieler Krautrocker zählten. Allerdings sträubten sich auch viele gegen die neue Technik, galt sie doch gerade als Inkarnation der damals viel diskutierten »Entfremdung«. Zudem gab es in dieser Zeit einige wenige visionäre (und zum Teil umstrittene) Produzentenpersönlichkeiten wie Rolf-Ulrich Kaiser oder Conny Plank, die diese neue Musik maßgeblich förderten, meist auf eigenen Labels wie Pilz, Ohr oder Brain. Bei den großen Major-Labels jener Zeit wäre Krautrock eh nicht zum Zuge gekommen. Wichtig wurde in diesem Kontext zudem, dass sich nun die Funktion des Tonstudios wandelte. »Vom Ort purer Dokumentation avancierte es zu einem Werkzeug im kreativen Prozess – zum Klanglabor« (Christoph Wagner).

Krautrock war im Grunde unpolitisch, da zumeist instrumentell. Dennoch verorteten sich die meisten Gruppen als links, einige lebten selbst in Kommunen, Amon Düül hatte zudem enge Beziehungen zur Kommune 1 in Berlin. Man versuchte, nach kommunistischen Idealen zu leben (und scheiterte dabei oft), Geld spielte eine eher nebensächliche Rolle. Vieles entstammte der Eigenproduktion und wurde selbst vermarktet, denn zum einen gab es zu Beginn noch keine funktionierende Popindustrie, zum anderen lehnte man die Zusammenarbeit mit Vertretern des »Systems« ja ab. Die politische Linke betrachtete man wohlwollend, sah sich aber eher als Begleiter, denn als Treiber: »Den Linken muss man etwas Kultur in den Hintern schießen, sonst werden sie so trocken politisch«, so brachte Hansi Fischer, damaliger Flötist der Band Xhol Caravan, das Verhältnis auf den Punkt.

Der »Mythos 68« wäre ohne den kulturellen Input nicht denkbar gewesen und gerade die progressive Rockmusik hatte ihren Anteil an »unserer kleinen deutschen Kulturrevolution« (Gerd Koenen). Viele verbinden mit 68 zumeist Musik von Bob Dylan, Joan Baez und anderen internationalen Stars, assoziieren für Deutschland damit Namen wie Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader oder Dieter Süverkrüp, die explizit politische Lieder sangen. Den eigentlichen Soundtrack der Revolte in (West-)Deutschland lieferten hingegen die Krautrocker. Ihre Avantgardemusik brach mit den klassischen Mustern, musikalische Regeln und etablierte Songstrukturen wurden ignoriert. Es war im wahrsten Sinne des Wortes eine Anti-Musik, zum Teil »musikalischer Terror«, wie etwa der Musikmanager Siegfried Loch die Kompositionen von Amon Düül nannte, ein Urschrei und Befreiungsakt. »Wir wollten weg von der Tradition und weg von dem, was man uns beigebracht hatte«, sagte der 2017 verstorbene ehemalige Can-Frontmann Holger Czukay in einem Interview und fasste dabei nichts anderes in Worte als den Geist von 68.

Eine Reihe großer Rock- und Popkünstler und -bands wie Brian Eno, David Bowie oder Kanye West, Oasis, Radiohead und die Red Hot Chili Peppers beriefen sich später auf diesen Impuls, coverten Krautrock-Songs oder zitierten aus deren Fundus. International hatte diese Musik viele Fans, die meisten in Großbritannien. In Deutschland jedoch konnten sich nur wenige mit ihr anfreunden.

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