Der Streit um die Nachfolge der im September im Amt verstorbenen Richterin am US Supreme Court Ruth Bader Ginsburg hat in aller Deutlichkeit gezeigt, wie politisiert der Oberste Gerichtshof in den Vereinigten Staaten geworden ist. Als im Wahljahr 2016 der konservative Richter Antonin Scalia plötzlich verstarb, eröffnete dies Barack Obama die Möglichkeit, durch Nominierung eines Richters seiner Wahl die seit Anfang der 70er Jahre bestehende konservative Mehrheit im Supreme Court zugunsten der Demokraten zu verändern. Um die notwendige Bestätigung für seinen Kandidaten im republikanisch dominierten Senat sicherzustellen, wählte er mit Merrick Garland einen konsensfähigen Juristen aus, der drei Jahre zuvor bei seiner Nominierung für das wohl wichtigste Bundes-Revisionsgericht, den D. C. Circuit Court of Appeals, eine parteiübergreifenden Mehrheit von 76:23 Stimmen im Senat gefunden hatte.
Befürchtend, dass sich auch bei der Abstimmung über seine Nominierung zum Supreme Court genügend republikanische Senatoren bereitfinden würden, ihn zu unterstützen, verfiel der republikanische Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, auf eine Strategie, die Nominierung des Obama-Kandidaten dennoch zu verhindern. Der Vorsitzende des Justizausschusses, Chuck Grassley, weigerte sich schlicht, Garland im Justizausschuss überhaupt anzuhören. Als Argument für diese Verweigerung wurde vorgebracht, dass es dem Präsidenten in einem Wahljahr nicht möglich sein solle, noch eine Lebenszeiternennung zum Obersten Gericht vorzunehmen. Vielmehr solle stattdessen das amerikanische Volk über die Wahl seines neuen Präsidenten darüber mitbestimmen können. Bei den Demokraten erzeugte dieses Verhalten natürlich böses Blut. Entgegen aller Erwartung konnte Donald Trump die Wahl zum Präsidenten trotz eines Rückstands von fast drei Millionen Stimmen gegenüber Hillary Clinton mittels des unegalitären Electoral College für sich entscheiden. Da die Demokraten zudem im Senat weiterhin in der Minderheit verharrten, blieb ihnen als einzige Option, den von Trump als Nachfolger Scalias nominierten, extrem konservativen Neil Gorsuch, zu verhindern, im Senat gegen ihn zu filibustern. Trump drängte aber von vornherein darauf, das Recht des Filibusterns von Supreme-Court-Richtern abzuschaffen, um so seinen Kandidaten trotz demokratischen Widerstands durchboxen zu können. Mehrheitsführer McConnell setzte diesen Wunsch um, und Gorsuch wurde mit einer 54:45-Mehrheit bestätigt, welche unter der früher notwendigen Schwelle von 60 Stimmen für die Beendigung eines Filibusters lag. Für die Demokraten war dies eine doppelte Niederlage. Einerseits war ihnen ein Richter durch die Weigerung des Senats, Obamas Kandidaten anzuhören, vorenthalten worden. Andererseits war ihnen auch die Möglichkeit genommen worden, auf einen gemäßigten Kandidaten zu dringen. Mit der Berufung Gorsuchs und der bald darauf folgenden von Brett Kavanaugh, eines weiteren jüngeren Konservativen, als Nachfolger des zurückgetretenen liberal-konservativen Richters Anthony Kennedy konnten die Republikaner ihre Mehrheit im Gericht stabilisieren.
Ausweitung der konservativen Mehrheit
Als Ginsburg nun ein gutes halbes Jahr später in einem Wahljahr als zuvor Scalia starb, hätte man nach dem vier Jahre zuvor von den Republikanern propagierten Prinzip eigentlich erwarten dürfen, dass nun, nur knapp zwei Monate vor einer Präsidentschaftswahl, die Ernennung eines Nachfolgers erst Recht dem neu zu wählenden Präsidenten überlassen werden müsse. Die Republikaner warteten aber nicht einmal die Beisetzung Ginsburgs ab, um anzukündigen, dass sie den freigewordenen Richtersitz umgehend besetzen wollten. Die Verlockung, mit einer 6:3-Mehrheit nun endgültig die konservative Ausrichtung des Gerichts für die kommenden Jahrzehnte zu sichern, war zu groß, zumal bei diesen Mehrheitsverhältnissen auch ein gelegentliches Überschwenken eines Richters ins liberale Lager, wie das des Chief Justice John Roberts bei der Aufrechterhaltung von Obama Care, zu verkraften wäre. Die Heuchelei angesichts der Argumente, mit denen man Obamas Kandidaten vier Jahre zuvor verhindert hatte, lag auf der Hand, auch wenn McConnell erklärte, der Unterschied bestehe darin, dass diesmal der Präsident und die Senatsmehrheit von der gleichen Partei gestellt würden. Anders ausgedrückt, diesmal hatten die Republikaner die Macht, ihr selbst aufgestelltes Prinzip zu durchbrechen. Obwohl zwei republikanische Senatorinnen die neue Parteilinie nicht unterstützen wollten, gab es immer noch eine verlässliche republikanische Mehrheit im Senat von 51 Mitgliedern. Die von Trump vorgeschlagene, äußerst konservativ-katholische Kandidatin Amy Coney Barrett wurde in Rekordzeit unter Abweichung von allen oder Umgehung aller parlamentarischen Gepflogenheiten mit einer 52:48‑Mehrheit durch den Senat gepeitscht. Trump hatte erfolgreich darauf gedrungen, dass dies noch vor den Wahlen geschehe, um im Falle eines umstrittenen Wahlausgangs im Hinblick auf diesbezügliche Rechtsstreitigkeiten über eine zusätzliche ihm gewogene Stimme im Supreme Court zu verfügen.
Die lange Geschichte der Politisierung
Die bei diesem Verhalten der Republikaner sichtbare Politisierung des Obersten Gerichts hat damit einen Höhepunkt erreicht. Von Konservativen wird oft darauf verwiesen, dass die Demokraten für diese Entwicklung selbst verantwortlich seien. Alles habe damit begonnen, dass sie im Jahre 1987 Ronald Reagans Kandidaten, den rechtskonservativen Robert Bork, aus politischen Gründen blockierten. Das war aber keineswegs der eigentliche Beginn der Politisierung des Gerichts. Als Präsident Franklin D. Roosevelt Mitte der 30er Jahre die Weltwirtschaftskrise mit seinem New Deal, der Gewerkschaften und Arbeitnehmern neue Rechte einräumte, hatte überwinden wollen, sah er sich einem Supreme Court ausgesetzt, der viele seiner Vorhaben torpedierte. Roosevelt wurde es schließlich zu bunt und er kündigte an, die Macht der von seinen Vorgängern ernannten konservativen Richter zu brechen. Für jeden der – auf Lebenszeit ernannten – Supreme Court-Richter, der 70 Jahre alt werde und nicht zurücktrete, sollten zwei zusätzliche Richter ernannt werden. Dieser sogenannte court-packing plan, der insoweit rechtlich zulässig schien, als die Verfassung die Anzahl der Obersten Richter nicht auf neun festschreibt, löste bei den Republikanern helle Empörung aus. Nachdem dann aber einer der in der konservativen Mehrheit befindlichen Richter in einer wichtigen Entscheidung die Seite wechselte und von da an die New Deal-Politik Roosevelts vom Gericht nicht mehr behindert wurde, ließ dieser seinen Plan fallen (»The switch in time that saved the nine.«).
War der Supreme Court in seiner Geschichte fast durchweg Bewahrer einer konservativen Weltanschauung gewesen, der mit seinen Entscheidungen lange Zeit die Sklaverei unterstützte und nach Abschaffung derselben die Rassentrennung und die Diskriminierung der Schwarzen in den Südstaaten sanktionierte, leitete der (republikanische) Chief Justice Earl Warren in den 50er Jahren eine kurze progressive Ära des Gerichts ein, für die besonders die Entscheidung in den Brown v. Board of Education bezeichneten Fällen steht, mit der 1954 die Rassentrennung in Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde. Es folgten unter anderem Entscheidungen, mit denen obligatorische Schulgebete als Verstoß gegen die Religionsfreiheit gewertet und Beschuldigten in Strafverfahren verstärkter Rechtsschutz zugestanden wurde. Da der 77‑jährige Chief Justice Warren befürchtete, Richard Nixon werde die nächste Wahl gewinnen, machte er seinen Sitz frei, um dem amtierenden demokratischen Präsidenten Lyndon B. Johnson die Berufung eines liberalen Nachfolgers auf seinem Richtersitz und gleichzeitig die Ernennung eines neuen liberalen Chief Justice zu ermöglichen. Letzteres sollte nach Johnsons Vorschlag der mit ihm befreundete, bereits dem Gericht angehörende Abe Fortas sein. Im Senat bildete sich aber eine Phalanx aus Republikanern und konservativen Südstaaten-Demokraten, denen die liberale Rechtsprechung des Gerichts zuwider war und die Fortas’ Ernennung zum Chief Justice filibusterte. So kam es während Johnsons Amtszeit nicht einmal mehr zur Ernennung eines Nachfolgers auf Warrens Richtersessel, und der bei der Präsidentschaftswahl siegreiche Nixon konnte einen Richter seiner Wahl berufen. Die weiterhin vorhandene liberale Mehrheit im Supreme Court wurde endgültig gebrochen, als Nixon, der auf die Gewinnung einer konservativen Mehrheit im Obersten Gerichts fixiert war, mittels einer Schmutzkampagne Fortas zum Rücktritt nötigte. Zum Teil mit Unterstützung von FBI-Chef J. Edgar Hoover, der diese sogar abhören ließ, versuchte Nixon in der Folge – allerdings erfolglos –, auch andere liberale Richter aus dem Amt zu drängen.
Ironischerweise war es im Jahre 1973 dann ausgerechnet der von Nixon ernannte konservative Harry Blackmun, der die die Abtreibung in den USA liberalisierende 7:2(!)-Entscheidung »Roe v. Wade« verfasste, die besonders Christlich-Konservative seitdem hypnotisiert hält. Für viele von ihnen ist die Aussicht, dass ein republikanischer Präsident Richter ernennen werde, die »Roe« überstimmen würden, eine wesentliche Motivation bei der Präsidentschaftswahl. Die Republikaner verstanden es in den folgenden Jahrzehnten weit besser als die Demokraten, ihren Anhängern deutlich zu machen, von welchem Gewicht das Oberste Gericht für die politische Ausrichtung des Landes ist. Sie tarnten dies mit dem Mantra, dass Richter die Verfassung ganz unpolitisch so zu interpretieren hätten, wie sie geschrieben sei, und keine Verfassungsfortbildung betreiben dürften. Dass es den Republikanern trotz dieser Behauptung nicht um die Neutralität der Rechtsprechung, sondern um die Gewährleistung einer konservativen Ausrichtung des Landes durch das Gericht geht, wurde niemals so deutlich wie bei Trump, der versprach, er werde nur solche Richter ernennen, die Abtreibungsgegner seien.
Eine aktivistische konservative Justiz
Tatsächlich nutzt die konservative Mehrheit des Obersten Gerichts ihre Position seit langem zur Korrektur gesetzgeberischer Entscheidungen und zur Implementierung eigener Wertvorstellungen. So wurde die lange Zeit parteiübergreifend unterstützte Wahlkampfkostenbegrenzung vom Gericht als Verstoß gegen die im First Amendment garantierte Meinungsfreiheit gekippt. Einen Verstoß gegen die Meinungsfreiheit sahen die konservativen Richter ebenso darin, dass auch nicht organisierte Arbeitnehmer in manchen, nicht nur demokratischen Bundesstaaten durch Gesetz gezwungen waren, der Gewerkschaft einen Obolus für die Aushandlung eines auch für sie vorteilhaften Tarifvertrages zu entrichten. Das Gericht erkannte dem Eigner einer Kapitalgesellschaft ein aus der Religionsfreiheit des Ersten Zusatzartikels abgeleitetes Recht zu, im Rahmen der Krankenversicherung seinen Arbeitnehmerinnen keine Verhütungsmittel mitfinanzieren zu müssen. Der zweite Zusatzartikel der Verfassung, traditionell nur als Garantie eines kollektiven Rechts auf Waffenbesitz verstanden, wurde nach jahrelangem Lobbying der National Rifles Association in ein Recht auf individuellen Waffenbesitz umgedeutet. Vom Kongress erst kurz zuvor mit breiter überparteilicher Mehrheit reautorisierte Bestimmungen aus dem in den 60er Jahren verabschiedeten Voting Rights Act, denen zufolge frühere Sklavenstaaten ihre Wahlgesetze nur ändern durften, nachdem das Justizministerium festgestellt hatte, dass mit dieser Änderung das Wahlrecht der Schwarzen nicht beeinträchtigt werde, wurden von einer konservativen Richtermehrheit für verfassungswidrig erklärt. Dies geschah mit dem Verweis auf ein in der Verfassung nicht niedergelegtes Prinzip der Gleichheit der Bundestaaten und der durch nichts Faktisches belegten Behauptung, es gebe in den USA keinen wirklichen Rassismus mehr. In aller Regelmäßigkeit urteilte das Gericht – teilweise unter klarer Missachtung des gesetzlichen Wortlauts – gegen Arbeitnehmer und Konsumenten, und ließ es zu, dass Republikaner den Zuschnitt der Kongresswahlkreise zu ihren Gunsten manipulierten. Der offensichtlichste Fall eines parteiischen Urteils war dabei im Jahre 2000 die Entscheidung »Bush v. Gore«, mit dem eine konservative 5:4‑Mehrheit des Gerichts die Stimmenauszählung in Florida stoppte und damit George W. Bush zum Wahlsieg verhalf.
Erst in den Anhörungen von Barrett haben die Demokraten wirklich begonnen, den Bürgern vor Augen zu halten, welche Konsequenzen mit der zunehmenden Rechtslastigkeit des Supreme Court für sie konkret verbunden sind. Eine davon ist, dass die gegenwärtig im Gericht anhängige, von republikanischen Gouverneuren mit Unterstützung von Trump betriebene zweite Klage gegen Obama Care von Erfolg gekrönt sein könnte. Millionen Amerikaner würden ihre Krankenversicherung verlieren oder hinsichtlich ihrer Vorerkrankungen, evtl. auch COVID-19, nicht mehr versichert sein.
In ihrer ersten Empörung über das Verhalten der Republikaner bei der Nachfolge Ginsburgs wurden demokratische Stimmen laut, Joe Biden solle, falls er die Präsidentschaft und die Demokraten die Senatsmehrheit gewönnen, zusätzliche Supreme Court-Richter ernennen, um das illegitim zustande gekommene Übergewicht der Republikaner im Gericht auszugleichen. Noch ist solch eine Verfahrensweise in der Bevölkerung aber unpopulär und Biden hat, wohl auch, um im Hinblick auf seine Wahl nicht einen unnötigen Nebenkriegsschauplatz zu ermöglichen, die Erwartungen in dieser Hinsicht zurückgeschraubt. Vielleicht wirkt sich aber bereits der Hinweis auf die Möglichkeit eines court-packing wie damals bei Roosevelt mäßigend auf den Aktivismus der konservativen Richter aus. Dieses Mittel stünde – so die Demokraten irgendwann die Senatsmehrheit errängen – darüber hinaus immer noch zur Verfügung, falls das Gericht wichtige populäre Vorhaben torpediert, und könnte dann vielleicht gestützt auf die Zustimmung einer Mehrheit der Wähler eingesetzt werden. Eine andere Idee, die von progressiven Juristen lanciert wird, ist, dass man die Jurisdiktion der Gerichte in einigen Bereichen beschneiden oder für die Normenaufhebung eine qualifizierte Mehrheit verlangen könnte, ein durchaus zweischneidiges, aber im Rahmen der Verfassung, die, anders als das deutsche Grundgesetz, keine ausdrückliche Rechtsweggarantie enthält, wohl zulässiges Schwert.
Dessen ungeachtet hat der Streit um die Ginsburg-Nachfolge deutlich werden lassen, dass das System der Richternennungen in den USA höchst problematisch ist. Was legitimiert eine Partei, die in den letzten acht Präsidentschaftswahlen nur zweimal die Mehrheit der insgesamt abgegebenen Stimmen erreicht hat, das Oberste Gericht auf Jahrzehnte hin – und wohl für lange Zeit mit einer Zweidrittelmehrheit – zu dominieren? Und dies ist nicht einmal das gesamte Bild, denn nachdem ein republikanischer Senat über Jahre Obamas Ernennung von Bundesrichtern obstruiert hatte, war Trump in der Lage, auf allen Ebenen der Bundesgerichtsbarkeit eine niemals zuvor dagewesene Zahl von freien Richterstellen zu besetzen, wobei politische Willfährigkeit ausschlaggebend war, Qualifikation und Unabhängigkeit aber eine untergeordnete Rolle spielten. Und wieso sollen Richter auf ihren Stühlen sitzen bleiben dürfen, bis sie tot von ihnen herunterfallen? Selbst bei einer so verdienstvollen und bis ins hohe Alter scharfsinnigen Richterin wie Ruth Bader Ginsburg ist die Frage berechtigt, warum sie nicht fünf Jahre früher – im Alter von 82 (!) Jahren – ihren Sitz zur Verfügung gestellt und damit Obama ihre Ersetzung durch eine jüngere Person ermöglich hat. So werden die Demokraten, auch wenn sie bei Wahlen politisch erfolgreich sein sollten, wohl noch über Jahrzehnte befürchten müssen, dass eine aktivistische konservative Richterschaft ihre gesetzgeberischen Pläne durchkreuzen kann, sei es bei der Gesundheitsreform, bei der Waffenkontrolle, oder im Umwelt- und Konsumentenschutz.
(Dieser Beitrag ist meinem am 25. Oktober 2020 unerwartet verstorbenen Freund, Thomas Oppermann, Vizepräsident des Deutschen Bundestags, gewidmet.)
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