Visionen dienen Demokratien ja normalerweise als Antriebskraft. Extremist*innen aber, die außerhalb des demokratischen Diskurses versuchen, ihre »Visionen« von einer Gesellschaft der Zukunft durch Einschüchterung, Bedrohungen oder Gewalt durchzusetzen, werden zu einer wachsenden Gefahr für Demokratien.
Dabei werden Vermischungen verschiedener Extremismen zu einem zunehmend zentraleren Merkmal: der fließende Übergang von nationalen und internationalen Bedrohungen; das Verschwimmen von Ideologieversatzstücken eigentlich ganz unterschiedlicher extremistischer Gesinnungen sowie die Instrumentalisierung von Protestbewegungen durch Extremist*innen. So entstehen neue Extremismusformen, die kaum greifbar sind und deren Kategorisierung schwerer fällt als bisher.
Seit einigen Jahren zeichnet sich also eine immer deutlicher werdende internationale Vernetzung der rechtsextremen Szene ab. Lange definierten sich rechtsextreme Akteur*innen vor allem über ihre Zugehörigkeit zum eigenen Nationalstaat und benannten in ihrer Ideologie vorwiegend nationalistische Ziele. Nun orientieren sich auch Ideologie, Kollaboration sowie Rekrutierungs- und Ausbildungs-Taktiken zunehmend transnational. Soziale Medien, ob öffentlich oder verschlüsselt, bieten hierfür kostengünstige und effiziente Wege des Austauschs.
Bezüglich der Ideologie ist es zunächst wichtig zu verstehen, dass das Konzept einer Nation bei Rechtsextremist*innen mittlerweile anders gedacht wird, als im historischen Sinne. Die Historikerin Kathleen Belew beschreibt dieses Phänomen in einem Report des CTC Sentinel so: »Die Nation, die im Mittelpunkt des weißen Nationalismus steht (…) ist die arische Nation, die als transnationales weißes Gemeinwesen gedacht ist«.
Als Beispiele für die zunehmende Internationalisierung des Rechtsextremismus nennt Friederike Wegener, Fachreferentin der Europäischen Kommission, folgende drei Aspekte:
Erstens nehmen rechtsextreme Akteur*innen weltweit aufeinander Bezug. Terroristen, wie die Attentäter von Christchurch, El Paso in Texas, oder Halle sehen beispielsweise in Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, ein Vorbild, auf dessen Manifest nicht selten Bezug genommen wird.
Zweitens finden sich immer wieder Bezugnahmen auf die rechtsextreme Verschwörungstheorie vom »großen Austausch«, die in Frankreich ihren Ursprung hat. Es geht hierbei um die Vorstellung, dass die »weiße Rasse« gezielt durch Migrant*innen ausgetauscht werde; oftmals sprechen Rechtsextremist*innen dabei von einem »weißen Genozid«. Diese gemeinsame Ideologie eint Rechtsextremist*innen aus Europa, Nordamerika und Australien.
Drittens beobachtet man das Phänomen der »Gamification«. Es gibt Online-Communities, die Ranglisten für sogenannte Shooter aufstellen und diejenigen feiern, die die höchste Anzahl an Menschen umbringen. Dies trägt folgerichtig dazu bei, dass sich eine internationale Gemeinschaft gegenseitig anstachelt.
Auch hinsichtlich der Taktik und Ausbildung sowie der Radikalisierung zeichnen sich internationale Tendenzen ab. Beispielsweise reisten vor einigen Jahren Deutsche aus der rechtsextremen Szene als Kämpfer*innen in die Ukraine, erhielten dort als Teil des rechtsextremen Azov-Batallions neben politischer Indoktrination auch Kampferfahrung und lernten nicht zuletzt den Umgang mit Waffen.
Zudem ist der Zugang zu Waffen für Extremist*innen heute deutlich einfacher geworden. Der Halle-Attentäter etwa, der nach einem gescheiterten Angriff auf eine Synagoge wahllos zwei Menschen ermordete, baute seine Waffe selbst, indem er Anleitungen aus dem Internet sowie einen 3D-Drucker nutzte. Auch wenn die Waffe nicht einwandfrei funktionierte, so zeigte er doch, dass dieser Weg der Waffenbeschaffung möglich ist – und inspiriert möglicherweise Nachahmer*innen.
Verschwimmen von Ideologieversatzstücken
Neu sind schließlich sogenannte »Salatbar«-Extremismen (Salad Bar Ideology), wie der FBI-Direktor Christopher Wray dieses Phänomen vor dem Senate Homeland Security Committee der USA bezeichnete: Individuen oder Gruppierungen wenden sich Ideologien zu, die sich überlappen, aufeinander aufbauen, sich manchmal aber auch widersprechen. Teilweise bauen sie sich aber auch ihre eigenen Ideologien aus Versatzstücken zusammen und erstellen eigene Weltbilder.
Die bereits erwähnten Attentäter von El Paso und Christchurch bezeichnen sich beispielsweise selbst als Öko-Faschisten. Um die Idee des Öko-Faschismus ist in den letzten Jahren eine erstarkende Online-Community entstanden, die rassistische »Blut-und-Boden«-Ideale mit vermeintlichen Umweltschutzzielen kombiniert. Ihre Anhänger*innen machen vor allem Jüd*innen, Migrant*innen und Einwohner*innen des globalen Südens für den Klimawandel verantwortlich, geben sich entsetzt über hohe Geburtenraten bei »Nicht-Weißen« und plädieren für deren Vernichtung oder Vertreibung.
Wie die Soziologin Cynthia Miller-Idriss erklärt, geht es Ökofaschisten also nicht »um den Erhalt der Umwelt für alle, sondern nur für die ›weiße Rasse‹«. Ging man vor einigen Jahren davon aus, dass Rechtsextreme eher Klimaleugner*innen sind, so entdecken sie zunehmend die ehemals vor allem von Linken dominierten Themen für sich. Besonders Extremismusformen, deren Grundannahmen, etwa dass Umwelt schützenswert sei, in der breiten Gesellschaft bekannt und akzeptiert sind, deren Ableitung, Gewalt gegen ›Nicht-Weiße‹ sei in Ordnung aber extremistisch ist, haben oftmals aufgrund eines Camouflage-Effektes eine größere Anschlussfähigkeit in der Gesellschaft, wodurch die Gefahr für die Demokratie gesteigert wird.
Eine weitere Gesinnungsvermischung findet zwischen Rechtsextremen und der Incel-Bewegung statt. Incel ist eine Abkürzung für »Involuntary Celibats« und bezeichnet meist junge Männer, denen eine sexuelle Beziehung zu einer Frau verwehrt bleibt, obwohl sie glauben, ein Anrecht darauf zu haben. In ihrer Weltansicht liegt dies daran, dass Frauen sich in der Regel nur für konventionell attraktive Männer interessieren, Incels aber aufgrund ihres biologisch gegebenen Aussehens, ihrem niedrigeren Status in der Gesellschaft und der evolutionär bedingten Art, wie Frauen ihre Partner*innen auswählen, dazu keinen Zugang haben.
Auf Onlineforen bestärken sie sich in ihrem Hass gegen Frauen, der oftmals auch antisemitische oder rassistische Züge enthält, gegenseitig und finden dadurch mit dem rechtsextremen Spektrum einen gemeinsamen Nenner. Laut der britischen Tagesszeitung The Guardian wurden bisher mehr als 50 Personen von Attentätern umgebracht, die der Incel-Bewegung verbunden waren.
Weitere Beispiele im Bereich der Vermischung von Ideologien beinhalten rechtextreme Gruppen, die Führer-Figuren von Al-Qaida verehren, oder sich taktische Informationen aus dschihadistischen Webforen suchen, beispielsweise Anleitungen zum Bombenbau.
Insgesamt erschweren solche verschwimmenden Grenzen verschiedener Extremismen also sowohl die De-Radikalisierungsarbeit als auch die Bekämpfung von Terrorismus und Extremismus, da ideologische Muster nicht klar zu erkennen sind und Radikalisierung meist in fragmentierten Onlineforen stattfindet.
Eine wehrhafte Demokratie muss sich dieser neuen Gefahren schädlicher »Visionen« bewusst sein, um ihnen effektiv begegnen zu können Dazu braucht es Gefahrenanalysen für extremistische Akteur*innen sowie bessere, internationale Kommunikationsstrategien auf institutioneller Ebene, denn der bloße Blick auf Deutschland scheint heutzutage nicht mehr ausreichend zu sein.
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