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© picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Kahnert

Wahlkampf nach Corona, oder: Wie Politik dabei ist, sich zu verändern Gefühlsfrage in einem zu stillen Land

Politisch liegt eine seltsame Ruhe über dem Land. Die Menschen bevölkern wieder die Gartenlokale, der Sommer hebt die allgemeine Stimmung, der Tagesstreit interessiert nicht wirklich. Wer zur Begrüßung gefragt wird, wie es denn so geht, antwortet mit dem Impftermin. Kaum echte Aufgeregtheit, nirgends. Auch in Sachsen-Anhalt nicht, wo kurz vor den Ferien nochmal Abstimmung war.

Das sollen Wahlkampfzeiten sein? Unbestreitbar ja, nur ganz andere als gewohnt. Es ist Wahlkampf, aber ohne das, was man früher unter Wahlkampf verstand: Veranstaltungen, Hausbesuche, Begegnung mit Überzeugungsversuch. Was im Internet passiert, ist anders. Abstrakter oft, blasengefährdeter sowieso. Indirekter, inszeniert durch Dienstleister. Oft allzu bemüht um ausgedachte Lebensnähe, richtig zündend aber nie – außerhalb der Netzwelt.

Es ist immer noch Pandemie, was nicht nur Doppeltgeimpfte inzwischen gerne verdrängen. All die Stimmungsdämpfungsbehörden mahnen weiter zur Vorsicht. Und dem teilweise zurückgewonnenen analogen Leben fehlt ja tatsächlich noch weithin, was früher dazugehörte: Gesellschaftlichkeit. Jetzt also erst mal Sommerurlaub, danach folgt für viele gleich die Briefwahl. Dann Ende September, bitte im Kalender schon mal vormerken: politische Zeitenwende nach 16 Jahren Angela Merkel. Wende wohin? Ach ja. Mal sehen. So ist die Lage.

Im Grunde passt auch das Sachsen-Anhalt-Wahlergebnis von Anfang Juni zu dieser distanzierten allgemeinen Grundstille. Nachdem medial – mangels sonstiger Spannung – ein weiterer Aufstieg der AfD an die Wand gemalt worden war, reagierte das Wahlvolk mit der Stärkung des Amtsinhabers in Magdeburg. Eines Mannes, der so weit weg ist von den realen Machtnetzwerken der Republik, dass am Wahlabend sogar noch manche Parteifreunde seinen Nachnamen falsch aussprachen. Der nun aber für ein paar Tage als großer Stratege galt, nur weil er es geschafft hat, in seiner persönlichen Abgrenzung nach Rechtsaußen einigermaßen glaubhaft zu bleiben.

Was nun also Bodo Ramelow, Malu Dreyer, Winfried Kretschmann und besagten Reiner Haseloff (nicht: Hasselhoff) verbindet: Sie vermitteln den Leuten zu Hause nach einem Jahr Corona-Unsicherheit das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. Mit parteipolitischer Linie hat das ersichtlich eher wenig zu tun, mit Sehnsucht nach Stabilität ersichtlich viel. Und jetzt folgt das große Paradoxon der jüngeren Republikgeschichte: Ausgerechnet in solcher Lage muss und wird es im Bund einen neuen Anfang geben. Geführt durch wen auch immer.

Nun sind auf der Bundesebene seit Monaten schon die Grünen das, was die AfD in Magdeburg war: das Spekulationsobjekt. Hoch bewertet von den Demoskopen, stark hofiert in der Medienwelt, hochgespielt zu den ernsthaftesten Konkurrenten der Union um die Führung des Landes. Aber dann doch wieder Zweifel: eine irritierend unerfahrene bis tapsige Kanzlerkandidatin, ein außenpolitisch irrlichternder Parteichef mit romantischer Verklärung von Waffenlieferungen nach Kiew. Und der klassische grüne Anfängerfehler, höhere Benzinpreise als Projekt ins Schaufester zu stellen.

Parteibindungen werden schwächer

Die Grünen als Partei des guten Gewissens, deren konkrete Programmvorschläge lange nicht so ganz für bare Münze genommen wurden, weil man von ihnen so ganz konkret die Führungsrolle denn doch nicht erwartet: Im Westen der Republik ist das ein Erfolgsmodell gewesen. Sachsen-Anhalt zeigt nun, dass am Ende aber der Osten die schwarz-grüne und erst recht die grün-schwarze Fantasie noch gehörig durcheinander bringen kann. Nur Platz sechs für die Grünen im neuen Landtag von Magdeburg. Es ist nicht das erste Mal, dass sie, als Favoriten gestartet, nach näherem Hinsehen plötzlich zusammenschrumpfen. Vor zehn Jahren schon war es in Berlin so – damals mit Renate Künast als Kandidatin fürs Rote Rathaus. Ein paar Patzer, die Leute schauten plötzlich genauer hin. Und wandten sich ab.

Es gibt zu solchen schnellen Wendungen eine schon in die Jahre gekommene These: Die Parteibindungen werden schwächer. Die These ist richtig, aber sie erklärt bestenfalls zur Hälfte, was gerade passiert (bzw. nicht passiert). Tatsächlich schwanken die Leute nicht nur mehr als früher zwischen den Parteipräferenzen, sondern sie halten von Parteipräferenzen generell nicht mehr viel. Sie wählen bewusst situativ, früher hätte man gesagt: taktisch.

Mit Corona sind nun ganz zentrale Politikfelder wie aus dem Spiel genommen. Ökonomie und Soziales vor allem, dank massiver Staatshilfen, auf Pause gestellt. Mit ihnen dann aber auch die Debatte darüber, das Problembewusstsein, die Suche nach Zukunftswegen. Überhaupt führt Corona noch mehr zu einer reinen Gegenwartsfixiertheit in der Politik, verstärkt damit den ohnehin bestehenden Trend. Erst mal den Tag bewältigen, die Woche, den Monat. Lange Linien? Nachrangig. Und damit immer öfter – scheinbar – wahlirrelevant.

Haseloff wählen, damit die AfD nicht vor der CDU liegt. Laschet womöglich, damit die Grünen nicht die Republikführung übernehmen können. Oder Scholz aus dem gleichen Grund – und dass Kontinuität sein möge in der Bundesregierung. Oder doch Grüne (oder Scholz), damit der pomadige Laschet nicht Kanzler wird. Eine ziemlich unpolitische Betrachtung, die Dinge so zu sehen? Früher hätte man es so genannt. Heute, ob man das nun mag oder nicht, sehen so die Motivlagen aus. Was keine gute Nachricht sein kann für die inhaltliche Diskursfähigkeit der Republik.

Die Bundestagswahl droht darüber zu einer gefühligen Vertrauensabstimmung neuer Art zu werden. Eine ohne Titelverteidiger/in, das alleine verlässt schon die gewohnten Bahnen und macht die Erfahrung der zurückliegenden Landtagswahlen wertlos, dass momentan stets die Amtsinhaber/innen siegen. Die erste große Wahl nach der Pandemie auch, durch die das Parteiensystem bislang recht unberührt blieb. Hinzu kommt, das zeigen Sachsen-Anhalt und die anderen Frühjahrswahlen sehr klar, eine weitere Verschiebung der gewohnten Wahrnehmungsweisen gegenüber der Politik schlechthin.

Zuletzt gab es nur ein Thema, das den Leuten an die Seele ging: die Pandemie und der Weg raus aus ihr. Es hat die Gesellschaft zwischenzeitlich stark polarisiert. Aber es ließ sich meist nur quer zu den traditionellen Lagern parteipolitisch zuordnen. Es überdeckte, dass alles, was sonst klassisch mit Politik verbunden wird, nach hinten tritt: Gruppeninteressen jenseits der temporären Ausgleichszahlungen, Zukunftsdebatte, Suche nach neuen Wegen, Streit über die Richtung bei den großen Themen. Auch Politik droht darüber so etwas zu werden wie ein virtuelles Spiel, ohne unmittelbar Teilnehmende oder auch nur in der Arena selbst Zuschauende. Verfolgt von fern.

Zum Megathema Corona versuchten die AfD auf der Rechten und mittlerweile die FDP im bürgerlichen Spektrum, den verbreiteten Unmut über die staatlichen Durchgriffe auf das Alltagsleben zu nutzen. Auf der Rechten ideologisch stark aufgeladen, unterlegt im Osten mit grundsätzlich demokratieskeptischen Tönen und populistischen Anti-Parolen, die Corona nur zum Anlass nehmen und lautstark auf das Ganze zielen, auf die Zerstörung von Vertrauen in die demokratischen Institutionen.

Das war in Sachsen-Anhalt mäßig erfolgreich, hat aber auch die Gegenseite mobilisiert. Die erneute Ost-Debatte, die folgte, war die alte: die über einen sich verfestigenden, erheblichen Teil der Gesellschaft, der sich ausgeklinkt hat. Über die Melange aus Staatsverachtung, autoritärem Denken und falschen Freiheitsparolen. Im Westen war die rechte Bedrohung ja schon wieder in den Hintergrund der Wahrnehmung gerückt gewesen. Bei der FDP andererseits scheint das Hochspielen des Corona-Themas zu funktionieren, im Westen noch weit mehr als im Osten. Weil sich mit dem Freiheitsimpetus ein innerbürgerliches Alleinstellungsmerkmal aufgetan hat, das die Konkurrenz in der politischen Mitte immer wieder gespalten aussehen lässt.

Politik mit Abstand?

Was sich in solchen Zeiten dennoch erweist: Sogar aufgeregt hochgespielte Tagesthemen, die einst dazu geführt hätten, dass Leute ihre Wahlentscheidungen überdenken, verflüchtigen sich ohne größere Resonanz und tiefere Wirkung. Affären und Skandale (die Union und die Masken), bedeutsame Gerichtsurteile, parteiinterne Differenzen, programmatische Papiere, Streit in der Regierung, Tolpatschigkeiten aller Art: All das hätte man klassische Wahlkampfschlager genannt und messbare Ausschläge bei den Umfragedaten erlebt.

Heute wird es schon in der Berichterstattung heruntergebeamt, sobald jemand tatsächlich mal die politische Attacke darüber sucht: als überkommen, nichts real Wichtiges, alles nur Wahlkampf. Nur Wahlkampf? Auch das ein Zeitzeichen. Ein Verdikt, mit dem sich jegliche Debatte delegitimieren lässt. Ein Trend, der deshalb hochgefährlich ist. Denn es ist dann, als müsse jede Politik wie naturnotwendig an der Gefühlswelt vorbeigehen. Politik mit Abstand, eine gefährliche Perspektive für die Zeit nach Corona.

Dann bildet sich nur noch kurz vor der Stimmabgabe die machtpolitische Abstimmungsfrage heraus, entlang derer viele sich entscheiden. In Sachsen-Anhalt: Wer wird stärkste Kraft, die CDU oder die AfD? Klar, dass da dann linke Themen keine Rolle mehr spielten. Erfolgreiche Wahlkampfführung ist, die eigene Machtfrage durchzudrücken, und sei es in verdeckten Winkelzügen. Andere Wettbewerber landen dann dort, was SPD-Chef Norbert Walter-Borjans am Magdeburger Wahlabend etwas unscharf als »Windschatten« bezeichnete. Gemeint: die große Flaute jenseits des so empfundenen Plebiszits.

Dagegenzuhalten braucht eine gewisse Sturheit. Es bräuchte aber auch die Chance der direkten Begegnung, die noch fehlt. Und ein klares Verständnis vom angestrebten Profil und den eigenen Projekten. Zuletzt war der Politikbetrieb pandemiehalber extrem durch wissenschaftliche Fachargumente und den Diskurs der Spezialisten geprägt, mit den Virologen nahe am machtpolitischen Zentrum und all den anderen Fachlobbys im näheren Umkreis. Politische Parteien sind da, von Einzelfiguren abgesehen, weit weg.

Fast alle anderen in der Gesellschaft aber auch. Also gilt es jetzt, etwas wieder zurückzuholen: Direktheit, Nahbarkeit. In diesem Wahlkampf auf Abstand ist das schwer, aber es muss beginnen. Sonst wird bis Ende September nur immer wieder das eine oder andere Detailthema aufploppen und nach ein paar Tagen wieder weg sein. Die Meinungsbildung über die große Gefühlsfrage, bei wem man sich am sichersten aufgehoben sieht? Extrem spät dann, extrem individualisiert und ungleichzeitig wegen der Briefwahl. Privat geradezu. Nein, Meinungsbildung sollte nun möglichst schnell wieder eine öffentliche, gemeinsam verhandelte Angelegenheit werden.

Stabilitätsverlust der »klassischen« Kanzlerpartei

Erfolgreiche Politik müsse stets »den Zeitgeist prägen«, hat Markus Söder Anfang Juni gesagt und damit versucht, seinem systemischen Opportunismus, seiner konservativen Antwort auf diese Herausforderung eine gefällige Überschrift zu geben. Wie so oft bei ihm: Es war mehr daher gesagt als durchdacht, aber es gab einen Einblick in die Seelenlage der Unionsparteien. Sie vermissen, was es selten gab, etwas an sich selbst: die Gewissheit, auf der zukunftsträchtigen Seite der Debatte zu sein. Einfachere Gemüter sehen die Ursache nur in Armin Laschet, andere verstehen die Lage tiefergehend. Selbst die klassische Kanzlerpartei ist von dem Stabilitätsverlust erfasst, der vom Wegbrechen einer ernsthaften inhaltlichen Streitkultur ausgeht, die ja immer auch Selbstsicherheit hervorgebracht hat.

Was also ist der Zeitgeist, im Sommer 2021? Wer oder was gibt den Ausschlag? Das normale Leben beginnt wieder, das prägt die Emotion. Bei den Frühjahrswahlen hat die Mitte der Gesellschaft sich für Kontinuität entschieden. Im Bund gibt es so oder so einen Wechsel: schwer vorstellbar, dass dabei diese Sicherheitssehnsucht ganz außen vor bleibt. Auch das spricht am Ende gegen einen Erdrutsch. Die Stimmungslage mag gefühlig grün bleiben, rational ist sie betont vorsichtig. Unterlegt mit unspezifischem Misstrauen in alle Richtungen.

Daraus eine Weichenstellung werden zu lassen – das ist, nennen wir es mal: spannend. Hoffentlich für viele. Das Septembergefühl aber schon mitten im Sommer vorherzusagen: Gäbe es in der Politik so etwas wie die Ständige Impfkommission, dann würden diese Experten sich der Antwort verweigern und auf eine mangelnde Datenbasis verweisen.

Aber Wahlkämpfende und Medien gleichermaßen sollten nun die Verantwortung spüren, die inhaltliche Auseinandersetzung über die künftigen Fragestellungen jenseits von Corona, die allen emotional noch so fern sind, nicht immer weiter in den Hintergrund zu rücken. Vor allem nicht die ökonomischen und sozialen, die im Corona-Jahr soweit weggedrückt worden sind. Da hat die Demokratie etwas zu verlieren, was auch in digitalen Zeiten nie infrage gestellt werden darf: die Wertschätzung des Arguments.

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