Menü

Willy Brandts Urteil über die Novemberrevolution Gegen Ebert, für Luxemburg?

Wir müssen uns bei diesem Thema zunächst in Erinnerung rufen, dass der 1913 geborene Willy Brandt die Novemberrevolution 1918 als Kind erlebte, sicherlich keine eigenen Erinnerungen daran mit sich trug. Alles, was wir von ihm und über ihn wissen, hat daher als Ausgangspunkt das in Rechnung zu stellen, was ihn zu Beginn seiner jugendpolitischen Aktivitäten motivierte, sich auf dem äußersten linken Flügel der Sozialdemokratie zu organisieren. Er nennt dies das notwendige Aufbegehren gegen eine schwächliche, kraftlose, kompromisslerische Politik. Dass der linkssozialistische Jugendliche auf diese Weise nicht nur die Sozialdemokratie an der Wende der 20er zu den 30er Jahren, sondern auch Haltung und Politik der Partei in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg beurteilt haben dürfte, ist wohl anzunehmen.

Den Wandel seines Blicks auf diese Periode beschreibt er so: »Die Impulse meiner radikalen Jugend waren nicht zerstört. Aber ihnen war vieles hinzugewachsen. Jetzt hatte ich mir auch die Fähigkeit erworben, über die führenden Männer der Weimarer Zeit nicht mehr leichtfertig zu urteilen, sondern Friedrich Ebert und seine Freunde gemäß ihrem geschichtlichen Rang zu würdigen.« In gewisser Weise kann man diesen Satz geradezu auch als Programm für die Art und Weise nehmen, wie er in späteren Jahren Rosa Luxemburg begegnet: Nicht mehr jugendliche Verehrung, aber auch kein schnelles Verdammungsurteil, sondern ebenfalls kritische Würdigung.

Anfang des Jahres 1950 setzt sich Brandt in einem kleinen Text in der Berliner Stimme näher mit dem Thema »Ebert, Weimar und wir« auseinander, in dem wir Schlüsselpassagen auch für sein späteres Verständnis wiederfinden. Hier heißt es zunächst: »Friedrich Ebert symbolisiert den großen, aber leider nicht gelungenen Versuch, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg den Weg der demokratischen und sozialen Republik vorzuzeichnen.« Dabei seien die Aufgaben der bürgerlichen Revolution – wenngleich nicht auf allen Gebieten und mit ganzer Konsequenz – nachgeholt worden. Positiv vermerkte er den florierenden wirtschaftlichen Wiederaufbau sowie die Entwicklung des Rechtsstaats hin zu einem Wohlfahrtsstaat. Diese Entwicklung habe Ebert in den Jahren seiner Präsidentschaft maßgebend mitgestaltet. Mit Blick auf die Novemberrevolution ist sein Urteil allerdings kritischer: »Ebert hatte sich den Ereignissen des November 1918 mit einer Grundhaltung genähert, die vielleicht eher gesellschaftsbewahrend als revolutionär genannt werden kann. Es ging ihm darum, das ausgeblutete und hungernde Volk möglichst rasch zu einigermaßen normalen Verhältnissen zurückführen zu können. Dieser staatliche Konsolidierungsprozeß gab den Kräften der Reaktion Chancen, die sie bald zu nutzen verstanden.«

Seine Beurteilung stellt also durchaus die rationalen Motive seitens Ebert und seiner Mitstreiter in Rechnung, beklagt aber Folgewirkungen einer zu zögerlichen Umsetzung des Umgestaltungswillens der zeitgenössischen Mehrheitssozialdemokraten.

Wie er nun umgekehrt in dieser Zeit das Agieren der äußersten Linken um Rosa Luxemburg in der Phase der Novemberrevolution einschätzt, erfahren wir kurz darauf: »Denn wie man auch immer ihre politische Haltung im einzelnen beurteilen mag, was sich aus Verkennung der wirklichen Situation im Januar 1919 in Berlin abspielte – Liebknecht und Luxemburg waren keine Terroristen, sie waren radikale freiheitliche Sozialisten.«

Es dauerte einige Jahre, bis Willy Brandt auf das Thema der Novemberrevolution und ihrer genutzten wie versäumten Chancen zurückkam. Die von ihm gemeinsam mit Richard Löwenthal verfasste Biografie Ernst Reuters war natürlich ohne dieses Thema nicht zu schreiben. Unter dem Namen Friesland hatte sich Reuter in dieser Phase in der jungen KPD betätigt. Brandt und Löwenthal erörtern die Motivation Eberts und seiner Mitstreiter, denen in dieser chaotischen Zeit ein Putsch der Spartakisten wahrscheinlich erschienen sei, kommen aber zu einem anderen Schluss: Diese Furcht sei unberechtigt gewesen, da sowohl die Führer der Revolutionären Obleute wie des Spartakus durchaus gewillt gewesen seien, die ihnen ungünstige Mehrheitsentscheidung des Rätekongresses zu respektieren. Ebert hingegen habe die einzig sichere Stütze für seine Regierung in der Befehlsgewalt der alten Offizierskaste gesehen, der nicht nur die Linksradikalen, sondern auch das Gros seiner eigenen Anhänger misstraut habe.

Für Brandt und Löwenthal sind die Folgen einer solchen Bündnispolitik Eberts jedoch verheerend: »Mit dieser Politik verstärkte und verbitterte er die radikale Opposition und schuf so erst die Voraussetzungen für die Kette von blutigen Zusammenstößen zwischen radikalen Arbeitern und gegenrevolutionären Freikorps, die das Schicksal der Weimarer Republik schon in ihrer Geburtsstunde belasteten. Sie konzentrierten von vorneherein die Waffen in den Händen antidemokratischer, nationalistischer und militaristischer Gruppen und trennten damit den radikalen Flügel der Arbeiterschaft von der sozialdemokratischen Führung durch den Graben von Blut, der es der Kommunistischen Partei ermöglichte, auf Jahre hinaus in Deutschland eine Massenbasis zu behaupten.«

Halten wir fest: In dieser Lesart ist es die Politik Eberts, die die Hauptverantwortung für die blutigen Auseinandersetzungen in der Arbeiterbewegung der kommenden Jahre trägt. Sie ist zugleich die Voraussetzung für den jahrelangen Massenzuspruch in der Arbeiterschaft für die KPD. Wenn ich es richtig sehe, ist dies die schärfste Distanzierung Brandts von der zeitgenössischen Politik Eberts, sie verschwindet sicher nicht in den Folgejahren, fällt künftig aber deutlich moderater aus.

Die Auswirkungen dieser Versäumnisse: »Auf dem Papier war es [die Weimarer Reichsverfassung, US] eine der freiesten Verfassungen der Welt. Aber die wirtschaftlichen Machtpositionen der Schwerindustrie und des Großgrundbesitzes waren unangetastet geblieben. Das im Versailler Vertrag vorgesehene Berufsheer von 100.000 Mann, die Reichswehr, wurde aus den Freikorps aufgebaut, die mit Verachtung von der ›Novemberrepublik‹ und ihren Führern sprachen; und auch der Beamtenapparat blieb im Wesentlichen der alte. Die Revolution schien abgeschlossen – und große Teile der Arbeiterschaft fühlten sich um ihre Hoffnungen betrogen. Parallel mit der Konsolidierung des neuen Staates vollzog sich so die Radikalisierung eines erheblichen Teils der Arbeiterschaft – nicht als Aufschwung der Revolution, sondern als Ausdruck der Enttäuschung über ihr Versanden.«

Rückblicke nach 50 Jahren

1968 schaute man auf 50 Jahre Novemberrevolution zurück. Brandts neue Rolle als Parteivorsitzender legte einen moderateren Ton nahe: »Ich meine, wir sollten uns heute nicht ohne eigene Meinung, nicht ohne Bereitschaft zum stetigen Überdenken der Zusammenhänge und der Notwendigkeiten, aber doch mit einem gewissen Stolz zu dem bekennen, was die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik gewollt, versucht und geleistet haben. Dem deutschen Volk wäre viel erspart geblieben, wenn es sich den Mahnungen und den Warnungen der Sozialdemokraten damals in größerer Zahl geöffnet hätte.«

Als das Deutsche Kaiserreich zusammenbrach, habe der Staat gedroht, so hält er Ebert jetzt zugute, in Auflösung zu geraten. Allerdings geht dieses Verständnis wohl nicht so weit, dass er nun auch die bei Ebert und seinen Mitstreitern damals immer wieder bemühte drohende »bolschewistische Gefahr« für eine realitätstaugliche Situationsbeschreibung gehalten hätte. Dies sei – so Brandt auch 20 Jahre später – eine schlichte Legende bzw. Lebenslüge gewesen. Eberts Setzen auf eine Kooperation mit den Kräften des alten Militärs und der Freikorps hält er weiter für eine Fehleinschätzung mit fundamentalen Auswirkungen: »diese Fehleinschätzung hat in erster Linie herhalten müssen, um die alten Mächte gesellschaftlich-politisch weithin unangetastet zu lassen, nach rechtsextremen Freikorps zu rufen und das Zurückschrecken vor gründlicher demokratischer Erneuerung zu entschuldigen«.

Luxemburgs Fehleinschätzung habe wiederum darin bestanden, nicht zu erkennen, dass von einem bedeutenden revolutionären Potenzial im eigentlichen Sinne dieses Wortes am Jahreswechsel 1918/19 keine Rede sein konnte. Luxemburg positiv würdigend schreibt er aber 1968 auch: »Der eigentliche Widerspruch wurde damals durch Rosa Luxemburg verkörpert, die man als Revolutionär[in] und als Humanist[in] zugleich begreifen muß. Sie […] bekannte sich leidenschaftlich zu einem Freiheitsbegriff, der im völligen Widerspruch zu dem stand, was in den folgenden fünf Jahrzehnten mit geringen Abweichungen das Phänomen des Kommunismus ausgemacht hat. Sie sagte bekanntlich: ›Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden‹. Es liegt auf der Hand, daß dies eine demokratisch-sozialistische Position ist, nicht eine terroristisch-kommunistische.«

Nochmals zehn Jahre später verdeutlicht Brandt seine »Mittelposition« zwischen Ebert und Luxemburg anhand eines sehr viel genaueren Blicks auf die Ereignisse selbst. Ich zitiere sein Fazit vorweg: »Für die SPD bleibt die November-Revolution ein Lehrstück über verfehlte Macht und über Voraussetzungen, derer es bedarf, um Macht auszuüben.« Signifikant ist zudem, dass er bereits im Titel von einer »verfehlten Revolution« spricht.

Weitere zehn Jahre später sollte er zum Ausdruck bringen, dass das, was eine Revolution genannt wurde, doch mehr ein Zusammenbruch geblieben sei. Kein Weg führe an der bitteren Einsicht vorbei, dass die Geschichte der Novemberrevolution die Geschichte ihrer fortschreitenden Zurücknahme sei. Sie nahm ihren Lauf, als Reichskanzler Ebert am 9. November zu »Ruhe und Ordnung« mahnte, als er sich – noch bevor die Verhandlungen mit den Unabhängigen aufgenommen wurden und der Rat der Volksbeauftragten gebildet war – in dem symbolträchtigen Telefonat mit General Wilhelm Groener des Rückhalts der Armee versichert und einen Tag später die ganze Revolution schlicht für »beendet« erklärt. Für den weiteren Verlauf der Revolution sei es entscheidend und für die Weimarer Republik eine der schwersten Belastungen überhaupt gewesen, dass Ebert und seine Freunde, die in diesen turbulenten Novembertagen die politische Macht in den Händen hielten, sich nicht dazu entschließen konnten, eine neue bewaffnete Macht zu begründen. So sei die deutsche Sozialdemokratie zum Gefangenen ihres eigenen Legalitätsdenkens geworden. Es habe an situationsbezogener Analyse ebenso gefehlt wie an realistischer Strategie.

Ebert und seine Mitstreiter sind in dieser Sichtweise damit keineswegs Verräter, aber bei Brandt ist auch kein Platz für historisch unhaltbare Heldenverehrungen über angebliche sozialdemokratische Revolutionsführer, die über die richtigen Konzepte verfügt hätten.

Wie sah nun Brandt in seinen späten Jahren das politische Wirken Rosa Luxemburgs? Will man es auf einige Begriffe bringen, könnte man sagen: mit viel Empathie und Verständnis, durchaus auch mit Kritik, vor allem aber mit Toleranz hinsichtlich ihrer Fehler und Irrtümer. Was ihre Persönlichkeit auszeichnete seien Bescheidenheit und Güte, ein weiter Spannungsbogen zwischen Härte und Zärtlichkeit, ein ungestümes sachliches Engagement gepaart mit Widerwillen gegen geistige Enge gewesen; eindrucksvolle Appelle an die Vielen, aber individuelle Furcht vor der Menge; wissenschaftliches Denken gemischt mit künstlerischen Neigungen; kindliche Freude am Schönen – ihr wurde und werde also überhaupt nicht gerecht, wer sie allein als ein politisches Wesen einstufen wollte.

Brandts Kritik an Rosa Luxemburgs überschießendem Utopismus und Radikalismus in ihren letzten Lebensmonaten ist zugleich eindeutig und klar: In ihrer Opposition zu den Führern der alten Partei habe sie sich bis zu hasserfüllten Beschimpfungen gesteigert. Ein wirklichkeitsnahes Programm habe ihr nicht zur Verfügung gestanden. Ausgiebig zitiert Willy Brandt aus den demokratietheoretischen Teilen ihrer Gefängnisschrift zur Russischen Revolution und den entsprechenden Kontroversen mit den theoretischen wie praktisch-politischen Positionen Lenins. Ungeachtet der von ihm selbst konstatierten kritikwürdigen Einlassungen Luxemburgs in den Wochen der Revolution bleibt er deshalb dabei, dass es ihm schwer verständlich sei, wie man zu der Einschätzung gelangen könne, für Nichtkommunisten habe sie keine Freiheit gewollt. So bleibt sie für ihn »bei allem, in und über allem, die tragische Gestalt einer leidenschaftlichen europäischen Revolutionärin«.

Die hier beschriebene politische Verortung Brandts zwischen Ebert und Luxemburg ist ganz sicher biografisch geprägt und nachvollziehbar, bedarf aber selbst der Kritik. In gewisser Weise reproduziert Brandt mit seiner Konzentration auf diese beiden Pole ein Geschichtsbild, das er selbst mit guten Gründen kritisiert: Die alternativlose Dichotomie zwischen staatstragender Sozialdemokratie und diktatorischem Bolschewismus. Versucht man nämlich, den Standpunkt, den Brandt in seiner Geschichtsbetrachtung einnimmt, auf das Spektrum der damaligen Akteure zu projizieren, dann liegt es nahe, diesen als eine Positionierung des sogenannten »marxistischen Zentrums« zu verstehen, wie sie ganz wesentlich in den Reihen der USPD unter ihrem Vorsitzenden Hugo Haase vertreten wurde. Erstaunlicherweise spielt diese Verortung jedoch keinerlei Rolle bei den historischen wie theoretischen Rückbezügen, die Brandt selbst vornimmt. Abgesehen von dieser »Leerstelle« hat er 1988 jedoch an anderer Stelle noch eine wichtige Mahnung hinterlassen, die die SPD in ihrem Geschichtsverständnis der vergangenen drei Jahrzehnte mit ihrer Fixierung auf die ebertsche Tradition der Mehrheitssozialdemokratie weitgehend verdrängt hatte: Die SPD, so mahnt er in der Trauerrede auf Rosi Wolfstein-Frölich, würde sich ärmer machen, wenn sie ihre historischen Bezüge ohne Not einengte oder verkürzte.

Es stellt sich folglich die Frage nach der Erneuerungsfähigkeit einer sozialdemokratischen Partei, die bereits im Jahr 2018 viel diskutiert wurde. Willy Brandt schreibt dazu: »Erneuerung bedeutet, daß man zur Tradition ein gesundes Verhältnis hat und außerdem nicht nur den Mut, sondern auch die Kraft hat, aus der Vergangenheit mit ihren Höhen und Tiefen, mit ihren Erfolgen und Schwächen zu lernen.« Ich füge hinzu: Geschieht dies nicht, verweigert sich eine Partei oder Bewegung dem gerade auch selbstkritischen Lernen aus der Geschichte, wiederholen sich nicht nur die begangenen Fehler, sondern in letzter Konsequenz ist auch die eigene Existenz bedroht.

(Die Langfassung des diesem Text zugrundeliegenden Vortrags wird als Broschüre der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung erscheinen. Einzelnachweise für Zitate finden sich dort.)

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben