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Ist ein Politikwechsel mit Rot-Rot-Grün möglich? Gegensätze rechtzeitig angehen

Thomas Oppermann und Sahra Wagenknecht haben sich in dieser Zeitschrift gegenseitig Bedingungen für eine mögliche Zusammenarbeit nach den Bundestagswahlen im September 2017 gestellt (NG|FH 12|16 und 3|17). Wie man sie angeht, hängt davon ab, ob man einen Politikwechsel für nötig hält. Aus sozialdemokratischer Sicht ist er dringend fällig: für mehr Gerechtigkeit in Deutschland, Europa und global – das steht obenan – und damit für mehr Zusammenhalt und Solidarität. Beides sind Grundlagen für echte politische wie private Freiheit, auf die jeder ein Recht hat und die im Zentrum sozialdemokratischer Politik steht

Zu den Bedingungen im Einzelnen: Martin Schulz hat Revisionen beim Thema Hartz IV und bei den befristeten Arbeitsverhältnissen angekündigt. Diese erhöhen zweifellos die Gemeinsamkeiten zwischen SPD und der Partei DIE LINKE. Wenn DIE LINKE daraufhin fordert, diese schon vor den Wahlen außerhalb der großen Koalition durchzusetzen, weiß sie, dass die SPD das aus guten Gründen verweigert. Einer davon ist, dass die Bundestagswahl einer Reform der Agenda 2010 eine viel stärkere Legitimation und Durchschlagskraft gibt als ein unseriöser Koalitionswechsel kurz vor Ende der Legislaturperiode

Unklarer ist es bei der Europapolitik. Die langjährige faktische Unterstützung der Linie von Angela Merkel hat es der SPD schwer gemacht, ihre auch formulierte Kritik an deren neoliberaler Dominanz in der EU, die maßgeblich für die Entsolidarisierung und das Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten verantwortlich ist, glaubwürdig zu vertreten. Seit den massiven Wahlniederlagen im Frühjahr 2016 hat sich das deutlich geändert. Sigmar Gabriel hat dem neoliberalen Papst Wolfgang Schäuble etwa in Bezug auf Griechenland konsequent widersprochen. Hier wurde jetzt ein Politikwechsel angestoßen: zugunsten vernünftiger Arbeitsbeziehungen (Erneuerung der Tarifautonomie) und der Überwindung der Arbeitslosigkeit in der EU durch kluge nachhaltige Investitionen, auch um die von den Neoliberalen unterminierte staatliche Handlungsfähigkeit für Sicherheit, Infrastruktur und Vorsorge wiederherzustellen, und für die Verhandlung eines durchdachten europäischen Umgangs mit den Schulden, allgemein: für mehr europäische Solidarität, nicht zuletzt zur Sicherung des Euro, was auch dem deutschen Export zugutekommen würde. Strategien, wie das konkret geschehen soll, sind noch in Arbeit

In dieser Hinsicht sind die bisherigen Beiträge der Partei DIE LINKE unzureichend. Denn sie ist sich intern noch nicht darüber einig, ob sie etwa den Euro durch ein solidarisches Ausgleichssystem retten und weiterentwickeln will, wofür z. B. ihr Bundestagsabgeordneter Axel Troost mit anderen in der Streitschrift Europa geht auch solidarisch plädiert, oder ob sie zurück zur sogenannten »Währungsschlange« und damit zu nationalen Währungen möchte. Das würde eine Renationalisierung der EU einleiten. Auch wenn man den Befürwortern der zweiten Position (Oskar Lafontaine und wohl auch Sahra Wagenknecht, aber auch der Sozialdemokrat Fritz Scharpf) zubilligen will, dass es ihnen nicht um Nationalismus, sondern um die Rückgewinnung demokratischer Souveränität geht, ist dieser Vorschlag weder ökonomisch noch politisch hinreichend durchdacht

Denn die angestrebte größere wirtschafts- und sozialpolitische nationalstaatliche Handlungsfähigkeit würde schnell wieder aufgehoben, weil die erforderliche globale Wettbewerbsfähigkeit auch bei nationaler Währungsautonomie eine Lohnsenkung erzwingen würde und die Finanzmärkte die Staaten in eine erhebliche Zins- und Schuldenfalle brächten. Die jetzt von einer unsolidarischen, neoliberalen Handhabung des Euro – der freilich auch institutionell unzureichend eingeführt worden ist – ausgehende zerstörerische Sparpolitik würde sich wieder aufzwingen

Im Kern müssen wir zur Kenntnis nehmen: In einer globalisierten Ökonomie sind die Nationalstaaten in ihrer wirtschaftspolitischen Selbstbestimmung stark eingeschränkt. Nur eine solidarische Europäische Union, die bisher von der deutschen Dominanz verhindert worden ist, kann hier wegen ihrer Größe helfen, Selbstbestimmung zurückzugewinnen. Sie ist nicht einfach und erfordert, vor allem in Deutschland, einen Politikwechsel, aber sie ist möglich. Der nicht zu Ende gedachte Ausstieg aus dem Euro hingegen wäre gerade für schwächere Ökonomien und für den europäischen Zusammenhalt sehr gefährlich. Die SPD müsste sich dem deshalb widersetzen. Gegen ein »Weiter so!« in Sachen Euro zu plädieren, ist richtig, reicht aber überhaupt nicht, wenn es um konkrete politische Alternativen geht

Die aktuelle deutsche und europäische Flüchtlingspolitik ist unter menschenrechtlichem Gesichtspunkt offensichtlich nicht akzeptabel. Der UNHCR hat sie mehrfach zu Recht kritisiert. Thomas Oppermann hat kürzlich einen Vorschlag veröffentlicht, der immerhin auf ein zusammenhängendes Konzept zielt und wichtige gute Elemente enthält: die Arbeit an den Fluchtursachen, die Unterstützung von Lagern in der Nachbarschaft der Herkunftsgebiete, ein ethisch vertretbares Einwanderungsgesetz, die dezentrale Ansiedlung von Flüchtlingen in ganz Europa. Die Ideen zur Sicherung der europäischen Außengrenzen wurden neuerdings durch die Forderung nach einem legalen Zugang nach Europa präzisiert. Hier könnten noch weitere Präzisierungen folgen. Ohne die Perspektive, dass Flüchtlinge sich freiwillig zu ihrer Rettung an das Grenzregime halten können, wird es keine solche Sicherung der Grenzen geben, schon gar keine lückenlose. Denn sie muss sich letztlich auf Abschreckung gründen. Aber Flüchtlinge ohne Aussicht auf Überleben und Menschenwürde lassen sich nicht abschrecken. Hier unterminiert die aktuelle Flüchtlingspolitik von Angela Merkel die westlichen Werte und die Demokratie

Freilich bleibt der Vorschlag der Partei DIE LINKE in dieser Frage: »Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen« (Parteiprogramm) weit hinter dem zurück, was eine verantwortliche Flüchtlingspolitik ausbuchstabieren muss. Sahra Wagenknechts Kritik an Angela Merkels konzeptionsloser Grenzoffenhaltung zeigt das, aber reicht nicht und wurde von ihr leider auch mehrfach so missverständlich formuliert, dass Nationalisten sich darauf berufen können. Es stimmt, ohne politische Korrekturen kann es zu einem fatalen Wettbewerb zwischen sozial schwachen Inländern und Flüchtlingen kommen. Hier hatte Sigmar Gabriel mit seiner Warnung recht. Aber die Politik kann die langjährige Vernachlässigung der Schwächeren ausgleichen und die Aufnahme von Flüchtlingen als eine Win-win-Situation gestalten, indem die EU z. B. aufnahmebereiten Kommunen eine erhebliche finanzielle Unterstützung sowohl bei der Integration als auch bei zusätzlichen kommunalen Investitionen bietet. Hier einen Gegensatz zu zementieren, öffnet einem gefährlichen Nationalismus Tür und Tor

Besonders schwierig ist zwischen der SPD und der Partei DIE LINKE das Thema »militärische Sicherheit«. Es hat in der Geschichte der SPD, zu deren DNA der Pazifismus gehört, immer eine zentrale Rolle gespielt, an der sich oft die Geister geschieden haben. Einigen können wir uns schnell darüber, dass Frieden letztlich nicht durch Waffen, sondern nur durch gemeinsame partnerschaftliche Entwicklung hergestellt werden kann. Einig sind wir uns auch in der Ablehnung von Waffenlieferungen in Krisengebiete. Einig sind wir uns auch darüber, dass die aktuelle Flüchtlingslage im Nahen Osten u. a. ein Ergebnis der unter George W. Bush geführten unverantwortlichen militärischen Interventionen und von dessen kurzsichtiger Regime Change-Politik ist

Schwierig wird es bei den Einzelentscheidungen, vor die man sich erst gestellt sieht, wenn man Regierungsverantwortung trägt. Deshalb gab es auch immer eine Versuchung der SPD, eher aus der Opposition heraus Politik zu betreiben. Man kann dann grundsätzlich und »sauber« bleiben, kommt nicht in Dilemmata

Aber diese Annahme trügt. Denn Handeln kann ethisch ebenso falsch sein wie Nicht-Handeln. Soll man in konkreten Fällen zusehen, wie die Kurden in Nordsyrien untergehen? Hätte Adolf Hitler ohne das militärische Eingreifen der USA und die militärische Koalition auch mit der Sowjetunion besiegt werden können? Meine Eltern waren Pazifisten und im Widerstand gegen Hitler. Dennoch waren sie froh über den militärischen Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland

Es ist wahr, einmal in der Exekutive, ist die Versuchung und Gefahr nicht zu unterschätzen, den scheinbar (nicht wirklich!) einfacheren Weg über militärische »Lösungen« zu gehen, wenn man über Verhandlungen nicht weiterkommt. Dass in der letzten Zeit etwa die bedenkenswerte Aussage, Deutschland müsse wegen seiner gewachsenen Macht mehr Verantwortung übernehmen, sehr schnell mit der Bereitschaft, militärisch einzugreifen, assoziiert wurde, zeugt davon. Aber dieser Gefahr kann man nicht durch eine prinzipielle Absage an die Bereitschaft begegnen, z. B. im Rahmen der UN gegebenenfalls ein schlimmeres Übel militärisch abzuwenden. Die Grundwertekommission der SPD hat sich unter maßgeblicher Beteiligung von Heidemarie Wieczorek-Zeul und Gernot Erler intensiv mit der Frage der »humanitären Intervention« beschäftigt. Diese hat in den letzten Jahren zwar an Glaubwürdigkeit verloren, gleichwohl bleibt z. B. die Nicht-Intervention gegen den Völkermord in Ruanda ein dunkles Mahnzeichen dafür, dass Nicht-Intervenieren auch Katastrophen zulassen kann

Aus Sicht der Sozialdemokratie folgt daraus, dass jeder Einzelfall sorgfältig abgewogen werden muss, dass gefährliche Implikationen oder Risiken und »schiefe Ebenen« eines militärischen Einsatzes (auch mit allen Vorabstufungen z. B. der Ausbildung von Soldaten) immer gegenwärtig bleiben müssen und gegebenenfalls Korrekturen der einmal getroffenen Entscheidung erfordern. Das ist – zumal in einer Medienlandschaft, in der Skandalisierung oft mehr zählt als sorgfältige Abwägung – schwer. Es gibt hier keinen Königsweg, und im konkreten Fall wird es – auch innerhalb der Sozialdemokratie – immer wieder legitime Auseinandersetzungen geben. Aber wer Regierungsverantwortung übernimmt, darf es sich nicht durch prinzipielle rigorose Positionen zu einfach machen

Das gilt auch für die Einstellung zur NATO. Zunächst ist für Sozialdemokraten multilaterales Handeln wirksamer für eine Friedenspolitik als einzelstaatliche Interventionen, da sie inklusiver ist. Die NATO ist ein Kind des Kalten Krieges, aber sie wurde mit dessen Ende nicht überflüssig, weil sie nationale Waffengänge ihrer Mitglieder gegeneinander durch die Multilateralität verhindert und immer auch die Einbindung Deutschlands bezweckt. Das ist aktueller denn je. Die USA waren ein notwendiges Gegengewicht gegen ein im europäischen Verbund möglicherweise in Zukunft auch wieder militärisch vorherrschendes Deutschland. Wenn Sahra Wagenknecht ein europäisches »kollektives Sicherheitssystem, das auch Russland einbezieht« vorzieht, hat sie die historisch bekannte Komplexität der Gefahren militärischer Bedrohungen nicht zureichend im Blick. Zum einen machen Sozialdemokraten – Donald Trump hin oder her – einen großen Unterschied zwischen der amerikanischen Gesellschaft, in der es doch langjährig erprobte und kulturell verankerte demokratische checks and balances gibt, und der russischen, die die Regierungsallmacht noch nicht einzuschränken vermag. Ein militärisches Sicherheitsbündnis ohne die USA, mit einem starken Deutschland im Kern und Russland als präferiertem Sicherheitspartner, ist für Sozialdemokraten also keine Option

Zudem bleibt Sahra Wagenknechts Vorschlag so umrisshaft, dass er nicht reicht. Eine genaue Diskussion, die die SPD-Grundwertekommission auch mit Vertreter/innen der Partei DIE LINKE sehr sachbezogen geführt hat, könnte sicher Klärungen bringen. Für Sozialdemokraten ist gemeinsame Sicherheit verlässlicher als konfrontative. Das gilt auch für Russland. Und ein größeres Gewicht der EU im Sicherheitssystem der NATO wäre angesichts neuer amerikanischer Unsicherheiten sehr zu wünschen. Freilich müssten wir dann noch viel mehr an einer inhaltlichen europäischen Einigung, z. B. auch an einer gemeinsamen Außenpolitik arbeiten, als dies bisher gelungen ist. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir einen Politikwechsel in Deutschland

Der ist vor allem in der deutschen Europapolitik ohne Rot-Rot-Grün gegenwärtig nicht vorstellbar. Er ist aber nötig. Deshalb kommt es darauf an, die bisherigen Gegensätze rechtzeitig, argumentativ und verantwortlich anzugehen

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