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© picture alliance / HMB Media/ Heiko Becker | Heiko Becker

»Walk!« fordert eine Gruppenausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn Gehen als künstlerische Praxis

Rasender Stillstand. Das klingt paradox. Der französische Philosoph Paul Virilio hat den Begriff geprägt und der deutsche Soziologe Hartmut Rosa hat ihn zu Beginn der Coronapandemie wieder in Umlauf gebracht. Gemeint ist das Gefühl, immer schneller, gehetzter und gestresster auf der Stelle zu treten. Rasender Stillstand könnte auch die Arbeit der koreanischen Künstlerin Kimsooja heißen. Tatsächlich ist sie mit A Needle Woman überschrieben. Sie besteht aus acht Videos. Die Künstlerin selbst ist darin zu sehen, wie sie unbeweglich in überfüllten Straßen internationaler Metropolen steht.

In Tokio eilen die Passanten wie an einem Laternenpfahl an ihr vorbei. Keiner blickt sie an, keiner nimmt Notiz. Alle sind mit sich und ihrer Hektik beschäftigt, rasen, während sie stillsteht. Die Künstlerin bildet einen Ruhepol, indem sie sich der Aufforderung »Walk!« – »Geh!« – widersetzt, dem Titel der von Fiona Hesse und Matthias Ulrich kuratierten Gruppenausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt, die rund 100 Positionen von mehr als 40 verschiedenen Künstlerinnen und Künstlern zum Thema vereint.

Das Gehen ist die wohl ursprünglichste und auch demokratischste Art der Fortbewegung. Ein Thema wie gemacht für pandemische und post-pandemische Zeiten. In den vergangenen Jahren entdeckten selbst Couch-Potatoes das Gehen, Spazieren und Wandern neu oder wieder. Als Freizeitbeschäftigung, als Ausgleich zur Arbeit, als Gesundheitsvorsorge. Die heilenden Aspekte des Gehens sind legendär. Den Kopf frei bekommen, Trauer verarbeiten, sich lossagen. »A walk in the park/I've got to get some sense back into my head«, hieß es schon in Nick Strakers End-70er-Hit A Walk In The Park.

Die Reisejournalistin Barbara Schaefer machte sich im Sommer 2008 auf den Weg von Berlin nach Italien, zu Fuß, um den Tod ihrer Freundin zu verarbeiten. Und Werner Herzog versuchte 1974 die todkranke Filmhistorikerin Lotte Eisner vom Sterben abzuhalten, indem er von München aus zu Fuß nach Paris lief. Sein Büchlein Vom Gehen im Eis zeugt davon.

Die heilende Wirkung des Gehens ist heutzutage kein Geheimnis mehr. Es gibt Gehmeditation und Therapieangebote, walking cure statt talking cure. Während der Coronapandemie wurde aber nicht nur das Gehen neu bewertet, sondern auch der öffentliche Raum. Wer darf sich wo und wie bewegen? Stillstand lautete zeitweise das Gebot der Stunde. Das Sich-fortbewegen-Dürfen entwickelte sich zum Akt der Freiheit, und wurde erst jüngst von querdenkenden »Spaziergängern« pervertiert.

Die sogenannte Walking Art ist freilich älter als die COVID-19-Pandemie. Sie entwickelte sich schon in den 60er und 70er Jahren aus der Land Art, dem Minimalismus und der Konzeptkunst. Als Pionier der Walking Art gilt der Brite Hamish Fulton, der seit 50 Jahren auf der ganzen Welt seine Geh-Werke (Walk-Works) umsetzt und in der Frankfurter Ausstellung mit mehreren Arbeiten vertreten ist.

Darunter eine Wandtafel, die den 3. April 2020, einen Tag im Lockdown, als den leisesten Tag überhaupt festhält. In anderen Arbeiten übersetzt Fulton Erfahrungen seiner Wanderungen auf unterschiedliche Art: Malereien, Fotografien, Holzarbeiten. In der Ausstellung finden sie sich subsumiert unter dem Schlagwort »Gehen«, eine der sechs etwas beliebig scheinenden Kapitelüberschriften der Schau, die dort auf Fußabtretern zu lesen sind.

Weggeworfenes und Liegengelassenes

Kapitel 1 lautet »Umherschweifen« und sogleich denkt man an die Flaneure des 19. Jahrhunderts, die, Walter Benjamin folgend, ihre »Schildkröten spazieren führten« und in den Straßen von Paris der Langeweile frönten. Charles Baudelaire sprach von ihnen als den »Malern des modernen Lebens«. Der belgische Künstler Francis Alÿs legt statt einer Schildkröte einen Blechhund auf Rädern an die Leine und zieht ihn durch das Centro Histórico von Mexiko-Stadt. Die schwarz-weißen Filmaufnahmen seiner nächtlichen Spaziergänge setzen das Spielzeug ins Licht. Daran befestigte Magnete sorgen für beiläufiges Müllsammeln. Der metallische Unrat bleibt am Hund kleben wie die nächtlichen Eindrücke am Flaneur.

Spazieren und dabei Kleinigkeiten in den Blick nehmen benennt auch das Prinzip des in den Vereinigten Staaten lebenden japanischen Künstlers Yuji Agematsu, der auf seinen nächtlichen Rundgängen Weggeworfenes und Liegengelassenes einsammelt: Zigarettenkippen, Kaugummis, Pflänzchen. Zu Hause sortiert er den Zivilisationsmüll und drapiert ihn fein säuberlich in die leeren Zellophanhüllen von Zigarettenschachteln. Heraus kommen filigrane Kunstwerke in Knisterfolie, die in einen Setzkasten sortiert eine eigentümliche Poesie entwickeln.

Die Spaziergänge fördern zutage, was ansonsten unbeachtet bliebe. Kein Wunder, dass das Gehen nicht nur eine eigene Kunstrichtung vorangetrieben hat, sondern auch eine Wissenschaft. Der Schweizer Soziologe und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt (1925–2003) hat die Spaziergangswissenschaft in den 70er Jahren in der documenta-Stadt Kassel, wo er im Fachbereich Architektur, Stadt- und Landschaftsplanung lehrte, entwickelt. Die von ihm begründete Wissenschaft untersucht die Fallstricke unserer Wahrnehmung und Mobilität sowie deren Auswirkungen auf das Planen und Bauen. Burckhardt selbst war überzeugt davon, dass man erst lernen müsse, Landschaft wahrzunehmen. Im Englischen trägt die Spaziergangswissenschaft, auch Promenadologie genannt, den verspielt tönenden Titel Strollology.

An ein Kinderspiel erinnert auch David Hammons Arbeit Phat Free. Darin sehen wir den amerikanischen Künstler, wie er einen gewöhnlichen Blecheimer durch die Straßen kickt, wie Kinder es mit Steinen oder leeren Dosen tun. Das Video beginnt in Dunkelheit, lediglich das scheppernde Geräusch des Eimers auf dem Asphalt ist zu hören. Das vermeintliche Kinderspiel entwickelt erst blutigen Ernst, wenn man bedenkt, dass »Kicking the bucket« umgangssprachlich für »sterben« steht und Hammons ein Künstler ist, der sich dezidiert mit schwarzer Geschichte und Kultur auseinandersetzt. Die nächtliche Straße scheint vor diesem Hintergrund ein Revier von Angst und Gewalt.

Das Bedrohungspotenzial der Straße taucht in der anregenden Schau am Deutlichsten in jenen Arbeiten auf, die sich im auf den ersten Blick widersinnigen Kapitel »Nicht-Gehen!« finden. Das Nicht-Gehen meint hier keinen Stillstand, sondern ein am Gehen gehindert werden. In diesem Kontext gelingt der afghanischen Künstlerin Kubra Khademi eine der eindrücklichsten Arbeiten der Schau. Für ihre Performance Amor spaziert sie mit einer Art Metallrüstung mit ausgestülpten Brüsten und Hintern durch eine belebte Straße im Zentrum von Kabul. Eine Provokation für das sittenstrenge Land. Ein mit dem Handy produzierter wackeliger Film zeigt die harschen Reaktionen der Passanten, die sie beleidigen und versuchen anzugreifen.

Wie Frauen im öffentlichen Raum gesehen und bedroht werden, macht die Arbeit wie nebenbei deutlich. Sie erzählt von einer rigiden Gesellschaftsordnung, die den Frauen nicht die gleichen Rechte wie den Männern einräumt. Die amerikanische Feministin und Essayistin Rebecca Solnit hat in ihrer umfassenden Geschichte des Gehens Wanderlust die Unterschiede zwischen Männern und Frauen im öffentlichen Raum herausgearbeitet. Sie schreibt: »Natürlich wird der Gang von Frauen oft mehr als Performance denn als Fortbewegung gedeutet, was impliziert, dass Frauen nicht laufen, um sich die Welt anzusehen, sondern um gesehen zu werden, nicht für ihr eigenes Erleben, sondern für das ihres männlichen Publikums, was wiederum bedeutet, dass sie die – wie auch immer geartete – Aufmerksamkeit, die sie bekommen, suchen.«

Das illustriert auch der Kurzfilm American Reflexxx, der die Performance-Künstlerin Signe Pierce in sehr wenig Kleidung und mit silbern glänzender Maske vor dem Gesicht zeigt, wie sie durch die Straßen des Urlaubsorts Myrtle Beach in South Carolina stöckelt. Ein größerer Kontrast zur afghanischen Arbeit gleich nebenan lässt sich kaum denken: Dort das strenge muslimische Frauenbild, hier die westliche Libertinage in all ihrer Obszönität. Die Reaktionen der Passanten sind in ihrer Übergriffigkeit durchaus ähnlich. Signe Pierce wird betatscht, fotografiert und gejagt. Das maskierte Gesicht provoziert dabei mehr als ihr halb nackter Körper. Dem Gebot, sich zu verschleiern und zu verbergen steht das Gebot entgegen, sein Gesicht zu zeigen. In beiden Fällen wird die Straße zum Laufsteg.

Insgesamt gesehen gibt die Schau einen guten Überblick über das Gehen als künstlerische Praxis. Dabei gibt es Überschneidungen zur Streetphotography, die sich dem urbanen Raum mit all ihren Alltagsgesichtern und -situationen verschrieben hat. Auch in vielen Arbeiten der Ausstellung rücken zufällig ins Bild ragende Passanten in den Blick. So bei der Videoperformance der in London lebenden Libanesin Mona Hatoum, die Mitte der 80er Jahre mit nackten Füßen durch den Stadtteil Brixton läuft und sich dafür schwarzeDr. Martens-Stiefel mit den Schnürsenkeln an ihre Waden bindet. Ein beschwerlicher Gang, misstrauisch beäugt von Männern und Frauen am Rand.

Das Schuhmodell war damals noch Skinheads und Polizisten vorbehalten, und Hatoum setzt mit ihrem Walking-Act auch ein Zeichen gegen strukturelle Gewalt gegen Minderheiten. Dafür erntet sie bitterböse Blicke, manche allerdings gehen auch achtlos vorüber. Der ignorante Blick des Großstädters. Nirgends vollzieht er sich erschreckender als bei Malica Tomić, die mit einem Gewehr in der Hand durch die Straßen spaziert. Tomić wollte mit ihrer für ihre Heimatstadt Belgrad konzipierten Arbeit den Partisanen und Widerständlern, die sich gegen die deutsche Besatzung auflehnten und im Stadtbild nicht vorkommen, ein Denkmal setzen. Ihr Gang beschreibt eine Stadtkarte, verknüpft Wegmarken der Geschichte zu einem neuen Plan.

Ein nie gesehenes Bild der Stadt zaubert auch der japanische Künstler Sohei Nishino: Ein Wimmelbild von Berlin, zusammengesetzt aus hunderten 35 Millimeter kleinen Einzelbildern. Seine großartige Diorama Map, gewölbt wie ein Himmelszelt, lädt die Augen dazu ein, auf Wanderschaft zu gehen.

(Die Ausstellung »Walk!« ist noch bis zum 22. Mai 2022 in der Kunsthalle Schirn Frankfurt/M. zu sehen: www.schirn.de)

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