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SPD-Erneuerung ist möglich – auch in der Großen Koalition Geht doch! Mehr Begeisterung, bitte!

Am Morgen nach den für die SPD so verheerenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen rauschte – wie neuerdings bei jeder für die SPD unerfreulichen Begebenheit – die Erwartung geradezu fiebrig durch die Medien, nun wachse in der Partei der Druck, die Koalition in Berlin zu verlassen. Jetzt, nachdem die SPD im Februar in die sozialpolitische Offensive gegangen ist, kreist das Medienecho wieder um die Frage nach dem Ende der Koalition. Aber selbst der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert, der auf dem Mantra »Raus aus der Großen Koalition« seine Politkarriere aufgebaut hatte, wiederholt es derzeit nicht. Tatsächlich hat sich eine Flucht aus der Verantwortung bisher noch nie ausgezahlt. Es sei daran erinnert, dass es das Verantwortungsgefühl war, das die SPD erneut in die Koalition mit den Unionsparteien gebracht hat und sonst nichts. Die Gegner dieses Schrittes zweifelten, ob dieses Mal das gelingen würde, woran die Partei unter Franz Müntefering und Sigmar Gabriel gescheitert war: das eigene politische Profil erkennbar zu machen. Die Zweifel werden nun von Andrea Nahles und ihrem Vorstand ausgeräumt. Jedenfalls ist ein Anfang gemacht. »Geht doch!« möchte man den Koalitionsgegnern erwidern.

Altkanzler Gerhard Schröder hat die SPD mit dem gut sozialdemokratischen Satz »Erst kommt das Land, dann die Partei« einer politischen Folter unterzogen und ihr einen bis heute nachwirkenden Schaden zugefügt. Trotzdem bleibt der Satz prinzipiell richtig, der SPD würde auch schon der Anschein anders motivierten Handelns stark zusetzen, vielleicht mehr als anderen Parteien. Den innerparteilichen Gegner/innen der Großen Koalition in Berlin kann man die Sorge um die SPD nicht absprechen, aber ihre Analyse ist falsch. Nicht diese Koalition ist das Problem, sondern die SPD selbst – vielleicht sollte man hier ein optimistisches »noch« anfügen.

Es sind nicht mehr allein die Schäden, die Gerhard Schröder zu verantworten hat. Seine Kanzlerschaft endete vor mehr als 13 Jahren. Die SPD trauert aber immer noch über die alten Fehler und verdrängt dabei die neuen. Da hilft dann aber auch keine Opposition. Natürlich macht es Spaß, ungezwungen alles kritisieren und die schönsten Forderungen aufstellen zu können, gleichwohl bedeuteten 16 Jahre bundespolitische Wirkungslosigkeit in der Kohl-Ära eine gewaltige Frustration – milde ausgedrückt. Die Oppositionszeit von 1982 bis 1998 wurde aber durchaus für eine »Erneuerung« genutzt, wie man es heute in SPD-Kreisen formuliert. So hatte die Partei sieben Jahre nach der Abwahl Helmut Schmidts 1989 ein neues, das Berliner Grundsatzprogramm. Zentraler Gegenstand war – verkürzt formuliert – der durchaus plausible Versuch, soziale Verantwortung, wirtschaftlichen Erfolg und Umweltschutz gleichermaßen realisieren zu können. Willy Brandt hatte zudem bereits 1980 mit dem Nord-Süd-Bericht die Aufmerksamkeit auf die globale Ungleichheit gelenkt und Hans-Jochen Vogel hatte die Partei neu aufgerichtet und durch friedenspolitische Wahlkämpfe und Oppositionsjahre geführt. Das kann man rückblickend getrost als »Erneuerung« bezeichnen.

Die aktuell ausgerufene »Erneuerung« war aber bisher nur ein Wort ohne klaren Inhalt. Es ist höchste Zeit, dass endlich deutlich gemacht wird, was es genau bedeuten soll. Die Lage ist gleichwohl bedrohlich, denn ohne neue Glaubwürdigkeit drohen nach Ende der Amtszeit der aktuellen Koalition nicht nur mehr als 16 Jahre Opposition, sondern durchaus auch das Ableben der weltweit ältesten demokratischen Partei. Das erneute Jammern über die Schröder-Agenda oder eine modische, immer weiter ausdifferenzierte, Anerkennung von Identitäten und Diversitäten versprechen dagegen keine Abhilfe.

»Erst das Land« – das dürfte die SPD ruhig etwas modifizieren und sagen: »Erst die Menschen, dann die Partei«. Glaubhaft wird das aber erst, wenn die SPD erzählt, was es heute und künftig bedeutet, in einem sozialen Bundesstaat zu leben. Welches Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit ist damit noch vereinbar? Welche Balance zwischen individueller Risikobereitschaft und sozialer Sicherheit muss dieser soziale Bundesstaat herstellen? Darauf, dass diese soziale Verpflichtung im Grundgesetz verankert ist, war die SPD früher mit Recht stolz.

Es ist schwer erträglich, dass Banken mit Milliardenbeträgen gerettet werden, obwohl sie nicht selten eher kriminellen Vereinigungen ähneln, während den mehrheitlich ehrlichen Empfänger/innen von Sozialtransfers mit einem staatlichen Misstrauen ohnegleichen begegnet wird. Dieses politisch bisher geduldete Missverhältnis in eine erträgliche Balance bringen zu wollen, ist aller Anstrengung wert. Und eine auskömmliche Rente zu schaffen ebenfalls. Zu deren Wesenskern gehört, dass sie nicht nach Bedürftigkeit ausgezahlt wird.

Aber es gibt viel mehr zu tun. Beispiel bezahlbarer Wohnraum: Die Tatsache, dass der Boden wesensmäßig knapp und unter heute veränderten Bedingungen kapitalisiert ist, schließt eine große Zahl an Menschen von bezahlbarem Wohnraum aus. Eine gründliche Reform des Bodenrechts, wie sie Hans-Jochen Vogel seit Jahrzehnten fordert, wäre in der Tat eine radikalere Antwort als die – durchaus ehrenwerte – Rettung des sozialen Wohnungsbaus und die angekündigte Abgabe bundeseigener Grundstücke an Kommunen, um neuen Wohnraum zu schaffen. Dabei ist fraglich, ob diese als Entlastung gedachten Maßnahmen durch die vom Verfassungsgericht erzwungene neue steuerliche Bewertung von Grundstücken nicht neutralisiert werden.

Europa und dessen Militarisierung sind weitere Themen, die dringend der Debatte bedürfen. Offenbar aus Furcht vor weiteren Niederlagen lässt die SPD beides rechts liegen. Dabei kann man mit Europa zum einen sicher nicht nur in Frankreich reüssieren. Erste Texte aus der Europawahlkampfzentrale lassen aber noch wenig Hoffnung aufkommen, dass die SPD mit Europa punkten könnte. Zum anderen ist die Frage außerordentlich interessant, um welchen weltweiten Einfluss Europas es eigentlich geht, wenn damit permanent die Steigerung der Rüstungsausgaben begründet wird. Engere Beziehungen zu Russland gelten derzeit als unmoralisch und eine unmoralische Außenpolitik will niemand. Aber ist der alltägliche Reflex gegen zweifelhafte Staatslenker moralisch oder ist eher ein beharrliches Kämpfen für gute Nachbarschaft und friedliche Stabilität der moralische Dienst, den Außenpolitik zu leisten hat? Über solche Fragen wird schon lange nicht mehr hörbar diskutiert. Dementsprechend unbedarft sind die Antworten im heutigen Mainstream.

Der Aufkündigung des INF-Abkommens über atomare Mittelstreckenraketen kann durchaus auch ein Ende der Begrenzung strategischer Raketen folgen. Der – mancherorts verabscheute – Multilateralismus hat die Atomrüstungsproblematik erreicht. Die beiden größten Atommächte reichen nicht mehr aus, um Atomwaffen wirksam zu begrenzen und ihren Einsatz zu verhindern. Vermutlich legen sie deshalb auf die Rüstungsbegrenzung gerade keinen Wert mehr. Wann beginnt die Friedenspartei SPD – vor dem Hintergrund der gescheiterten INF-Rettungsversuche des Außenministers – sich der neuen Lage zu stellen?

Natürlich muss auch offen über Migration gesprochen werden. Dass sie vielen Menschen Angst macht, und dass Angst und Ungleichheit das politische Pendel eher nach rechts ausschlagen lassen, sind offensichtliche Tatsachen. Die politische Position, gleichzeitig Teil der Willkommenskultur und Beichtmutter der Angsterfüllten zu sein, ist sicher die schwierigste. Doch statt sich dieser Herausforderung zu stellen, zog es die SPD zu lange vor, ihre Position ganz zu verschweigen. Jetzt, da sich in den Reihen des Koalitionspartners immer mehr vom verabredeten Fachkräftezuwanderungsgesetz zu verabschieden scheinen, könnte das Thema endlich einmal offensiv angegangen werden!

All diese Leerstellen hat die SPD nach Schröder offengelassen. Der Ausgang der Wahlen in Bayern und Hessen beweist, dass die personell erneuerten Grünen diese programmatischen Lücken auszufüllen beginnen. Sie setzen sich auf den Platz, den die SPD verlassen hat. Und das kann man ihnen nicht verdenken. Sie beweisen, dass der Bedarf an einer SPD nach Art des Berliner Programms von 1989 weiterhin besteht. Und die SPD beweist, dass sie diese Partei aktuell – noch? – nicht ist.

Was wäre, wenn diese SPD die Koalition in Berlin verließe? Natürlich kann man darüber zunächst nur spekulieren, aber es könnte sein, dass ein erneuter Versuch zur Bildung einer Jamaika-Koalition mit einer nun ja vorhandenen anderen CDU- und CSU-Spitze gelänge. In einer solchen Koalition würden sich die Grünen als sozial-ökologisches Gewissen profilieren, die FDP sich das Wirtschaftswachstum und – wie immer – die Steuerfreiheit gewisser Zahnärzte auf ihre Fahnen schreiben und die Union wäre im Kanzleramt mit dem ganzen Rest beschäftigt. Wenn es aber stimmt, dass die SPD die oben genannten Lücken offengelassen hat, mit welcher Strategie könnte sie sie unter diesen Umständen in der Opposition füllen? Dass man nach gefühlten 20 Jahren Regierungsverantwortung nicht plakatieren kann, dass nun die Zeit für Gerechtigkeit anbreche, war doch Warnung genug vor zu viel Oppositionsillusion. Würde, was sich jetzt schon abzeichnet, der Platz der SPD im Parteiensystem dann nicht dauerhaft verloren gehen?

Was sollen die Menschen denken, denen die SPD mit dem Eintritt in die Große Koalition bestimmte Versprechen gemacht hat? Europa-, sozial- und wohnungspolitische Versprechen sowie das Versprechen, für eine stabile Regierung in instabiler Zeit zu sorgen? Jene, die bisher noch nicht von der SPD enttäuscht wurden, oder die die Enttäuschungen tapfer verwunden haben (in Bayern also jene legendären 9,7 %), dürften dann auch enttäuscht sein, der Weg in den Untergang wäre nicht mehr weit.

Nach wie vor könnte eine politische Situation, eine inhaltliche Unvereinbarkeit auf einem auch den Bürger/innen zentral wichtigen Gebiet entstehen, die die SPD zum Austritt aus der Berliner Koalition zwingt. Das allerschlimmste aber, was die Partei machen könnte, wäre, die Koalition platzen zu lassen, weil sie sich einen parteiegoistischen Vorteil davon erhofft. Außer vom Juso-Vorsitzenden würde es überbordenden Applaus von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht geben, die sich schon auf das böse Erwachen der SPDler freuen, wenn der Rausch der Erleichterung danach ausgeschlafen sein wird. Überrascht von der sozialpolitischen Offensive der SPD, fällt der Linkspartei tatsächlich nichts anderes ein, als der SPD den raschen Bruch der Koalition zu empfehlen.

Niemand sagt, dass es in dieser Koalition leicht ist. Zuletzt hat etwa die SPD- Umweltministerin Svenja Schulze einen Weg gewiesen, wie man zugleich loyal zu Koalitionsabsprachen stehen und doch eine eigene Überzeugung deutlich machen kann, als sie wider besseres Wissen für nur 30 % Emissionsverringerung in Brüssel eintreten sollte und schließlich doch mit mehr, nämlich 35 % zurückkam. Ungeachtet ihres späteren PR-Debakels zum Thema Tempolimit bleibt das ein gutes Beispiel.

Weniger überzeugend agiert Vizekanzler Olaf Scholz, der sich auf die Rolle der grauen Eminenz beschränkt und neuerdings kleinteilig vorrechnet, wer wann wie viel mehr Geld vom Staat bekomme, weil ein Sozi Finanzminister ist. Er hat einmal während der Koalitionsverhandlungen gesagt, dass ihm dort sehr deutlich vor Augen gestanden habe, warum er Sozialdemokrat sei. Als Generalsekretär der Partei wollte er dereinst den Begriff demokratischer Sozialismus streichen. Auch deshalb hätte es viel geholfen, wenn er etwas von der Begeisterung über seine eigenen Überzeugungen einer breiteren Öffentlichkeit übermittelt hätte. Stattdessen das Thema ausgeglichener Haushalt: Jeder hätte es verstanden, dass es sinnlos ist, Steuern zu erhöhen, wenn man die vorhandenen Einnahmen schon jetzt aus Kapazitätsgründen nicht schnell genug ausgeben kann, aber einfach die mit dem Austeritätsgeruch behaftete, schäublesche Parole von der »schwarzen Null« zu übernehmen, dürfte Erneuerungserwartungen deutlich gedämpft haben.

Beide Beispiele zeigen das gestalterische Potenzial, welches theoretisch vorhanden ist. Gerhard Schröder als gealtertes und Sigmar Gabriel als ehemaliges »Alphatier« zeigen aber auch, welches gegenteilige, quasi autoaggressive Potenzial immer wieder aufscheint, indem sie als dessen Sprachrohr fungieren. Übrigens: Bei Schröders Ausfällen gegen die Parteivorsitzende lohnt es, an seine sehr ähnlichen Ausfälle gegen Angela Merkel zu erinnern. Als jene sich anschickte, Schröders Nachfolgerin im Kanzleramt zu werden, hatte sie zwei Merkmale mit der heutigen Andrea Nahles gemeinsam: das ungefähre Lebensalter und das Geschlecht. Es scheint selbst bei Gerhard Schröder außer der Freundschaft mit Wladimir Putin weitere konstante Haltungen zu geben. Worauf es jetzt aber für alle anderen Sozialdemokrat/innen ankommt, ist Beharrlichkeit. Die SPD muss mangelnde Solidarität ebenso aushalten wie die Tatsache, dass die neue Offensive nicht unmittelbar Erfolge zeitigen wird. Der Kurs, sozialdemokratische Überzeugung auf die neue Zeit anzuwenden, wird noch viel Arbeit machen und noch viel Zeit kosten, bis er sich in Umfragen und Wahlergebnissen auszahlt. Als Ratschlag getarnte Aggression gegen die eigene Partei(-führung) wird diese Zeit bloß verlängern.

Die SPD kann tatsächlich in der Regierung deutlich machen, wo und warum sie über die Projekte hinaus, die sie gegenwärtig in der Regierung realisiert, weiter voranschreiten wird – und wie sie die Macht dafür gewinnen will. Sie kann selbst bei Übereinstimmungen, wie es beispielsweise seriöse Haushaltspolitik ist, ihre womöglich anderen Gründe zu Gehör bringen und sie kann etwas von der Begeisterung über die eigenen Überzeugungen vermitteln, die sie über die gegenwärtige Koalition hinaus antreiben. Zugleich muss sie aufhören, von »Erneuerung« zu reden. Sie muss durch Handeln zeigen, wessen Interessen sie vertreten und wie sie sozialen Zusammenhalt bewirken will. Der Generationenwechsel ist vollzogen, Parteivorstand und Minister/innenriege deutlich jünger als zuletzt. Nun müssten die auf Ochsentouren gestählten Führungskräfte aber etwas offenbar Ungewohntes an den Tag legen: Jetzt muss die Begeisterung für die eigenen Überzeugungen hervortreten. Leute, ihr macht das nicht, weil ihr nun einmal Politiker/innen geworden seid, sondern weil ihr für die Sache, besser: für die Menschen, brennt! Euch interessieren deren Sorgen, alles andere kommt erst sehr viel später. Denn erst wenn die Menschen das spüren, kann es wieder aufwärts gehen.

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