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Kommentar zum Abschluss der SPD-Kandidat/innentour Gemeinsam wieder stark?

Wann hat es zuletzt ein so starkes und authentisches Bild sozialdemokratischer Solidarität gegeben? Zum Ende der oft überfüllten Vorstellungsveranstaltungen nahmen sich alle, die Parteivorsitzende werden möchten, an die Hand und verbeugten sich gemeinsam vor dem Publikum. Wie eine verschworene Theatertruppe, der eine beeindruckende Aufführung gelungen ist, die aber vor allem weiß, dass sie nur im erprobten Zusammenwirken erfolgreich sein kann.

Dabei hätten bei einer solchen Ochsentour die Nerven auch blank liegen können. In diesen fünf Wochen des diskursiven Experiments vor fast 20.000 SPD-Mitgliedern live vor Ort sowie mehr als zehnmal so vielen Zuschauern im Internet markierten die gemischten Kandidatenpaare auf 23 Veranstaltungen in ganz Deutschland Positionen, schärften ihre Profile und skizzierten Programmatisches.

Vor allem aber transportierte sich, auch mit beachtlichem Medienecho, ein anständiger Umgang miteinander, eine neue unterhaltsame Stimmung offener, ehrlicher, freundlicher und sachpolitisch orientierter Debattenkultur. »Der Gewinner ist die Partei«, so überschrieb selbst die FAZ einen Bericht über die fairen Regionalkonferenzen. Dass gegen Ende der Tour – von Saarbrücken bis Dresden, von Neumünster bis München – immer noch keine eindeutigen Favoriten erkennbar waren, könnte eine besondere List der Vernunft sein. Wird so nicht der kollektive Teamgeist, eben das sozialdemokratische Gemeinschaftsgefühl, zum eigentlichen Sieger? Die Wiederherstellung des innerparteilichen Zusammenhalts dürfte, so er anhält, für die Zukunft der SPD entscheidender sein, als die Frage, wer letztlich in der basisdemokratischen Mitgliederbefragung das Rennen macht.

Ein Fest der innerparteilichen Demokratie? Vielleicht kamen die Konferenzen sogar dem Ideal der deliberativen Demokratie nahe. Über Bedingungen des rationalen Diskurses lesen wir bei Jürgen Habermas, er sei »die argumentative Form des Austausches von Informationen und Begründungen; die öffentliche und alle Beteiligungsberechtigte einschließende Beratung, zumindest die gleiche Chance des Zugangs zur und der Teilnahme an der Beratung; das Fehlen externer und interner Zwänge bei der Beratung (›ideale Sprechsituation‹)«.

Das passte schon ganz gut – obwohl, in der Realität ließen sich natürlich nicht alle Zwänge wegdefinieren. Das Format führte dazu, dass manches, da man nur ein paar Minuten Zeit für ein Argument hatte, plakativ verkürzt werden musste, worin allerdings auch eine Chance liegt, die Peter Glotz »Die Arbeit der Zuspitzung« nannte. Und zudem kommt es auf die Performanz an, gerade in der Mediengesellschaft ist handlungsorientierte Kommunikation, wie man das Politische ja definieren kann, immer auch wesentlich Auftritt, Rhetorik, Körpersprache, Erscheinungsbild, Inszenierung usw.

Die Skepsis gegenüber dem Verfahren an sich verflog nach den ersten Veranstaltungen – und eigentlich ist die Doppelspitze für die SPD ja auch nichts Neues: Über die Hälfte ihrer Geschichte wurde sie von zwei Vorsitzenden geführt, in der Vergangenheit allerdings noch nicht geschlechtsparitätisch, am erfolgreichsten bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg von August Bebel und Paul Singer.

Wo gewisser Unmut blieb, war es das Bedauern darüber, dass man die Teams nicht selbst zusammensetzen, nicht kumulieren und panaschieren durfte. Ist jemand meine Frau bzw. mein Mann, so muss dies ja nicht unbedingt für den jeweiligen Partner bzw. die Partnerin gelten. Das machte die Wahl für Viele ziemlich schwierig.

Es kam zur Profilschärfung der Kandidatinnen und Kandidaten, notwendigerweise, die Orientierung an Sympathien und Vertrauensvorschuss wäre zu wenig. So kristallisierten sich bei jedem Team Charakteristika heraus, von denen sich bestimmte Mitgliedermilieus besonders angesprochen fühlen dürften: für gerechtere Steuerpolitik und bessere Daseinsvorsorge, gerade im Internetzeitalter (Saskia Esken, Norbert Walter-Borjans) / für Verjüngung, visionären Optimismus, Erneuerung des Aufstiegsversprechens (Christina Kampmann, Michael Roth) / für starkes sozialpolitisches Regierungshandeln und gute Arbeit, besonders in Ostdeutschland (Klara Geywitz, Olaf Scholz) / für Sicherheit, als Brückenbauer, mit besonderem kommunalen und ostdeutschen Blick (Petra Köpping, Boris Pistorius) / für Wertorientierung, das sozialdemokratische Narrativ und programmatische Standfestigkeit in der globalisierten Welt (Gesine Schwan, Ralf Stegner) / für das Primat von Ökologie und Gesundheit, sowie den sofortigen Ausstieg aus der Groko (Nina Scheer, Karl Lauterbach).

Natürlich brachte jedes dieser zuletzt noch sechs Teams mehr mit als nur diese Stichworte. Alle hatten auf den meisten Politikfeldern oft programmatisch durchdachte und manchmal höchst komplexe Antworten – und haben damit den Parteivorsitzendentest gewissermaßen in zweifacher Hinsicht bestanden, sie haben Durchhaltevermögen bewiesen und sich auch als Generalisten bewährt.

Entscheidender aber scheint, dass bei aller unterschiedlichen Akzentuierung im Einzelnen Gemeinsamkeiten überwogen. Die Regionalkonferenzen vermittelten einen guten Eindruck davon, in welche Richtung sich die SPD von unten her erneuern dürfte:

  • Ein Plädoyer zieht sich durch – selbst der Vizekanzler widerspricht hier nicht –, die SPD braucht ein eigenständiges Profil, das nicht mit dem, was in der Regierung durchsetzbar ist, deckungsgleich ist, sondern weiter geht. Alle sind sich einig, dass die Große Koalition keine Zukunft mehr hat. Nur ob sie sofort, demnächst mit gutem Grund oder zum Ende der Legislaturperiode enden sollte, dazu gibt es unterschiedliche Meinungen. Doch letztlich sollten rot-grün-rote Koalitionen zur angestrebten Reform- und Machtalternative werden.
  • Unbestritten ist, dass der wieder dringender gewordene Kampf gegen die rechten Demokratiefeinde, gegen Rassisten, Faschisten, Rechtspopulisten und Rechtsterroristen, gegen die AfD als parlamentarischen Arm der Rechten, wie in der deutschen Geschichte nach wie vor zentral zur DNA der SPD gehört.
  • Die Klimaproteste der Schülerinnen und Schüler haben dazu beigetragen, das Thema Ökologie, seit den 90er Jahren eher vernachlässigt, wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Ohne eine nachhaltige Stabilisierung der globalen Umweltkrise werden sozialdemokratische Grundwerte, werden Frieden und Migrationssteuerung kaum mehr realisierbar sein: der sozialökologische Umbau als Alleinstellungsmerkmal der SPD, denn ökologische und Gerechtigkeitsfragen hängen eng zusammen. Ökologische Lenkung darf nicht zu sozialen Verwerfungen, weiteren Zukunftsängsten und Entsolidarisierung führen. Alle, auch die Ärmeren, müssen bei den notwendigen Verhaltensänderungen mitgenommen werden.
  • Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung ist die Abkehr von neoliberalen Grenzüberschreitungen der Vergangenheit Konsens, wenn auch unterschiedlich akzentuiert. Als Kern sozialdemokratischer Identität erweist sich eine Politik neuer Verteilungsgerechtigkeit, auch durch Wiedereinführung einer Vermögensteuer, sowie die Stärkung des Sozialstaates, dessen Lebenssicherung in den entscheidenden Bereichen der Daseinsvorsorge wieder funktionieren muss. Konzepte »guter Arbeit«, gerade angesichts der Digitalisierung, kommen hinzu. Für die notwendigen sozialen und infrastrukturellen Zukunftsinvestitionen wird die »schwarze Null« als Dogma weitgehend infrage gestellt.
  • In der Stärkung der Kommunen und Regionen wird ein zentrales Mittel gesehen, dem Auseinanderfallen der Gesellschaft entgegenzuwirken und Probleme vor Ort konkret anzugehen. Denn Zusammenhalt, Integration, politische Kommunikation und Brücken über soziale Milieus hinweg, Heimat und demokratisches Bewusstsein entstehen dort. Bürgernähe, Vertrauensarbeit, Verwurzelung in der Gesellschaft: Der Neuaufbau der SPD wird allseits stark von der kommunalen Basis her gedacht.
  • Die SPD beginnt zu erkennen, dass ökonomische, soziale und strukturelle Fragen nicht alles sind, sondern, dass mit diesen natürlich zusammenhängende, kulturelle Dimensionen wichtiger werden, die kompliziertere Antworten erfordern. Das bezieht sich nicht nur auf die Identitätspolitik, sondern zielt auch auf besondere Erfahrungen Ostdeutschlands wie auch auf den mentalen Graben zwischen den sogenannten »Somewheres« und »Anywheres«.
  • Nicht von ungefähr berufen sich alle immer wieder auf Willy Brandt, denn so möchten alle ihre SPD sehen: wertorientiert, traditionsbewusst, gleichzeitig der Zukunft gegenüber aufgeschlossen, als europäisches Projekt der linken Mitte, mit einer globalen Dimension von Friedens- und sozialökologischer Entwicklungspolitik.

Wieweit all diese Themen das Wahlergebnis überhaupt beeinflussen, weiß man nicht. Bei aller Euphorie: 430.000 SPD-Mitglieder sind ein anderes Elektorat als die 5 % davon, die die Konferenzen besuchten. Doch jede neue Parteispitze wäre gut beraten, diese Impulse der aktiven Parteibasis, hier zugegebenermaßen pointiert und subjektiv zusammengefasst, ernster zu nehmen als bisher. Denn wenn nicht dauerhaft profilierte Erkennbarkeit und klare Beschreibung des Reformweges an die Stelle von mangelndem Selbstbewusstsein, von Orientierungsschwäche und Zerstrittenheit treten, wird sich die Krise der SPD fortsetzen. Die Regionalkonferenzen könnten demgegenüber als solidarischer Anfang des Wiederaufstiegs in die Geschichte eingehen.

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