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Gemeinschaft und Gesellschaft – altes Spannungsverhältnis mit neuer Relevanz

Spätestens seit der umfassenden Analyse Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz von 2017 hat das Erklärungsmodell einer neuen Konfliktachse kultureller Identitätspolitik, die die traditionelle Rechts-Links-Achse überlagere, Konjunktur. Veränderungen der politischen Kultur und der europäischen Parteienlandschaft, die Krise der Sozialdemokratie und das Erstarken der Rechtspopulisten sollen damit interpretierbar werden. Mittlerweile verortet sich wohl, wie die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung »Das pragmatische Einwanderungsland« ermittelt hat, welche die nationalen und weltoffenen Einstellungen zur Migration gegenüberstellt, jeweils ein Viertel der Deutschen an einem der beiden Pole; zudem hat vor allem Wolfgang Merkel vom WZB empirisch nachgewiesen, dass dies in anderen europäischen Ländern kaum anders ist. Ob man diese Pole, Merkel folgend, Kommunitaristenbzw. Kosmopoliten nennt oder, wie David Goodhart, von der wachsenden Wertekluft zwischen den »Somewheres« und den »Anywheres« spricht: Auf der einen Seite sammeln sich die Globalisierungsgewinner, besser gebildet und ausgestattet mit mobilem Human-, Sozial- und Kulturkapital, als Grenzöffner und Vertreter universaler Menschenrechte. Dem stehen die Globalisierungsverlierer, die Ängstlichen und Verunsicherten gegenüber mit vergleichsweise niedriger Bildung, geringerem Einkommen und lokal-stationärem Human-, Sozial- wie Kulturkapital. Sie befürworten Grenzen, die umfassend Güter, Dienstleistungen, Kapital, Arbeitskräfte, Geflüchtete und Asylsuchende zurückhalten und lehnen die Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen, auch an Europa, ab.

Diese Konfliktlinie hat im Strukturwandel der Moderne in den letzten Jahren, so der weitgehende Konsens der Sozialwissenschaften, offenbar außerordentliche politische Relevanz erlangt. Kaum reflektiert wurde dabei, dass sie nicht etwas vollständig Neues darstellt, sondern eine bekannte sozialwissenschaftliche Debatte unter neuen historischen Vorzeichen fortsetzt. Sie steht in der Tradition der soziologischen Grundbegriffe von »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, wie sie 1887 von dem deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies, zunächst relativ unbeachtet, als idealtypisches Gegensatzpaar systematisiert wurden. Von der deutschen Jugendbewegung aufgegriffen, in den Zusammenhang der letztlich kriegslüsternen Abgrenzung einer als tiefgründig und wertvoll verstandenen deutschen Kultur gegen die als oberflächlich dargestellte westliche Zivilisation gestellt, wurde Gemeinschaft erst recht in den 20er Jahren zum prägenden Kampfbegriff des autoritären Nationalismus gegen die Weimarer Demokratie.

Als Gemeinschaft bezeichnete Tönnies alle stabilen, naturwüchsigen, echten, gefühlsmäßigen, traditionalen, authentischen, warmen, selbstzweckhaften, natürlichen und lebendigen Verbindungen von Menschen. Demgegenüber sei Gesellschaft eine temporäre, gemachte, scheinbare, künstliche, konstruierte und kalte Assoziation, besonders deutlich in den anonymen geschäftlichen Tauschbeziehungen. Originalton Tönnies: »Alles vertraute, heimische, ausschließliche Zusammenleben (…) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit, ist die Welt. In Gemeinschaft mit den Seinen findet man sich, von der Geburt an, mit allem Wohl und Wehe daran gebunden. (…) Dagegen hat aller Preis des Landlebens immer darauf gewiesen, dass dort die Gemeinschaft unter den Menschen stärker, lebendiger sei: Gemeinschaft ist das dauernde und echte Zusammenleben, Gesellschaft nur ein vorübergehendes und scheinbares. Und dem ist es gemäss, dass Gemeinschaft selber als ein lebendiger Organismus, Gesellschaft als ein mechanisches Aggregat und Artefact verstanden werden soll.«

Dies verweist auf manch aktuelle Debatte um Kommunitarismus und Kosmopolitismus. Denn auch dort geht es um gewachsene Strukturen, bedrohte Heimat und Weltoffenheit, um abgehängt-zurückgebliebene Milieus und Landstriche und die schnelle Auflösung des Althergebrachten, eine neue akademische Klasse der multikulturellen Distinktion in Metropolen voller Entgrenzung, Entwurzelung und Globalisierung.

Und bereits bei Tönnies war angelegt, dass es sich nicht nur um analytische »Grundbegriffe der reinen Soziologie« handelt, sondern darüber hinaus, wie eigentlich bei allen wichtigen soziologischen Begriffen von Familie bis Demokratie, auch um politisch-normative Narrative, die »umkämpft« bleiben, wie Hartmut Rosa formulierte. Der Kern dieser Erzählung lautete zumeist: Gemeinschaft werde von der modernen Gesellschaft verdrängt und zerstört, was bleibe, sei die Hoffnung zur Gemeinschaft von früher zurückkehren zu können.

Empirisch ist das Bild von der fortschreitenden Erosion jeglicher Gemeinschaft kaum haltbar, die Vorstellung der Rückkehr gehört eher ins Reich sozialromantischer Illusionen. Vielmehr dominiert wohl die (an sich ja begrüßenswerte) Verschiebung von Schicksalsgemeinschaften hin zu Wahlgemeinschaften, handelt es sich in Wirklichkeit um einen wiederkehrenden Prozess: Die fortschreitende gesellschaftliche Moderne löst aufgrund der mit ihr verbundenen Entfremdungserfahrungen immer wieder gemeinschaftliche Gegenbewegungen aus – diese reaktivieren Identität und Solidarität, können sich allerdings auch gegen alles Fremde und Neue richten. Sie können links, rechts oder, wie aktuell bei den französischen Gelbwesten, bunt schillernd konnotiert sein. Aber auch der gegenteilige Prozess hört nicht auf: Traditionelle, homogene, autoritäre Gemeinschaften werden als eng und beschränkt erfahren, ganze Landstriche entleeren sich auch wegen der Flucht der besser Gebildeten und Jungen »aus dem Idiotismus des Landlebens« (Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei) in das Tollhaus des Stadtlebens, in das gesellschaftliche Versprechen von Freiheit und Unabhängigkeit.

Die Verklärung von Gemeinschaft wäre ebenso falsch wie deren arrogante Abwertung im Namen von Individualität und kultureller Vielfalt, als ob Gemeinschaft, will sie verbindlich sein, unausweichlich die Freiheit zu Vielfalt und Anderssein zerstören müsse. Gemeinschaftsbildung muss keineswegs provinziell, regressiv und reaktionär, »von gestern« sein. Vielmehr geht es auch um die Anerkennung und Würde der sogenannten kleinen Leute, um deren berechtigte Zukunftsängste, um Widerstand gegen unsoziale Globalisierungsfolgen, um reale Problem- und Enteignungserfahrungen, zu denen auch Unsicherheitsgefühle angesichts von Zuwanderung und Erfahrungen gescheiterter Integration gehören. Christian Graf von Krockow hatte das einst auf den Punkt gebracht: Gemeinschaft sei nicht die Alternative, »sondern eine spezifische Möglichkeit der modernen Gesellschaft«.

Doch im Zeitalter der großen Ideologien wurde Gemeinschaft als fundamentaler Gegenentwurf zur bürgerlichen Demokratie und kulturellen Moderne politisch unterschiedlich instrumentalisiert: in Deutschland vor allem als nationalistisch-rassistische »Volksgemeinschaft« (die als »betrogene« Schicksalsgemeinschaft der NS-Kriegsgeneration in der frühen Bundesrepublik fortlebte); aber auch als sowjetkommunistische Gemeinschaft nach Aufhebung der gesellschaftlichen Widersprüche und Klassenkämpfe, dem angeblichen Endziel aller Geschichte; oder als utopisch-sozialistischer Auszug aus der Gesellschaft hinein in alternative (und oft spirituelle) Gemeinschaften, eine Vision, wie sie in den Neuen Sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre – von den Landkommunen bis zur Hausbesetzerbewegung – virulent war.

In Deutschland überwog die Polarisierung von Gemeinschaft und Gesellschaft von rechts, die gewaltsam gegen Andere, vor allem die »kosmopolitischen« Juden, die »Untermenschen« im Osten und alle »Volksverräter« gerichtet war. Den faschistischen wie kommunistischen Gemeinschaftsradikalismus, die Gemeinschaft als totalitäre Identitätspolitik hatte bereits Helmuth Plessner 1924 in Grenzen der Gemeinschaft sozialphilosophisch kritisiert. Das menschliche Wesen sei sowohl auf gemeinschaftliche Nähe als auch auf gesellschaftliche Distanz notwendig angewiesen.

Schon bei dem im Lebenslauf späten Sozialdemokraten Tönnies war angelegt, dass es eigentlich beides braucht, den auf Gegenseitigkeit und Solidarität zielenden »Wesenswillen«, die »Gemeinschaft der Sprache, der Sitte, des Glaubens«, und den auf instrumentellen Nutzen abzielenden »Kürwillen«, die »Gesellschaft des Erwerbs, der Reise, der Wissenschaften«. Alle weitere geschichtliche Erfahrung mit diesem idealtypischen Gegensatzpaar läuft letztlich darauf hinaus, dass es auf gesunde Mischungsverhältnisse ankommt: Die Verabsolutierung von Gemeinschaft bedeutet Stagnation, wirkt autoritär, ausgrenzend, Feindbilder produzierend und antidemokratisch. Andererseits ist eine Gesellschaft, die nur individualistischen Werten und marktliberalen Ideologien folgt, kaum zur Solidarität fähig. Denn in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmtes Zitat: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann«, zehrt die moderne Gesellschaft von Gemeinschaftsressourcen, die sie selbst nicht herzustellen vermag.

So erweist sich nicht »Gemeinschaft oder Gesellschaft« als die politisch relevante Alternative, sondern das »Brücken bauen« oder die »ideologische Polarisierung«. Auch eine demokratische und moderne Gesellschaft braucht »Vergemeinschaftung«, es spricht viel für diesen graduellen und prozeduralen Begriff, denn ganz ohne Wir-Gefühl, ohne Einbettung, ohne Wertekanon und Vergewisserung kollektiver Identitäten funktioniert sie eben nicht.

Natürlich ist die Würde aller Menschen unantastbar. Natürlich gibt es weltweite Verantwortung, allzumal immer mehr Probleme zu globalen werden. Doch Vergemeinschaftung einfach grenzenlos auszudehnen auf die Weltgemeinschaft, damit den Weltbürger absolut zu setzen, geht an den kulturell unterschiedlichen Erfahrungswelten der meisten Menschen vorbei, entlarvt sich als sympathischer Idealismus.

Denn es braucht für Gemeinschaftsgefühle auch die noch irgendwie überschaubare kleine Einheit: die Region und Mitwelt, das soziale Milieu, in der sich Solidarität und Vertrauen bedingen (in diesem Sinne ist das Subsidiaritätsprinzip vielleicht das beste Mittel gegen Nationalismus). Der unmittelbare soziale Erfahrungsbereich in der Nachbarschaft, der Lebenswelt, der Zivilgesellschaft »gilt daher völlig zu Recht als moralische Infrastruktur der Gesellschaft. (…) Besonders wichtige soziale Erfahrungsorte solidarischer Gemeinschaftspraxis sind deshalb neben Familie und Arbeitswelt das bürgerliche Ehrenamt, die Gewerkschaftsarbeit, kulturelle und religiöse Lebensformen und (Sport-)Vereine, das öffentliche Engagement in nachbarschaftlichen sowie den immer bedeutsamer werdenden zivilgesellschaftlichen Initiativen und eben insgesamt alle Tätigkeiten in den Kommunen«. So brachte dies jüngst das Solidaritätspapier der SPD-Grundwertekommission auf den Punkt.

Gemeinschaft ist der Hort der Solidarität. Der Sozialstaat ist die organisierte gesellschaftliche Solidarität. Eine gute Gesellschaft braucht beides. Nicht um den Kampf gegeneinander geht es, sondern letztlich kommt es auf die Ausgestaltung von Gemeinschaften an. Sind diese demokratisch oder totalitär aufgestellt? Um dies beantworten zu können, gilt es, die folgenden handlungsleitenden Fragen immer wieder zu stellen:

Was ist das Gemeinsame der Gemeinschaft? Wo sind die Grenzen ihrer Mitgliedschaft? Wie offen bzw. restriktiv ist das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft? Wie offen bzw. feindselig wird mit den Nichtzugehörigen umgegangen? Ist der Gemeinschaft wirklich die Ausgrenzung Fremder innewohnend und wo können Gemeinschaften auch tolerant, offen und demokratisch sein? Wo stellen Gemeinschaften die liberale Gesellschaft infrage, wo sind Gesellschaften, denken wir an Identitätsbildung, Sozialkapital, Einübung von Demokratie, nicht geradezu auf Gemeinschaft angewiesen? Wieweit können Sozialverhältnisse auch über die Gemeinschaft hinaus Gegenseitigkeit entwickeln, als Verfassungspatriotismus orientieren, als soziale Bürgerrechte die Marktfreiheit regulieren oder mit Gesetzen und klaren Regeln Respekt und Toleranz durchsetzen?

Gerade wenn man nicht, wie Alexander Gauland dies tut, im Namen der nationalen Heimat ein Feindbild des »Egoismus der globalisierten Klasse« ausrufen will, stellt sich für den international eingebundenen, kulturell vielfältig und widersprüchlich gewordenen Nationalstaat die Frage: Wieweit bedarf eine Nation gemeinschaftlicher Fundierung als Basis der Akzeptanz von Solidarität und Sozialstaat? Wieweit sollte ein gemeinschaftliches »Wir« Selbstbeschreibung und Selbstverpflichtung auch einer modernen Gesellschaft sein? Ist es bei allem Pluralismus nicht notwendig, Gesellschaft immer auch als Solidar- und Wertegemeinschaft zu empfinden, um notwendige Korrektive zum radikalen Marktliberalismus und zur kulturellen Desintegration zu entwickeln? Eine solche Frage im Namen einer europäischen Kulturnation sollten wir nicht vorschnell als nationalistisch diskreditieren.

Kommentare (1)

  • Gerhard Friedl
    Gerhard Friedl
    am
    Ich würde es begrüssen, wenn man bei Zitaten die Quellen angeben würde. Mit Buchtitel, Jahrgang, Seitenzahl etc. - wie man es im wissenschaftlich seriösen Betrieb halt so macht.

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