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Darf man Louis-Ferdinand Céline ehren? Genie, Rassist und Antisemit

Günter Grass lobte die »Unbeirrbarkeit seines Stils« und »die abrupte Abkehr vom klassischen Formwillen«, Wolfgang Koeppen war fasziniert von seinen Romanen, und Günter Herburger nannte ihn den »vehementesten Haßdichter, den ich kenne«. Die Rede ist von Louis-Ferdinand Céline (1894–1961), der wegen seiner antisemitischen Ausfälle während des Zweiten Weltkriegs und seines Bekenntnisses zum Faschismus nach wie vor umstritten ist, den einen hassenswert, den anderen als einer der bedeutendsten französischen Autoren des 20. Jahrhunderts erscheint.

Berühmt wurde vor allem sein erster Roman Reise ans Ende der Nacht von 1932, dem wenig später Tod auf Kredit folgte. In beiden Werken gab sich Céline als radikaler Anarchist zu erkennen, der den Krieg und das Militär hasste. Die französische Linke hatte ihn deswegen zunächst als einen der ihren angesehen. Später schwenkte Céline nach rechts, feierte in der Kollaborationspresse und in mehreren berüchtigten Pamphleten den Faschismus und forderte: »Den Juden an den Galgen, und sofort!« Wie es zu dieser radikalen Kehrtwende kam, hat keine befriedigende Erklärung gefunden. Bei Kriegsende wurde Céline in Abwesenheit von einem französischen Gericht zum Tode verurteilt. Zu dem Zeitpunkt war er nach Deutschland geflohen, in Dänemark interniert und in Auslieferungshaft genommen worden. Als er 1951 nach Frankreich zurückkehrte, jetzt ein körperlich gebrochener Mann, nahm man kaum noch Notiz von ihm. Zehn Jahre später bei seiner Beerdigung weigerte sich der Pfarrer, ein Gebet für den ehemaligen Armenarzt aus Meudon zu sprechen.

Seither hat sich das gesellschaftliche Klima in Frankreich verändert. Als sich Célines Todestag 2011 zum 50. Mal jährte, wurde sein Name auf Betreiben des Vorsitzenden des Vereins ehemaliger Deportierter, Serge Klarsfeld, von der Liste der célébrations nationales, der offiziellen Geburts- und Gedenktage, gestrichen. Prominente Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut protestierten vergeblich gegen diese Entscheidung, aus Sorge, sie würde nur das Gerücht über eine angebliche »jüdische Lobby« bestärken. Der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy bekannte sich als begeisterter Leser von Céline: »Man kann Céline lieben, ohne Antisemit zu sein, so wie man Proust lesen kann, ohne homosexuell zu werden.« Frankreichs derzeitiger Präsident Emmanuel Macron meinte in einem Gespräch mit Michel Houellebecq, man könne von Céline lernen, die »Sorgen des Mannes auf der Straße« ernst zu nehmen.

In der Tat war man in Frankreich stets daran interessiert, zwischen literarischer Qualität und ideologischer Bindung zu unterscheiden. Doch Céline? Sein literarischer Ruhm stützt sich weitgehend auf die Romane Reise ans Ende der Nacht und Tod auf Kredit, Werke, die in der Zwischenkriegszeit entstanden waren, aber bereits den radikal pessimistischen Blick des Autors auf die menschliche Natur erkennen ließen: Triebhaftigkeit, Grausamkeit, Schmutz. Nach der Rückkehr von einer zweimonatigen Reise in die Sowjetunion wechselte der Romanautor 1936 abrupt zum politischen Pamphlet – Bagatelles pour un massacre, L'École des Cadavres und Les Beaux Draps. Diese Texte sind durchsetzt von antijüdischen Parolen und explizit rassistischen Angriffen. André Gide, den Céline später als »schwules Arschloch« beschimpfte, hielt die Pamphlete nach erster Lektüre für eine Satire. Aber dieser wilde Antisemitismus war frei von jeder Ironie. Gottfried Benn, auch er Arzt und Schriftsteller, schrieb über den Kollegen: »Über Céline habe ich mir schon Gedanken gemacht (…) Er ist ein primärer Spucker und Kotzer. Er hat ein interessantes elementares Bedürfnis, auf jeder Seite, die er verfaßt, mindestens einmal Scheiße, Pisse, Hure, Kotzen zu sagen. Worüber ist nebensächlich.« Der Philosoph Robert Redeker fasste es kürzer: »Er schreibt nicht, er spuckt.«

Dass es sich bei den antisemitischen Pamphleten keineswegs um Bagatellen handelt, war ihrem Autor zweifellos bewusst. Vor seinem Tod distanzierte er sich von diesen Machwerken und untersagte jede weitere Publikation. Seine Witwe Lucette Destouches, eine ehemalige Tänzerin, die im November 2019 im Alter von 107 Jahren starb, hielt sich bis ins hohe Alter an dieses Verbot, setzte sich aber zuletzt aus unbekannten Gründen darüber hinweg. So konnte Célines Verleger Antoine Gallimard für den Sommer 2018 eine Ausgabe der inkriminierten Texte ankündigen, womit er aber nur einen neuen Sturm der Entrüstung auslöste. Erneut wurde Serge Klarsfeld aktiv und forderte ein striktes Verbot. Frankreichs Premierminister Édouard Philippe bestellte Gallimard persönlich ein und plädierte für eine kommentierte Ausgabe. Klarsfeld kündigte an, gegen den Verlag zu klagen, sollten diese Hasstiraden erscheinen.

Der neuerliche Streit um Céline ignoriert freilich die Tatsache, dass seine Pamphlete schon vor Jahren von einem frankokanadischen Verlag unter dem Titel Écrits polémiques veröffentlicht worden waren, kommentiert von dem Literaturwissenschaftler Régis Tettamanzi. Gallimard wollte diese Ausgabe ursprünglich übernehmen, nun will er sie einer gründlichen Revision unterziehen und dann über eine Neuausgabe entscheiden. Die Wiederbegegnung mit den rassistischen Texten Célines, die heute im Internet zugänglich sind, könnte ein Anlass sein, sein Werk insgesamt auf den Prüfstand zu stellen. In die französische Klassikerbibliothek, die berühmte Pléiade, hatte Céline schon Anfang der 60er Jahre Einzug gehalten. Eine Gesamtausgabe aber gibt es bis heute nicht. Im Streit um diesen Schriftsteller ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen. Zweifellos gehört sein dichterisches Werk zu den großen des 20. Jahrhunderts, auch wenn es sich von den Exzessen seiner politischen Texte nicht trennen lässt.

Diese Widersprüchlichkeit bestimmte auch die reale Person Céline. Er war ein rabiater Rassist und manischer Antisemit, der gleichwohl Juden vor der Rekrutierung zum Arbeitsdienst und Angehörige der Résistance vor der Gestapo rettete. Und er war ein notorischer Provokateur, der zum Clochard wurde, in abgerissener Kleidung mit einem Strick um den Leib auftrat und mit den Widrigkeiten des Alltags einen aussichtslosen Kampf ausfocht. Elend, Armut, Krankheit, Zerfall und noch viele andere Aspekte von Morbidität, gesehen aus der Perspektive der Getretenen und Geschlagenen – das waren Célines Themen. Er war kein geifernder Wutbürger, aber ein Mann mit vielen Gesichtern.

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