In Deutschland hat man sich über lange Zeit mit geopolitischen Fragen oder auch Theorien der Geopolitik nicht weiter beschäftigt. Man hat die geopolitischen Gegebenheiten, vor allem den transatlantischen Westen, nachdem der das Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges unbeschadet überstanden hat, als gegeben hingenommen und seinen Fortbestand nicht weiter auf die ihm zugrundeliegenden Ordnungsideen und Herausforderungen befragt. Dieses Nicht-Befragen hat dazu geführt, dass man die bestehende Ordnung als ehern und unveränderlich angesehen hat. Dementsprechend hat man sich wenig um ihren Erhalt bemüht, und noch weniger hat man über mögliche Alternativen mitsamt deren Voraussetzungen und Folgen nachgedacht. Um so größer ist die hektische Aufgeregtheit, die herrscht, seitdem die Trump-Administration deutlich gemacht hat, dass die Europäer für sie kein erstrangiger und unverzichtbarer Verbündeter mehr sind, dass für sie ein gutes Verhältnis zu Russland wichtiger ist als eine enge Verbindung mit den Europäern und man inzwischen auch darüber nachdenkt, ob man weiterhin den Oberkommandierenden der NATO-Truppen in Europa stellen soll. Zusammengenommen läuft das auf das Ende des Westens, präziser: des transatlantischen Westens, als verlässliche Größe der Weltordnung hinaus – und zwar in politischer wie ökonomischer Hinsicht.
»›Den Westen‹ gab es nicht immer und seine Entstehung war alles andere als selbstverständlich.«
Hier ist zunächst daran zu erinnern, dass es diesen Westen nicht immer gegeben hat und seine Entstehung nach dem Zweiten Weltkrieg alles andere als selbstverständlich war. Wenn es ein Gründungsdokument für diesen Westen gibt, so ist es das »Lange Telegramm« von George F. Kennan vom 22. Februar 1946, in dem der damalige Botschaftsrat an der US-Vertretung in Moskau die zukünftige sowjetische Politik sowohl als weltrevolutionär als auch von Bedrohungsgefühlen geprägt und insofern als neurotisch beschrieben hat. Kennan widersprach damit der noch aus der Roosevelt-Ära stammenden Vorstellung, wonach sich die USA nach dem Sieg über Nazideutschland aus Europa wieder zurückziehen sollten, wie sie das nach dem Ersten Weltkrieg getan hatten. Damals hatten sie darauf vertraut, dass der Atlantische Ozean groß genug sei, um Nordamerika vor einem Angriff aggressiver Mächte aus Europa zu schützen.
Es gab freilich schon während des Zweiten Weltkriegs in den USA Stimmen, die den Rückzug aus Europa in den Jahren 1919/20 für einen politischen Fehler hielten und auf das geostrategische Prinzip verwiesen, wonach man nur Sicherheit habe, wenn man die Gegenküste eines Meeresarms oder Binnenmeeres unter seiner Kontrolle habe. Aber galt das auch für Ozeane? Dieser Direktive der Gegenküstenkontrolle sind die USA nach dem Zweiten Weltkrieg dann gefolgt: nicht nur im Atlantik, sondern auch im Pazifik. Die Kontrolle des atlantischen Raums bekam mit Gründung und Ausbau der NATO freilich eine sehr viel festere institutionelle Form, als sie ähnlichen Bündnissen im Indopazifik eigen waren. Die Allianz der USA mit den West- und Mitteleuropäern wurde zur Grundlage der US-amerikanischen Dominanz für acht Jahrzehnte.
Was also hat sich geändert und dazu geführt, dass das jetzt alles nicht mehr gelten soll? Sicherlich spielt eine Rolle, dass die Überwachung großer Räume aus dem All und die genaue Beobachtung als neuralgisch eingestufter Territorien das Erfordernis physischer Präsenz auf dem Boden, zumal in Gestalt von Soldaten und Waffen, relativiert hat. Dass man die Hauptrolle spielen kann, ohne physisch präsent zu sein, indem man Informationen weitergibt oder solches unterlässt, hat vor kurzem die Ukraine erfahren müssen. Vor allem ist diese Form der Einflussnahme sehr viel kostengünstiger als eine mehrere Waffengattungen umfassende militärische Präsenz.
Deutliche Anzeichen wurden ignoriert
Die Frage der Kosten ihrer geopolitischen Position scheint überhaupt für die USA in den letzten zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen zu haben. Hatten sie sich unter George W. Bush noch zugetraut, die politischen und sozioökonomischen Konstellationen im Mittleren Osten oder auch in Zentralasien mit Militärinterventionen grundlegend umgestalten zu können, so kam bereits Bushs Nachfolger Barack Obama zu dem Ergebnis, dass die USA nicht länger zu einer gleichzeitigen und gleichgewichtigen Präsenz im atlantischen und pazifischen Raum in der Lage seien und sich in Anbetracht der Bedeutung beider Räume für den Pazifik entscheiden sollten. Spätestens damals hätten die Europäer hellhörig werden müssen und darauf reagieren sollen. Sie haben es nicht getan und damit die Erosion des transatlantischen Westens de facto in Kauf genommen.
»Die globale Machtstellung der USA wurde verwundbar, weswegen sie zunehmend zurückhaltend agierten.«
Zur Überdehnung der US-amerikanischen Fähigkeiten infolge des unipolaren Momentums nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation, als alle Konflikte und Probleme weltweit die USA irgendwie auf den Plan riefen, kam die politische Rückkehr kompakter Imperien hinzu, der Aufstieg Chinas und die aggressive Politik Russlands, was auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Methoden – China wesentlich mit wirtschaftlich-finanzieller, Russland vor allem mit militärischer Macht – die US-dominierte Ordnung durch die Bildung tendenziell exklusiver Einflusszonen infrage stellte. Dabei zeigte sich, dass die globale Machtstellung der USA überaus verwundbar war, weswegen sie als »Hüter der Weltordnung« zunehmend zurückhaltend agierten, wenn irgendwo massiv gegen die Regeln und Werte dieser Ordnung verstoßen wurde.
Hält man nach einem Wendepunkt Ausschau, so bietet sich der syrische Bürgerkrieg an, in dem US-Präsident Obama zwar rote Linien zog, dann aber deren Überschreitung nicht sanktionierte. Die Europäer gaben damals gute Ratschläge, griffen aber selbst auch nicht ein.
Vor allem die deutsche Politik zeichnete sich dadurch aus, dass sie ständig warnte, aber konsequent in einer Beobachterposition mit Kommentierungsfunktion verblieb. China wurde unter Xi Jinping zunehmend selbstbewusster und gab als Ziel aus, in der Mitte des 21. Jahrhunderts die global dominierende Macht sein zu wollen, und Russland orientierte sich mehr und mehr an den Grenzen des alten Zarenreichs und bemühte sich darum, dessen räumliche Ausdehnung wieder zu erreichen. Unter der Hand verwandelte sich die regelbasierte Ordnung, deren Hüter die USA waren, auch wenn sie diese Rolle nicht immer konsequent spielten, in politische Konstellationen, die machtbasiert waren, das sind und es wohl für lange Zeit bleiben werden.
Donald Trump ist das Eine bei der Entwicklung eines neuen Blicks der USA auf die geopolitischen Konstellationen; die Entwürfe und Ratschläge der Heritage Foundation, die so etwas wie den Plan zum veränderten Blick darstellen, sind das Andere. Trump versteht sich als Dealmaker, was heißt, dass er fallweise-opportunistisch agiert, Gelegenheiten ergreift und dabei von längerfristig angelegten Vorgaben abweicht, wenn er eine Chance sieht, sich als starker und entschlossener Mann präsentieren zu können.
»Trump ist ein potenziell störendes Element in jedem geopolitischen Ordnungsentwurf.«
Ein solches Agieren mit einer Abneigung gegenüber Strategien lässt sich nicht vorhersagen. Trump ist ein potenziell störendes Element in jedem geopolitischen Ordnungsentwurf und für jede geostrategische Direktive. Aber er ist kein prinzipieller Gegenspieler geostrategischer Ideen, sondern kann auch zu deren durchsetzungsstarkem und rücksichtslosem Exekutor werden – wenn es denn seinen Leuten gelingt, ihm ihre geostrategischen Entwürfe scheibchenweise als Gelegenheiten des Agierens unterzuschieben. Ob das auf längere Sicht erfolgreich ist oder ob Trump als mutwilliger Zerstörer eines Weltreichs in die Geschichte eingehen wird, … lässt sich nicht vorhersagen. Die Chance zu beidem ist zweifellos vorhanden. Wahrscheinlich ist letzteres. Eine Gewissheit freilich gibt es dabei: dass der transatlantische Westen für Trump eine störende Größe ist und als bindende Verpflichtung verabschiedet werden muss. Daran arbeitet er seit seinem Amtsantritt.
Konsequenzen für Deutschland und Europa
Was heißt das für Europa? Und welche Schlussfolgerungen sollte die deutsche Politik daraus ziehen? Die eine Option läuft darauf hinaus, durch eine strikte Orientierung an den US-amerikanischen Erwartungen sowie eine beflissene Unterstützung von konfrontativen wie kooperativen Projekten der Trump-Administration eine proeuropäische Stimmung im Weißen Haus zu erzeugen, um auf diese Weise den Rückzug der USA aus Europa und das Einklappen des nuklearen Schutzschirms möglichst weit hinauszuschieben – so weit, bis sich entweder die Machtverhältnisse in Washington wieder verändert oder aber die Europäer die gewonnene Zeit genutzt haben, um Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen tatsächlich eine strategische Autonomie verschaffen.
Das Risiko dabei ist, dass dieses Entgegenkommen nicht fruchtet und die Trump-Administration auf eine disruptive Politik gegenüber Europa setzt, um so Russland auf die eigene Seite zu ziehen und es gegen China in Stellung zu bringen. Die Distanz zu Europa scheint inzwischen riesig zu sein: »Ich hasse es einfach«, so US-Vizepräsident Vance in einem Chat, »Europa wieder aus der Patsche zu helfen«. Und darauf Verteidigungsminister Hegseth: »Ich teile die Abscheu vor dem Schmarotzertum der Europäer voll und ganz. Es ist JÄMMERLICH.« Wer von solchen Leuten politisches Entgegenkommen erwartet, kann nur enttäuscht werden. Es kann freilich sein, dass sich am Ende zwei getäuscht haben: die Europäer in der Trump-Administration und Trump mitsamt seinen Ministern und Beratern in Russland.
Die Europäer müssen so schnell wie möglich eigene Verteidigungsfähigkeiten aufbauen.
Die Alternative dazu ist, dass die Europäer davon ausgehen, dass der transatlantische Westen nicht mehr zu retten ist und auch eine demokratische Präsidentschaft in Washington das Schwergewicht ihrer politischen Aufmerksamkeit auf den Indopazifik richten wird. Das heißt, dass die Europäer so schnell wie möglich und ohne Rücksicht auf US-amerikanische Befindlichkeiten eigene Verteidigungsfähigkeiten aufbauen und dabei auch für eine europäische nukleare Abschreckungskomponente Sorge tragen müssen.
Auch das ist nicht ohne Risiken, von denen das erste darin besteht, dass sie das nicht schnell genug schaffen, weil ihre Entscheidungsprozesse zu langsam und zu schwerfällig sind; das zweite Risiko besteht darin, dass sie sich im Verlauf dieser Aufholjagd untereinander zerstreiten (was bei einer schnellen Veränderung wahrscheinlicher ist als bei einem langsamen und vorsichtigen Umschwenken) und die EU in ihrer aktuellen Zusammensetzung – oder auch der europäische Ast der NATO – infolgedessen zerfällt.
In beiden Fällen kommt als weiteres Risiko dazu, dass Putins Russland nämlich in den europäischen Veränderungsprozess eingreift, sei es mithilfe seiner politischen Unterstützer innerhalb der EU, sei es durch einen baldigen Angriff auf eine der baltischen Republiken. In jedem Fall führt das zu einem erhöhten Zeitdruck auf die Europäer, sich für den einen oder den anderen Weg zu entscheiden. Denn eines ist sicher: Dem veränderten Blick Washingtons auf die geopolitischen Konstellationen steht der seit Anfang des 21. Jahrhunderts unveränderte Blick des Kreml gegenüber, der an die Stelle des transatlantischen Westens den eurasischen Block als die weltweit dominierende geopolitische Einheit setzen will.
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