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Vom Verlust einer gesellschaftlichen Norm Geschichten über Privatheit

»Wir respektieren Ihre Privatsphäre.« »Eventuell werden vertrauliche Informationen mit dieser Website oder App geteilt. Zugriffsberechtigungen können jederzeit eingesehen und widerrufen werden.« So oder so ähnlich werden wir alltäglich beim Besuch auf Webseiten begrüßt. Dass die Grenzlinien zwischen Lüge und Reklame schwer zu ziehen sind, wissen wir alle, und so naiv, zu glauben, dass Unternehmen, die ihre Geschäfte online machen, so etwas wie Respekt für unsere Privatsphäre übrighaben, ist niemand, denn systembedingt wollen sie von ihren Kunden mehr wissen, als die preisgeben wollen. Also können wir solche Floskeln unter der Rubrik »Geschichten über Privatheit« ablegen und weitersurfen.

Individuelle Freiheit braucht den Schutz des Privaten

Geschichten über Privatheit gibt es viele. Im Zuge der Digitalisierung sind es immer mehr geworden. Auf Veränderungen unseres Alltagslebens durch technische Neuerungen stoßen wir überall, aber so viel Beachtung wie die Digitalisierung des Privaten finden nicht viele, was darauf hindeutet, dass es sich hier um einen zentralen Wert unserer Gesellschaftsordnung handelt.

»Das Gefühl der Privatsphäre selbst, des Bereichs persönlicher Beziehungen als etwas Eigenes, Heiliges ist kaum älter als die Renaissance. Aber ihr Niedergang würde den Tod einer Zivilisation, einer ganzen moralischen Anschauung bedeuten.« Das schrieb der Philosoph und Politikwissenschaftler Isaiah Berlin vor mehr als einem halben Jahrhundert über Privatheit, als das Internet noch nicht einmal am Horizont stand. Er betrachtete das Bedürfnis, sich selbst überlassen und nicht beeinflusst zu werden, als ein Merkmal hochentwickelter zivilisierter Lebensart des Individuums wie auch der Gemeinschaft. Der Schutz der Privatsphäre war in der Geschichte, die er darüber erzählte, ein unverzichtbarer Teil individueller Freiheit und Selbstverwirklichung.

Ein halbes Jahrhundert später hatte die digitale Gesellschaft angetrieben vom Überwachungskapitalismus, wie die Sozialpsychologin Shoshana Zuboff ihn nannte, Gestalt angenommen, was Anlass für neue Geschichten über Privatheit war. Der Soziologe Zygmunt Bauman erzählte eine davon, in der er die Privatsphäre »die bedeutendste Erfindung der Moderne« nannte und ihren Niedergang in der »Bekenntnisgesellschaft« diagnostizierte. Damit meinte er eine Gesellschaft, die von Usern, Freunden, Gamern, Social Influencern, Followern, Bloggern, digitalen Selbstdarstellern u.a. bevölkert wird und in der es Gang und Gäbe ist, sich öffentlich nicht nur mit Heldentaten und Stärken zu brüsten, sondern auch die eigenen Sünden und Schwächen, Wünsche, Perversitäten und Fehler nicht mehr zu verbergen oder allenfalls hinter vorgehaltener Hand »ganz im Vertrauen« mitzuteilen, sondern sich dazu in aller Öffentlichkeit zu bekennen. Das kann man wie Bauman als Aushöhlung oder Niedergang der Privatsphäre betrachten.

Kritische Stimmen: Privatheit als Stützpfeiler der männlichen Verfügung über Frauen.

In Berlins und Baumans Geschichten figuriert Privatheit als eine große Errungenschaft, ein Raum der Vertraulichkeit und Intimität, in dem sich das von der Aufklärung idealisierte selbstbestimmte Subjekt frei entfalten kann. Diese Sichtweise fand und findet noch immer viel Zustimmung. Dass auch kritische Geschichten über die Privatsphäre erzählt werden, sollte dabei aber nicht übersehen werden. »Ist Privatheit schlecht für Frauen?« fragten namentlich Feministinnen wie Martha Nussbaum, die in der als sakrosankt ideologisierten bürgerlichen Privatsphäre einen Stützpfeiler der männlichen Verfügung über Frauen und, schlimmstenfalls, einen Schutzraum der Straflosigkeit von häuslicher Gewalt, Kindesmisshandlung und anderen Untaten ausmachten. Was hinter der geschlossenen Haustür geschieht, geht niemanden etwas an! Diese Haltung läuft auf die Entpolitisierung des Privaten sowie der im privaten Raum herrschenden Machtverhältnisse hinaus und damit auf eine nicht nur unvollkommene, sondern interessenbedingt verzerrte Gesellschaftsanalyse.

Die geschlossene Haustür hat ihre Funktion, drinnen von draußen zu scheiden, mittlerweile weitgehend verloren, wo große Teile der Bevölkerung an ihr Smartphone gefesselt permanent online sind, wo Computer mit Kameras und Mikrophonen ausgerüstet sind und routinemäßig zu Videokonferenzen im Wohnzimmer verwendet werden, Haushaltsgeräte mit ihren Herstellern oder anderen Einrichtungen kommunizieren, Peilsender an allen möglichen Orten installiert sind und Fernsehapparate nicht nur etwas zeigen, sondern auch mithören können, wenn daran irgendjemand Interesse hat.

Das Privatheitsparadox

Vor diesem Hintergrund hört sich Marc Zuckerbergs Geschichte über Privatheit, der zufolge sie keine gesellschaftliche Norm mehr sei, plausibel an. Als der Gründer von Facebook sie 2010 erzählte, tat er das nicht ohne Eigeninteressen, lebt seine Firma doch zu einem Gutteil vom Verkauf personenbezogener Daten. Heute ist die Situation noch komplizierter. Einerseits hat die Verwendung sozialer Medien, mit denen unvermeidlich personenbezogene Daten freigesetzt werden, stetig zugenommen. Die Nutzer dieser Dienste wissen das, zumindest im Prinzip, nehmen es aber in Kauf, obwohl viele von ihnen die Kommerzialisierung ihrer Daten eigentlich ablehnen. Ihr Verhalten wird manchmal als Privatheitsparadox beschrieben. Andererseits werden auch die Stimmen derer lauter, die den Anspruch auf eine Privatsphäre nicht an den Nagel hängen wollen. Zum Beispiel provozierten Gesundheits-Apps, die zur Eindämmung der Coronapandemie eingesetzt wurden, lebhafte Diskussionen und mancherorts Proteste gegen exzessive Überwachung, sei es durch den Staat oder durch Digitalkonzerne.

Ist Privatheit eine Ideologie der Vergangenheit?

Eine Tagung der Universität Bonn über »Privatheit nach der Pandemie« stellte als Ergebnis ein Manifest für die Zukunft der Privatheit ins Netz, mit u. a. folgenden Forderungen: Privatsphäre und andere Grundwerte unserer liberal-demokratischen Systeme schützen, unsere Daten schützen, Arbeit und institutionelle Überwachung regulieren, Belästigung und Missbrauch im Internet regulieren und strafrechtlich verfolgen, Kinder online schützen, Individuen vor häuslicher Gewalt schützen. Wesentliche Aspekte von Privatheit heute sind damit angesprochen, was die Diskussion von Baumans Bemerkung, Privatheit sei eine Ideologie der Vergangenheit, noch brisanter macht.

Wie die Unterzeichner des Manifests setzen sich nach wie vor viele für den Schutz der Privatsphäre ein. Die Frage, wie sich das im Zeitalter permanenter Onlinepräsenz, rückverfolgbarer Datenspuren im Internet, Gesichtserkennung, Selfies, Authentifizierung per Fingerabdruck etc. verwirklichen lässt, wird gleichzeitig immer schwieriger zu beantworten.

Auf Artikel 12 der Menschenrechtserklärung Bezug nehmend, bekräftigte die Resolution 68/167 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 18. Dezember 2013, »dass dieselben Rechte, die Menschen offline haben, auch online geschützt werden müssen, einschließlich des Rechts auf Privatsphäre.«

Aber ist es überhaupt möglich, die Rechte, die Menschen offline haben, auch online zu schützen? Wenn wir uns daran erinnern, dass Vorreiter der Digitalwirtschaft wie Zuckerberg und Eric Schmidt von Google der Meinung waren, die Onlinewelt sei ein rechtsfreier Raum, wird deutlich, dass sich die Antwort auf diese Frage nicht von selbst versteht. Die technologische Entwicklung und die grenzüberschreitende Natur des Internets haben den Schutz der Privatsphäre online sehr schwer gemacht. Es mangelt an Gesetzen, an Experten und an der Bereitschaft der marktbeherrschenden Digitalkonzerne, auf die Ausbeutung personenbezogener Daten zu verzichten. Die neuerdings populäre Geschichte von Privacy by Design vertröstet uns mit der vagen Hoffnung, die Technik werde es schon richten. Aber noch weiß niemand, was das technische Design der Abschirmung der Privatsphäre beinhalten soll und kann.

Datenschutz-Grundverordnung gegen Big Data

Den ersten und bislang weltweit wichtigsten Schritt, um die Macht von Big Data zu beschränken und wenigstens etwas Souveränität über personenbezogene Daten zurückzugewinnen, hat die EU mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) von 2018 gemacht. Dieses Gesetz hat vor allem deshalb Einfluss auf die Onlinewelt, weil die EU mit rund 450 Millionen Menschen, die im Weltmaßstab reich sind, wirtschaftlich ins Gewicht fällt. Wenn die großen IT-Unternehmen die EU nicht ignorieren wollen, müssen sie sich an die DSGVO halten. Dass sie das, wenn überhaupt, nur widerwillig tun, zeigt die Liste der von der EU zur Durchsetzung der DSGVO erteilten Bußgelder. Sie wird von Amazon, Meta, Microsoft, Google und anderen amerikanischen Unternehmen angeführt, denn in USA genießen, wie die EU-Kommission wiederholt kritisiert hat, insbesondere Ausländer nicht den Schutz personenbezogener Daten, der europäischen Standards entspricht. Meistens muss die Befolgung der Bußgeldbescheide vor Gericht ausgefochten werden.

»Die Digitalisierung hat Privatheit noch mehr zur Verhandlungssache gemacht.«

Also wieder eine neue Geschichte über Privatheit: Die Digitalisierung hat Privatheit noch viel mehr zur Verhandlungssache gemacht, als sie es wohl immer war. In Verhandlungen vor Gerichten, in Parlamenten, zwischen Staaten und internationalen Organisationen, Wirtschaft, Technik und Bürger/innen, wird entschieden, wer was wann von wem wissen darf. Von allen, die Wert auf den Schutz ihrer Privatsphäre legen, verlangt das, digitale Technologien nicht nur als praktische Werkzeuge zu betrachten, sondern auch als potentielle Gefahren und Instrumente der Verfolgung von Interessen, die mit den ihren nicht unbedingt übereinstimmen. Es bedeutet, dass diese Technologien Chancen und Risiken bergen, die nicht nur, aber auch ihre Benutzer gegeneinander abwägen müssen, um ihre eigenen Geschichten über Privatheit auszuhandeln.

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