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© picture alliance / ZB | Bernd Wüstneck

Die Demokratie benötigt eine »Inklusionsrevolution« Gesellschaft »für alle«

Mit jenen späten Wintertagen im Jahr 2020, in denen sich das Jahrhundertvirus rasant im Land und weltweit zu verbreiten begann, ging eine Epoche zu Ende - das Zeitalter scheinbar beherrschbarer Krisen. Auf die Pandemie folgten weder Normalität noch Aufbruchstimmung. Vielmehr brach mit dem russischen Angriff auf die Ukraine eine neue Krise aus, die bis dahin kaum vorstellbar schien – das Ende der über 30-jährigen Friedensepoche in Europa.

Wenn etwas zur Normalität geworden ist, dann ist es die Krise, oder besser: sind es die Krisen. Die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen, oder die verheißungsvolle, in weiter links stehenden Kreisen gern benutzte Formel vom »guten Leben« wirken wie aus der Zeit gefallen.

Die akuten Debatten über die geopolitischen Krisen überlagern die Aufarbeitung der tiefgreifenden gesellschaftlichen Spuren, die mehr als zwei Jahre Gesundheitskrise im sozialen Miteinander hinterlassen haben.

Die harten politischen Einschnitte in das persönliche Leben der Bürger*innen haben die Gesellschaft verändert. Das Gefühl, teilzuhaben und teilzunehmen, Anteil an gesellschaftlichen Debatten und Bewegungen zu haben, ist vielen Menschen unter dem Druck erzwungener sozialer Distanzierung abhanden gekommen. Kinder und Jugendliche haben während der Pandemie unter Isolation gelitten, Ängste entwickelt und sowohl Leben als auch Lernstoff verpasst.

Die Ergebnisse der kürzlich veröffentlichten Iglu-Studie, die das Lesevermögen von Viertklässlern erhebt, wurden politisch als »alarmierend« eingestuft. Ein Viertel der Kinder erreicht nicht das Mindestniveau, das für weitere schulische Anforderungen nötig ist. Vier Jahre zuvor lag dieser Anteil noch bei unter 20 Prozent. Studien zeigen Überlastung und Ausgebranntsein von Lehrkräften und Erzieher*innen, potenziert und auf Dauer gestellt durch den anhaltenden Fach- und Arbeitskräftemangel. Insbesondere im sozialen Bereich sank das Bewusstsein gesellschaftlicher Anerkennung Richtung Nulllinie.

Die Debatte über Fehler der Coronapolitik hat gerade erst begonnen. Ob eine Wiedergutmachung gelingt, ist offen, vor allem für die junge Generationen, bei der die verlorenen Lebenserfahrungen besonders schwer wiegen.

»Der Stoff, aus dem die demokratische Gesellschaft gewebt ist, scheint zerschlissen.«

Der Stoff, aus dem die demokratische Gesellschaft gewebt ist, scheint zerschlissener als zuvor: Ein multiples Geschehen, von verstärkten Einsamkeitsphänomenen und der Zunahme psychischer Erkrankungen bis zur Spaltung der Gesellschaft in unversöhnliche Gegnerschaften zu wahlweisen Themen wie Impfen, Waffenlieferungen, Heizungstausch. Der demokratische Prozess von Rede, Gegenrede, Mehrheitsgewinn und Minderheitenrücksicht hat gelitten und leidet weiter.

Die Voraussetzungen, von denen laut dem Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde der freiheitliche, moderne Verfassungsstaat lebt, sind weniger garantiert als erodiert. Das hat Auswirkungen auf die Bewältigungskapazität für andere Krisen. Kaum vorstellbar, wie die großen transformatorischen Herausforderungen im Klimaschutz oder die inländischen Rückwirkungen des aggressiven russischen Revisionismus adäquat beantwortet werden können.

Was kann aus dieser unübersichtlichen Lage heraushelfen, Orientierung geben? Ist eine gesellschaftliche Erzählung noch oder wieder möglich, die ein gemeinsames Ziel oder einen Zustand beschreibt, der für eine relative Mehrheit der Gesellschaft erstrebenswert ist?

Kann die Inklusion zu einer solchen Erzählung werden? Inklusion als Ideal einer Gesellschaft, in der jede und jeder gehört wird, auf das Maß an Unterstützung Anspruch hat, das er oder sie braucht, einer Gesellschaft, in der die Unterscheidung von »behindert« und »nicht-behindert« keinen großen Einfluss auf die Gleichheit der Lebensverhältnisse hat?

Auf den ersten Blick ist die Chance schon vertan. Seit 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention mit breiter Mehrheit verabschiedet wurde, ist für viele Betroffene zu wenig geschehen. Der gesellschaftliche Schub, den viele sich erhofften, ist ausgeblieben. Gemessen an den Grundsätzen von Selbstbestimmung - Menschen mit Behinderung dürfen selbst entscheiden, wo sie wohnen oder welchen Beruf sie ergreifen wollen –, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der tatsächlichen Gleichstellung – Menschen mit Behinderung sollen so leben können wie Alle – gemessen an diesen Idealen bleibt noch sehr Vieles ein Desiderat.

Jede Erfahrung der Exklusion kommt einer Zurückweisung gleich, einem Mangel an Anerkennung, einem mehr oder minder gravierenden Ausschluss aus einer gesellschaftlichen Solidarität. Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen erfahren sich nicht als Teil des Ganzen, sondern eher als »Aussortierte« aus einer gesamtgesellschaftlichen »Erfahrung produktiver Verschiedenheit in wechselseitiger Abhängigkeit« (Heinz Bude).

Die rechtliche Seite ist klar

Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass die rechtliche Seite der Inklusion durchaus entwickelt ist. Von der Anerkennung eines Menschenrechtes auf Inklusion mit der UN-Konvention, die von 175 Staaten, also global Anerkennung gefunden hat, bis zur Verankerung in nationaler Gesetzgebung und im Verfassungsrecht ist der rechtliche Anspruch auf Inklusion realisiert: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« so Artikel 3 des Grundgesetzes. Mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Jahr 2016 – begleitet von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion – wurde der Systemwechsel in Deutschland geschafft: Auf rechtlicher Basis haben Menschen mit Behinderung Selbstbestimmung, Teilhabe und Gleichheit weitgehend erreicht.

Weitere juristische Schritte sind nötig, wie das Gesetz zu einem inklusiven Arbeitsmarkt zeigt, das im Mai 2023 im Bundestag verabschiedet wurde. Aber das eigentliche Thema in Sachen Inklusion liegt auf einer anderen Ebene. Der bekannteste Aktivist, der für die Belange von Menschen mit Behinderungen hierzulande eintritt, ist Raoul Krauthausen. Er bringt das Problem prägnant auf den Punkt: »Wer Inklusion will, findet immer einen Weg. Wer sie nicht will, findet immer eine Ausrede.«

Ausreden kommen vor allem dann auf den Tisch, wenn gut eingeübte gesellschaftliche Konventionen zugunsten einer politischen, kommunikativen und sozialen Kultur FÜR ALLE aufgegeben und neue eingeübt werden müssen.

Vor genau zehn Jahren kam im Deutschen Evangelischen Kirchentag der Gedanke auf, den publikumsträchtigsten und fernsehübertragenen Gottesdienst zur Eröffnung des anstehenden Kirchentages in Hamburg vollständig in Leichter Sprache zu gestalten. Die Widerstände, die insbesondere im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, aber auch in den Gremien und bei vielen Teilnehmenden überwunden werden mussten, waren erheblich. Die Wahl einer Sprachform, die alle Menschen erreicht, schien eher einer Verpflichtung zur Selbstbeschränkung als einer Bereicherung und Stärkung sozialer und religiöser Gemeinschaft zu entsprechen.

Vergleichbares ereignete sich in Schleswig-Holstein, als der Landeswahlleiter zur Wahl des Landtages im Jahr 2017 die Unterlagen in Leichter Sprache verschickte. Auf den Aufschrei in einer bundesweiten Öffentlichkeit reagierten die regierenden Parteien, in dem sie eine Änderung im Landeswahlgesetz, die das ermöglicht hatte, wieder rückgängig machten. Begründung: Die »Leichtigkeit könne Fakten verzerren, und bei Lesern könne der Eindruck aufkommen, ›für dumm verkauft‹« zu werden.

Vor allem hinter letzterem verbirgt sich ein sozialpsychologisches Thema, das sich aber als handfestes, demokratischen Grundproblem entpuppt: Teile der Öffentlichkeit betrachten eine kognitive Beeinträchtigung offenbar als Stigma, von dem man sich möglichst abgrenzen möchte. Die Abgrenzung aber führt zur Exklusion nicht nur der angenommenen Stigmaträger, sondern auch weiterer Bevölkerungsgruppen, denen die Leichte Sprache grundlegende demokratische Verfahren leichter verständlich macht.

Es ist noch ein weiter Weg

Inzwischen ist sehr viel geschehen. Von einer Trendwende sind wir jedoch noch immer weit entfernt. Jetzt, wo nach Pandemie, Friedenskrise und Klimakatastrophe größere Teile der Bevölkerung sich als vulnerabel und exkludiert wahrnehmen, braucht es ein neues Projekt, die Vision einer Gesellschaft, die FÜR ALLE funktioniert – mit Barrierefreiheit in der Sprache, der Architektur, im Internet, in der Kommunikation, in der Bildung (aber bitte gut gemacht und mit auskömmlichen Ressourcen!) und in der Politik.

Jede Inklusionsbewegung hat einen Schub für die Demokratie, ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe gebracht.

Auf allen Ebenen braucht es demokratischen, gestalterischen Willen, vom Prinzip der Teilhabe Aller, der Menschen mit Behinderungen wie der Migrant*innen, der Älteren und der pandemiebeeinträchtigten Kinder her zu denken und damit mehr zu meinen als einen weiteren Aufruf zur Solidarität. Erst, wenn niemand mehr das Gefühl hat, für dumm verkauft zu werden, ist diese Vision erreicht. Gemeint ist nichts weniger als eine neue »Inklusionsrevolution«. Mit diesem Begriff charakterisiert der Soziologe Rudolf Stichweh die immer weitere Einbeziehung von Menschen in demokratische Entscheidungsprozesse im Laufe der Geschichte. Jede Inklusionsbewegung, vom Wahlrecht für Frauen bis zur Anerkennung politischer Rechte der Arbeiterklasse hat einen Schub für die Demokratie, ein Mehr an gesellschaftlicher Teilhabe gebracht.

Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist das, was der Migrationsforscher Mark Terkessidis das »ethische Prinzip der Kollaboration« nennt: »Eine Zusammenarbeit, in der die Teilhabe der Individuen tatsächlich Autonomie und Entscheidungsmacht bedeutet.« Inklusion, die um des demokratischen Prozesses willen vorangetrieben wird und nicht um ihrer selbst willen.

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