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© Jonas Denil/Unsplash

Der Streit um die Qualität von Anke Stellings Roman »Schäfchen im Trockenen« Gesellschaftskritik als Literatursurrogat?

Es gibt nur Weniges, das einen Menschen so sehr auf sich selbst zurückwirft wie der Schmerz. Schmerz ist komplex und subjektiv, er ist ein Zeichen des Körpers, dass etwas nicht stimmt, und wer ihn fühlt, will meistens, dass er aufhört. Literatur soll aber komischerweise immer wehtun: Seit Franz Kafkas Bonmot gilt es als Qualitätsnachweis, wenn ein Buch wirke »wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt. (…) Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns«.

Als die Berliner Autorin Anke Stelling im März für ihren inzwischen siebten Roman Schäfchen im Trockenen den Preis der Leipziger Buchmesse gewann, begründete die Jury ihre Entscheidung damit, dass dies »ein scharfkantiger, harscher Roman« sei, der »wehtun will und wehtun muss, der protestiert gegen den beständigen Versuch des Besänftigtwerdens, der etwas aufreißt in unserem sicher geglaubten Selbstverständnis und dadurch den Kopf frei macht zum hoffentlich klareren Denken«.

Anke Stelling holt in ihrem Roman Schäfchen im Trockenen das Politische aus dem Privaten, bis es wehtut. Dass die Autorin dafür den Preis der Leipziger Buchmesse bekam, gefiel wohl auch deshalb nicht allen. Über diese für sie offenbar kafkaeske Juryentscheidung ließ die Literaturkritikerin Iris Radisch daraufhin ihrer Wut freien Lauf: Hier zeichne man »ein literarisch unbedarftes Werk aus, weil es so tapfer und sozial engagiert ist«, schäumte sie in der Zeit. Für den Juryvorsitzenden Jens Bisky, der die »soziologische Genauigkeit« des Buches lobte, hatte sie nur Spott übrig: Er feiere »Vulgärsoziologisches«.

Dieses kleine Rezeptionsdrama ist insofern interessant, als es zum Kern des Romans führt, nämlich zu den Widerständen, gegen die sich ein (weibliches) schreibendes Ich zu behaupten versucht. Für die Schriftstellerin Resi, Protagonistin des Romans, besteht der höchste zu befürchtende Schmerz darin, als prekär lebende vierfache Mutter durch den drohenden Wegzug nach Ahrensfelde bald nicht mehr zum Prenzlauer Berger, zum Baugruppen-Milieu ihrer Clique dazuzugehören. »First World Problems« möchte man da sagen. Dann heul doch! Am Anfang dieser prekären Entwicklung, so scheint es, stand wiederum eine Verletzung, die Resi ohne Not ihrem Freundeskreis zugefügt hatte, mit einem Artikel und einem Roman, in denen sie die von Geburt an wohlhabenden, aus Schwaben nach Berlin gezogenen Neubürgerlichen öffentlich in die Pfanne haute. Ihre Berliner Altbauwohnung, die einem ihrer einstigen Freunde gehört, wird ihr daraufhin gekündigt. Die aus kleinen (ebenfalls schwäbischen) Verhältnissen stammende Nestbeschmutzerin wird also abgestraft.

Schon an diesem Plot ist ablesbar, dass hier anderes und mehr verhandelt werden könnte als nur das gefällige Eindreschen auf soziale Lebensrealitäten. Denn während man sich schon mal wohlig das Latte-Macchiato-Mütter-Bashing zurechtlegt, zwingt Stelling ihre Leser/innen, sich mit den Gebashten zumindest teilweise zu identifizieren, weil Resi ja einst selbst zu ihnen gehörte und selbst dieses Bashing betrieb. Dieses Buch ist keine Axt, sondern eine multifunktionale Säge-, Schleif-, Häcksel- und Rührmaschine. Auslegeware aus Klischees über Herkunft und Geschlecht reißt Stelling heraus, bis die alten Dielen zum Vorschein kommen. Zwischen denen klaffen Lücken, darin sammelt sich der Dreck, der alte und der neue.

Jeder Absatz eine Klippe

Was Sprache anrichtet und wie sie Menschen zurichtet: Darum geht es, und das macht den Roman unwägbar, ständig kippend und jenseits seiner Milieuschilderungen spannend. Fast jeder Absatz ist eine Klippe, fast jede dahingesagte Redewendung eine semantische Bombe, die oft erst viele Seiten – oder Generationen – später platzt. Liegen die Verwundungen doch viel weiter zurück. Wie im Fall des renitenten Willi, einem der Söhne der Freunde, der zur Metapher des freien Willens aufsteigt, weil das nun einmal in der Macht der Autorin steht: »D'r Willi isch ned dohoim!«, so habe einst Resis Großvater geschrien, wenn er mit dem Kleiderbügel auf seine Tochter, Resis Mutter, eingedroschen und ihr deutlich gemacht habe: Dein Wille hat hier nichts zu melden.

Resi, benannt nicht etwa nach der heiligen Therese, sondern nach der Parrhesia, dem Mut zur freien Rede, wagt es nicht, den Kündigungsbrief ihrem Mann, einem freischaffenden Künstler (auch das noch!) zu zeigen. Überhaupt prägen hier einige Lügen und Selbstbetrügereien den Alltag: Die Verpackungen des Geschmacksverstärkerfraßes, den sich Resi mittags aufwärmt, stopft sie ganz unten in den Mülleimer, denn keiner soll sehen, dass sie Wasser predigt und Wein trinkt – nun ja.

Erstaunlich ist, wie sich die zielsichere Kritikerin Radisch einer bewusst elitären Sprache bedient, um sich abzugrenzen, als sei auch sie Teil der verunglimpften Baugruppe: Die Erzählerin verwerfe »jede anspruchsvolle Literarizität als unangemessen (vermutlich ebenfalls neubürgerlich)« und passe ihre Tonlage »explizit den Niederungen des ›alltäglichen Wahnsinns von Kinderhaben zwischen den Anforderungen der Arbeitswelt und den Unwägbarkeiten der Kitabetreuung‹ (taz)« an.

Und ist dieses Buch denn nicht auch tatsächlich eine Art »Nabelschau« angesichts wirklich drängender politischer Probleme unserer Zeit, wie der Autorin bereits vor der Preisvergabe vorgeworfen wurde? Stelling entgegnete in einem Essay: »Der Nabelschauvorwurf ist ein Machtinstrument, dazu da, Subjektivität zu verhindern, Stimmen zu unterdrücken und Hegemonie zu behalten«. Sie meint es ernst mit dem über Generationen eingehegten »Willi«, der noch Jahrzehnte später trotz aller Versprechen auf soziale Teilhabe durch Bildung gegen festbetonierte Fronten prallt: »Wenn ich ›ich‹ sage und anhand meines Beispiels etwas und mich selbst behaupte«, schreibt Stelling, »dann geschieht das gegen Widerstände. Und erzählt deshalb von ihnen«.

Gerichtet ist der ganze Roman, dieser Widerstandsmonolog, an Bea, die halbwüchsige Tochter der Erzählerin. Ihr erklärt Resi nichts anderes als den Krieg: »Ausrüsten« wolle sie sie, mit Wissen und Geschichten und der Einsicht, dass es »keine Eindeutigkeit« gebe. Anders als es ihre eigenen Eltern taten, die sie in der Gewissheit aufzogen, dass man mit Fleiß aufsteigen kann, will Resi ihre Kinder mit Wahrheit »beladen«, es ihnen schwer machen, »Rüstung und Waffen wiegen nun mal«.

Mehr und mehr legt Stelling den vermeintlich rein kulturellen Kern gruppenbezogener Ressentiments als materiellen frei. Und überführt diesen in eine Erzähltechnik, die das Reden der Anderen selbst wie Baumaterial behandelt. Laufend begegnen ihr die Formeln »selber schuld« und »weiß man doch vorher«, sie verwendet sie ja auch selbst. Und während man also denkt: »Wow, wie ist das alles elegant konstruiert«, höhnt Resi schon »ja, ja, Literatur und Lebenswelten, alles wollen wir ›gut gebaut‹, am besten 90-60-90«. Sitzend in ihrer Speisekammer, die noch aus einer Zeit stammt, in der Leute Personal hatten, notiert sie über einen ihrer Freunde: Der lese nur »echte Literatur«, solche mit »Personal«, also Leuten, »die sich dafür hergeben, erzählt zu werden«. Das zielt natürlich auf eine Rezeption, die sich auf Handlung und Figuren kapriziert und – wie schon im richtigen Leben – nicht so genau wissen will, wie all diese Sprachkonstrukte gemacht sind, wie manipulativ sie sind, wem sie nützen, wen sie ärgern oder wessen Macht sie stärken.

Stellings Roman betreibt Gesellschaftskritik als Romankritik, weshalb wiederum Radischs Furor gegen die angebliche Unbedarftheit der Autorin Rätsel aufgibt. Denn Geschütze, die man beim Lesen schon mal parat hält, fährt Stelling ja selbst schneller auf, als man gucken kann. Sie zieht einem immer wieder das Stäbchenparkett der eindeutigen Zuordnungen und Meinungen unter den Füßen weg. Insofern ist ihr Szenario des Ins-Wanken-Geratens eine Einübung in einen sehr zeitgemäßen Schmerz: »Es ist okay«, schreibt sie lakonisch und: »Vielen wird es im Verlauf der nächsten Jahre genauso gehen.«

Schon in Stellings Roman Bodentiefe Fenster hatte sich die Protagonistin als »Kassandra vom Prenzlauer Berg« imaginiert. Resi blickt tatsächlich in die Zukunft: Sie gewinnt einen Buchpreis, der dem der Leipziger Buchmesse ziemlich ähnlich sieht, dotiert mit 15.000 Euro. Versöhnt, sagte Stelling, der inzwischen auch der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg zugesprochen wurde, nach der realen Preisverleihung, sei sie nun keineswegs, denn »das An-den-Rand-gestellt-Werden und die Demütigung und der Kapitalismus, das Patriarchat, der Paternalismus – das bleibt ja alles«. Und sie bleibt ja auch erstmal im Prenzlauer Berg. Als habe sie vor, was einst Herbert Achternbusch formulierte: »Diese Gegend hat mich kaputt gemacht, und ich bleibe so lange, bis man ihr das anmerkt«.

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen. Verbrecher, Berlin 2018, 272 S., 22 €.

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