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Notwendige Schlussfolgerungen aus der Corona-Pandemie Gesundheitsbeschäftigte verschaffen sich Respekt

Die Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen bitten und betteln nicht mehr. Sie verschaffen sich Respekt, indem sie sich gemeinsam für ihre Belange einsetzen. Wie oft wurden die Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, im Rettungsdienst, in der Behindertenhilfe, in Kindertagesstätten und anderen Einrichtungen für ihren großartigen Einsatz während der Corona-Pandemie gelobt? Und das zu Recht. Die Krise hat deutlich gemacht: Es sind die vor allem weiblichen Beschäftigten in der öffentlichen Daseinsvorsorge, die ein funktionierendes Gemeinwesen garantieren; nicht die großen Banken und Fonds, die noch in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 als »systemrelevant« eingestuft wurden. Doch aus dem öffentlichen Lob folgt nicht automatisch eine Aufwertung dieser so wichtigen Tätigkeiten. Die Beschäftigten müssen sie sich selbst erkämpfen – und setzen dabei auf die Solidarität aus der Gesellschaft.

Doch manchmal kommen Querschüsse von unerwarteter Seite. So haben ausgerechnet die Arbeitgeber der Caritas und der Diakonie die Übertragung des von ver.di mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) ausgehandelten Tarifvertrags über Mindestbedingungen auf die gesamte Altenpflege verhindert. Dabei hat auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) eine unrühmliche Rolle gespielt, indem er das Vorhaben der eigenen Regierung de facto hintertrieb. Leidtragende sind vor allem Beschäftigte aus Ostdeutschland und in kommerziellen Pflegeeinrichtungen, die bis zu 25 % mehr Lohn erhalten hätten. Dass ihnen dieses Mindestmaß an Respekt ausgerechnet von den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden verwehrt wird, erfordert in den Kirchen und ihren Verbänden eine kritische Debatte und Konsequenzen. Der »Dritte Weg« kircheninterner Festsetzung von Löhnen und Arbeitsbedingungen steht zur Disposition. Zudem liegt der Ball nun im Feld der Bundesregierung. Sie muss einen gesetzlichen Weg finden, die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung in der Altenpflege flächendeckend zu verbessern. Der von Spahn vorgelegte Entwurf ist bisher dafür nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar schädlich.

Auch sonst fällt Spahns Bilanz extrem dürftig aus. Der Gesundheitsminister hat insbesondere den Pflegekräften immer wieder Verbesserungen versprochen. Doch passiert ist nahezu nichts. Die Finanzierung von 20.000 zusätzlichen Hilfskräften in der stationären Altenpflege ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es braucht Vorgaben für eine verbindliche und bundesweit einheitliche Personalausstattung, die konsequent am Pflegebedarf ausgerichtet ist. Und zwar jetzt, nicht erst am Sankt-Nimmerleins-Tag. Doch Spahn will diese Aufgabe offenbar der nächsten Regierung überlassen. So geht wertvolle Zeit verloren, während Beschäftigte und pflegebedürftige Menschen weiter mit der viel zu dünnen Personaldecke klarkommen müssen.

Ob Menschen in Würde alt werden können, sagt viel über den Zustand einer Gesellschaft aus. Derzeit ist das im reichen Deutschland tausendfach nicht garantiert. Der Respekt gegenüber der Lebensleistung der älteren Generation – und gegenüber den Beschäftigten in der Altenpflege – gebietet es, die Rahmenbedingungen hier schnellstmöglich zu ändern.

Dazu gehört die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung zu einer solidarischen Pflegegarantie. Schon jetzt muss jeder dritte Heimbewohner bzw. jede dritte Heimbewohnerin staatliche »Hilfe zur Pflege« beziehen. Durchschnittlich zahlten pflegebedürftige Menschen am Anfang dieses Jahres 2.068 Euro für einen Platz im Pflegeheim. Davon waren 831 Euro Pflegekosten, für die die Pflegeversicherung nicht aufkommt, da ihre Leistungen gedeckelt sind. Pflegebedürftigkeit darf nicht länger ein Armutsrisiko sein. Die 1995 eingeführte Pflegeversicherung sollte ursprünglich verhindern, dass pflegebedürftige Menschen in die Sozialhilfe rutschen. Dieses Versprechen muss sie endlich einlösen, indem sie die pflegebedingten Kosten vollständig abdeckt.

Die Altenpflege braucht mehr Personal und eine angemessene Bezahlung. Allein in stationären Einrichtungen fehlen nach Berechnungen des Gesundheitsökonoms Heinz Rothgang rund 115.000 Pflegekräfte. Die infolge der demografischen Entwicklung nötige Steigerung der Beschäftigtenzahlen ist dabei noch nicht berücksichtigt. Um diese Arbeitskräfte zu gewinnen und zu halten, müssen sich die Bedingungen und die Entlohnung deutlich und flächendeckend verbessern. Das dafür nötige Geld ist aus Sicht der Gesellschaft gut angelegt. Schließlich wollen wir alle gut und würdevoll gepflegt werden, wenn das nötig wird. Um die absehbaren Ausgabensteigerungen zu finanzieren, schlägt ver.di vor, die Einnahmebasis der Pflegeversicherung zu erweitern. So könnten im Rahmen einer Bürgerversicherung alle Einkommensarten und damit die gesamte Bevölkerung solidarisch in die Finanzierung einbezogen werden. Es ist an der nächsten Bundesregierung, das Konzept der »Solidarischen Pflegegarantie« – solidarische Finanzierung und garantierte Übernahme aller pflegebedingter Kosten – rasch auf den Weg zu bringen.

Wut, Resignation, Vertrauensverlust – und kollektive Gegenwehr

Im Zentrum der Corona-Krise stehen die Krankenhäuser. Deren Beschäftigte und ihre Gewerkschaft ver.di haben schon lange vor der Pandemie auf die dramatischen Folgen des Personalmangels hingewiesen. Bereits 2013 (!) haben wir mit einem bundesweiten »Personalcheck« errechnet, dass 162.000 Vollzeitstellen in den Kliniken fehlen. Die Proteste und Aktionen reißen seither nicht ab. Unsere zentrale Forderung ist und bleibt: gesetzliche, am Bedarf orientierte Personalvorgaben. Und zwar für alle Berufsgruppen, denn die Arbeit im Krankenhaus ist Teamarbeit und die Überlastung beschränkt sich nicht allein auf die Pflege.

Für diese liegt schon seit über einem Jahr die Pflegepersonalregelung PPR 2.0 auf dem Tisch – ein von ver.di gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat entwickeltes Instrument zur bedarfsgerechten Personalbemessung. Es könnte kurzfristig in Kraft gesetzt werden. Doch der christdemokratische Gesundheitsminister spielt hier ebenfalls auf Zeit. Unter den Klinikbeschäftigten führt das zu enormer Wut. Bei manchen leider auch zu Resignation. Laut einer aktuellen Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) wollen 31 % der nicht-ärztlichen Beschäftigten in Intensivstationen, Notaufnahmen und Rettungsdiensten in den kommenden zwölf Monaten ihre Arbeitsstelle aufgeben. Darüber hinaus plant fast jede/r den Stellenanteil zu reduzieren. Fast niemand (4 %) unter den 1.321 Befragten hat das Vertrauen, dass die Politik die Probleme lösen wird. Dieses Alarmsignal muss unbedingt ernst genommen werden. Rasche und wirksame Maßnahmen zur Entlastung des Krankenhauspersonals sind gefragt. Die sofortige Inkraftsetzung der PPR 2.0 könnte den Beschäftigten das Vertrauen geben, dass sich tatsächlich etwas ändert, und einem Exodus aus den Pflegeberufen entgegenwirken.

Doch die Flucht aus dem Beruf ist zum Glück nicht die einzige Reaktion auf die Krise. Auch die Bereitschaft, sich kollektiv für die eigenen Interessen einzusetzen, wächst merklich. In mittlerweile 17 großen Krankenhäusern haben die Beschäftigten mit ver.di Vereinbarungen für Entlastung durchgesetzt. Zum Teil waren dafür wochenlange Streiks nötig, wie im Sommer 2018 an den Unikliniken Düsseldorf und Essen. Diese Vereinbarungen lösen nicht das Grundproblem der Personalnot. Doch sie bedeuten für viele Kolleginnen und Kollegen eine spürbare Entlastung. So zum Beispiel für die Beschäftigten am Universitätsklinikum des Saarlandes, die zum Ausgleich für Arbeit in personell unterbesetzten Schichten zusätzliche freie Tage bekommen. An der Homburger Uniklinik sind allein im ersten Halbjahr 2020 insgesamt 1.425 solcher Freischichten zusammengekommen. Das Ziel – genug Personal für eine gute Versorgung und gesunde Arbeitsbedingungen – ist damit noch nicht erreicht. Es zeigt aber: Die Beschäftigten der Krankenhäuser können etwas bewegen. Durch gemeinsames und entschlossenes Handeln verschaffen sie sich Entlastung und Respekt.

Ökonomisierung und Privatisierung zurückdrängen

So wird ver.di weitermachen – mit viel Ausdauer und unabhängig davon, welche Koalition die nächste Bundesregierung stellen wird. Dennoch: Die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen sind wichtig. Um die Probleme an der Wurzel zu packen, müssen Ökonomisierung und Privatisierung zurückgedrängt werden. Insbesondere die Altenpflege und die Rehabilitation werden mittlerweile von kommerziellen Trägern dominiert. Hier sind große Konzerne und Finanzinvestoren auf der Suche nach dem schnellen Geld. Respekt und Menschenwürde bleiben dabei allzu oft auf der Strecke. So zum Beispiel aktuell beim französischen Pflegekonzern Orpea, der Betriebsräte in Bremen und Osnabrück unter fadenscheinigen Vorwänden fristlos kündigen will. Nach der klaren juristischen Niederlage in erster Instanz wird sogar vor Gericht öffentlich angekündigt, Betriebsräte von Detektiven überwachen zu lassen. Wenn kommerzielle Firmen Grundrechte von Beschäftigten derart mit Füßen treten, müssen die politisch Verantwortlichen und die Gesellschaft eingreifen. Solche Unternehmen haben im Gesundheitswesen nichts zu suchen.

Um die verfehlte Gesundheitspolitik der vergangenen Jahrzehnte zu korrigieren, sind grundsätzlich andere Weichenstellungen nötig. Im Bereich der Krankenhausfinanzierung heißt das die Abschaffung des Systems der Fallpauschalen, das etliche Fehlsteuerungen nach sich zieht und die Kliniken in einen Preiswettbewerb treibt, der zu Lasten von Beschäftigten und Patienten ausgetragen wird. Die Alternative ist eine Finanzierung, die alle bei wirtschaftlicher Betriebsführung anfallenden Kosten abdeckt.

Ich bin mir sicher, dass die große Mehrheit der Menschen in Deutschland eine solche, am Bedarf statt am Markt orientierte Gesundheitspolitik unterstützt. Es liegt an uns allen, die gesellschaftliche zu einer parlamentarischen Mehrheit zu machen. Die anstehende Bundestagswahl wird auch in dieser Hinsicht eine Richtungsentscheidung sein.

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