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Wie der Wahlsieg der spanischen Sozialdemokraten möglich wurde und sie doch keine Mehrheitsregierung bilden können Getrübte Freude

Bei den Neuwahlen am 28. April ging die spanische sozialdemokratische Partei PSOE mit fast 29 % und somit einem großen Abstand zum Zweitplatzierten, der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP) mit 16,7 % durchs Ziel. Die Besinnung auf die Kernkompetenzen und der proeuropäische Kurs von Pedro Sánchez mit einem guten Gespür für die richtige Portion symbolischer Politik hatten zum Erfolg geführt.

Mit einem Ergebnis von fast 33 % bei den Europawahlen konnte die PSOE ihren Führungsanspruch unterstreichen. Das gute Abschneiden ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass es keine grüne Partei gibt, die sich dem Klimaschutz vehement angenommen hat. Zudem gilt die PSOE seit Felipe González als die führende Europapartei des Landes. Mit ihren 20 Sitzen im Europaparlament ist die PSOE nun die größte Gruppe in der S&D-Fraktion. Dies sollte der Partei dabei helfen, nach einem Jahrzehnt spanischer Abstinenz auf der EU-Bühne auch personalpolitisch mit dem derzeitigen Außenminister Josep Borrell wieder an die alten Zeiten des ehemaligen EU-Außenbeauftragen Javier Solana anzuknüpfen. Auch bei den gleichzeitig stattfindenden Regionalwahlen schnitt die PSOE gut ab. Damit der Wahlsieg im Land realpolitische Wirksamkeit entfalten kann, galt es nun, eine handlungsfähige Regierung auf die Beine zu stellen. Da weder die Parteien links noch rechts der Mitte eine Mehrheit haben, stand Spanien vor einer Phase der schwierigen Regierungsbildung – wieder einmal.

Unter ihren Premiers González (1982 bis 1996) und José Luis Rodríguez Zapatero (2004 bis 2011) leisteten die Sozialdemokraten einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau des spanischen Wohlfahrtsstaates, der Sicherung von Gewerkschaftsinteressen und Arbeitnehmerrechten sowie der Verankerung der jungen Demokratie in Europa. Die Zapatero-Jahre galten zunächst einer erfolgreichen frauen-, kultur- und gesellschaftspolitischen Modernisierung. Im Zeichen der internationalen Finanzkrise im Gleichschritt mit einer hausgemachten Immobilienblase rutschte das Land aber in eine tiefe Wirtschaftskrise, deren Folge erste Sparprogramme waren, die noch von Zapatero ins Werk gesetzt wurden. Es folgte ein immenser Stimmenverlust von über 15 %.

Auf der Suche nach einem Neuanfang verschliss die PSOE mehrere Vorsitzende, trieb den gerade 2014 gewählten Pedro Sánchez zum Rücktritt vom Parteivorsitz und Parlamentsmandat und übte sich bei Umfrageergebnissen deutlich unter 20 % im innerparteilichen Harakiri. Mitte 2017 setzte sich Pedro Sánchez nach einem stark basisorientierten Wahlkampf bei einem Mitgliederentscheid mit 60 % wieder deutlich als Vorsitzender durch – entgegen der Empfehlung der meisten Honoratioren und vieler Regionalvorsitzender. In den beiden Wahlen 2015/16 entwickelte sich Spanien von einem Zwei- zu einem Vierparteiensystem, ohne klare Regierungsmehrheiten. Die linkspopulistische Podemos erwuchs vor allem aus dem Protest gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit, die Ciudadanos positionierte sich zunächst als liberale Mittepartei und bürgerliche Alternative zu den angeschlagenen Konservativen.

Angesichts nicht abreißender Korruptionsskandale der PP, eines politischen Stillstands und des Versagens in der Katalonienfrage nutzte Sánchez geschickt die Gunst der Stunde und schmiedete eine Parlamentsmehrheit aus Unidas Podemos und den meisten Regionalparteien unterschiedlicher Couleur und löste im Juni 2018 in einem Misstrauensvotum den seit 2011 regierenden konservativen Premier Mariano Rajoy ab. Die Hoffnung auf einen politischen Neuanfang währte allerdings nur kurz. Bei den Haushaltsabstimmungen im Februar entzogen die beiden separatistischen katalanischen Regionalparteien der Regierung das Vertrauen und der Premier musste Neuwahlen für den 28. April anberaumen.

Der Zuwachs für die Sozialdemokraten bei den Wahlen im April ist vor allem durch den Rückgewinn von enttäuschten Wähler/innen, die 2016 bis 2018 zu den Linkspopulisten abgewandert waren, zu erklären. Der progressive sozialpolitische, frauenorientierte (es gibt u. a. auch mehr Frauen als Männer im Kabinett wie, mit 52 %, auch in der neuen PSOE-Fraktion), dialogbereite (etwa mit Katalonien) proeuropäische Kurs konnte aber auch Wähler/innen der politischen Mitte ansprechen, die den Rechtsschwenk von PP und Ciudadanos nicht mitgehen wollten.

Durch den Aufstieg der rechtspopulistischen VOX ist Spanien nun eine Fünfparteienlandschaft, hinzu kommen die Regionalparteien vor allem im Baskenland und Katalonien. Im politischen Raum rechts der Mitte wurde es also eng. PP und Ciudadanos versuchten, den Hardliner-Jargon der VOX zu überbieten, vor allem hinsichtlich der Frage, wer die bessere Partei des nationalen spanischen Interesses gegen den katalanischen Separatismus sei. Demgegenüber konnten die Sozialdemokraten mit ihrem Dialogangebot punkten. Schließlich profitierte die PSOE bei der Mandatsverteilung vom spanischen Wahlrecht, das große Parteien in kleinen Wahlkreisen (mit etwa nur 2 bis 3 verfügbaren Sitzen) bevorzugt und die zersplitterte Rechte dort das Nachsehen hatte.

Starke Mobilisierung in einem Lagerwahlkampf

Die wichtigste Lehre aus der vorangegangenen, verlorenen Regionalwahl in Andalusien im Dezember 2018 hatte die PSOE beherzigt: alle Parteigänger/innen und Sympathisant/innen zum Gang zur Wahlurne aufzufordern und so den hohen Anteil der Nichtwähler/innen zu reduzieren. Mit 75,8 % lag die Wahlbeteiligung dann deutlich über den knapp 70 % von 2016. Einen zusätzlichen Schub bekam die Kampagne der PSOE durch den von rechts angeheizten Lagerwahlkampf.

Die Fronten zwischen links und rechts der Mitte waren in zentralen Politikfeldern klar abgesteckt: bei der Beschäftigungspolitik (Rücknahme des restriktiven Arbeitsrechts von 2012 bzw. Maßnahmen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes); hinsichtlich der Steuern (Einführung einer Digitalsteuer undAnhebung von Unternehmenssteuern bzw. keine Digitalsteuer und Beibehaltung oder gar Senkung der Unternehmenssteuern); bei einer Gleichstellungspolitik, die Sexualdelikte schärfer verfolgt bzw. sie verharmlost und vertuscht; hinsichtlich einer abgestimmten europäischen Migrationspolitik bzw. einer härteren Grenzpolitik und Abschiebungen auf eigene Faust; beim Dialogangebot mit Katalonien bzw. einer erneuten Androhung der Zwangsverwaltung. Der unsachliche Debattenstil, insbesondere des konservativen Kandidaten Pablo Casado sowie ein neuer Politskandal aus der Zeit der PP-Regierung taten ein Übriges. Der durch das Misstrauensvotum im Juni 2018 ins Werk gesetzte spanische Politikwechsel war weniger Ergebnis geschickter strategischer Politik, als Resultat auch glücklicher Umstände. Pedro Sánchez ist durch einige politische Täler gegangen und viele hatten ihn schon abgeschrieben. Doch der Premier verkörpert mit seiner Geradlinigkeit und Glaubwürdigkeit einen politischen Neuanfang und dieser Vertrauensvorschuss strahlte, gepaart mit sicherer Hand für symbolische sowie machbare Politiken, auch auf seine Partei aus.

Pedro Sánchez hat es geschafft, die PSOE nach den Turbulenzen der Vorjahre zu stabilisieren und sich auch als Regierungschef zu profilieren. Danach gefragt, wen sie als neuen Regierungschef wünschen, kam er im Barometer des staatlichen Meinungsforschungsinstitutes CIS im Mai auf 39 %, weit vor den anderen Parteivorsitzenden. Früher stark angefeindet, steht er in seiner sozialdemokratischen Partei heute unangefochten an der Spitze – zumal nach der Abwahl seiner Widersacherin Susana Díaz als Regionalpräsidentin von Andalusien im Dezember letzten Jahres. Nach harten innerparteilichen Nachfolgekämpfen standen nun alle Landesverbände geschlossen hinter der Leitfigur Pedro Sánchez.

Unter der Devise »ein Spanien für alle« stellte die PSOE vier Punkte in den Vordergrund, die auch ihre renovierte Kernbotschaft des sozialen Zusammenhalts ausmachen: Die Rückkehr zum bzw. der Ausbau des Sozialstaates stand im Zentrum des Wahlkampfes; neben der Einführung einer Mindestrente mehr finanzielle Unterstützung für einkommensschwache Familien. Der Mindestlohn wurde um 22 % angehoben. Auch wenn die Handlungsmöglichkeiten für das Minderheitskabinett von Sánchez beschränkt blieben, ließ er in seiner kurzen Amtszeit dennoch mit seinen insgesamt 32 Dekreten erkennen, wohin die politische Reise gehen sollte.

Zentrale Herausforderungen wie die Rücknahme der konservativen Arbeitsrechtsreformen von 2012 oder Maßnahmen gegen die strukturelle Jugendarbeitslosigkeit stehen auf der Zukunftsagenda. Ein Vergleich der spanischen Sozialdemokratie mit ihren nördlichen Schwesterparteien zeigt: Ihre Ökonomien und Sozialstaaten befinden sich immer noch in einer Phase nachholender Entwicklung. Dies macht es einfacher, sich zu profilieren als in dem Reformkontext der west- und nordeuropäischen Wohlfahrtsstaaten, wo es darum geht, erreichte Errungenschaften zukunftssicher zu machen – was auch in Teilbereichen mit strukturerhaltenden Einschnitten verbunden sein mag. Zudem gibt es frauenpolitische Initiativen, den Verweis auf eine wieder aktivere Rolle Spaniens in Europa und den (leider vergeblichen) Versuch, mit der Regionalregierung in Barcelona in einen Dialog über die Zukunft Kataloniens zu treten.

Mit Blick auf die Vertrauensabstimmung Ende Juli war eine smarte Kooperationspolitik gefragt, die trotz klarer Abgrenzungen Koalitionen oder eine parlamentarische Unterstützung für sozialdemokratische Politik hervorbringt. Für die eher konflikthafte politische Kultur des Landes wäre ein neues, kooperatives Politikmodell der Koalitionsbildung (das es nur in ein paar Regionen gibt, noch nie aber auf nationaler Ebene) langfristig von Vorteil, zumal absolute Mehrheiten im Zeichen der fragmentierten Parteienlandschaft der Vergangenheit angehören. In Europa stehen die Spanier zusehends alleine da.

Mit Präferenz strebte die PSOE zunächst in gewohnter Manier eine Minderheitsregierung an, die sich fallweise die notwendigen Stimmen besorgt. Noch in seiner Parlamentsrede im Zuge der ersten Abstimmungsrunde über seine Wiederwahl als Regierungspräsident am 23. Juli warb Sánchez vergeblich für seine »progressive, feministische, umweltorientierte und proeuropäische Regierung«. Mit einer scharfen Kritik an dem von Hass und Nostalgie geprägten Diskurs von VOX versuchte er die beiden bürgerlichen Parteien PP und Ciudadanos auf seine Seite zu ziehen. Sie sollten sich enthalten, um im Interesse des Landes eine Regierungsbildung zu ermöglichen. Sie mögen sich an Deutschland und Frankreich ein Beispiel nehmen, wo die konservativen Parteien eine Unterstützung durch die Rechtspopulisten strikt ablehnten. Und nicht wie in Spanien, wo sie in den Regionen Andalusien, Murcia und Madrid gestützt von VOX die Regionalregierung stellten.

Sang- und klanglos ging der geschäftsführende Regierungspräsident mit 124 Ja-Stimmen (seine eigene Fraktion und ein Abgeordneter einer kleineren Regionalpartei) unter – weit entfernt von den notwendigen 176 der notwendigen absoluten Mehrheit. Parallel dazu verhandelte die PSOE seit den gewonnenen Europawahlen bis Stunden vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang, vor und hinter den Kulissen, vergeblich mit Podemos über eine Koalitionsregierung. Zwar bringen PSOE und Podemos auch nicht die erforderliche Mehrheit zusammen. Gewählt ist im zweiten Wahlgang jedoch, wer eine einfache Mehrheit hinter sich bringt. Bei der angekündigten Enthaltung der meisten Regionalparteien hätte es also gereicht. Dabei hatte Sánchez ihnen einen Vizeregierungspräsidenten (für Soziales) und drei Ministerämter geboten. Was die Sozialdemokraten (bei einem Mandatsverhältnis von 123 zu 42) als maximales Entgegenkommen werteten, wies die Führung von Podemos als Abspeisen mit unwichtigen Ämtern ab. Gefehlt hat es bislang nicht nur an gegenseitigem Vertrauen, sondern auch an einem überzeugenden gemeinsamen politischen Projekt, das weit über Personalfragen hinausreicht. Das Label »progressiv« aufzukleben, reicht nicht.

Zunächst bleibt die sozialdemokratische Minderheitsregierung im Amt. Alle rechnen damit, dass Sánchez im September mit Verweis auf Neuwahlen noch einmal versuchen wird, eine Allianz einzugehen – entweder mit Podemos oder vielleicht mit der jüngst eher nach rechts abgedrifteten liberalen Ciudadanos. Bezüglich der Mandatszahl würde es für PSOE (123) und Ciudadanos (57) reichen. Innerhalb der nach rechts gerückten Liberalen rumort es gegen den von Parteichef Albert Rivera vorangetriebenen Rechtsschwenk. Der links-liberale Flügel könnte sich auch ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten vorstellen und möchte an die Koalitionsgespräche aus dem Jahr 2016 anknüpfen. Gestaltet sich das Zusammenbringen wie die ersten Regierungserfahrungen einer linken Mehrheit schwierig, ist nach einer politischen Schamfrist ein Umschwenken denkbar. Doch Ciudadanos hat sich mehrmals strikt gegen einen Pakt mit den Sozialisten ausgesprochen und Parteichef Rivera träumt nach dem Desaster der PP davon, deren Nachfolge als Hauptwidersacher der PSOE anzutreten. Die Europawahlen sollten ihm indes deutlich gemacht haben, dass er auf absehbare Zeit jedoch nur Nummer drei ist und ihm vielleicht eine Strategie wechselnder Koalitionen viel mehr Einfluss beschert.

Gibt es bis zum 23. September keinen bestätigten Premier, kommt es am 10. November zu einem erneuten Urnengang – dem vierten in vier Jahren. Jüngste Umfragen geben den Sozialdemokraten dann sogar fast 40 % – Ausdruck der zurückgewonnenen Glaubwürdigkeit in ihren politischen Gestaltungswillen.

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