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Wie Kultur die Demokratie retten kann – das Beispiel Palermo »Gewandelt im Kopf und im Herzen«

 

NG|FH:Herr Orlando, Sie schreiben in Ihrem Erzählband »Der sizilianische Karren«, Kultur und Legalität seien die beiden Räder, die die Demokratie voranbringen. Das Teatro Massimo bedeutet über die Stadtgrenzen Palermos hinaus etwas sehr Besonderes…

Leoluca Orlando: Die Fahne von Palermo weht auch über dem Opernhaus. In gewisser Weise ist das Teatro Massimo selbst zu einer Art Fahne geworden, nicht etwa, weil es ein so schönes Gebäude ist, sondern weil es über 23 Jahre geschlossen war – wegen eines Mafia-Bauskandals. Seine Wiedereröffnung war eine Wiedergeburt, ein Symbol für das, was in Palermo geschehen ist. Es gibt keine Stadt in Europa, die sich in den vergangenen 40 Jahren so sehr verändert hat. Nun kann man mir widersprechen, auch Berlin, Moskau, Prag und Vilnius haben sich verändert, aber in Verbindung mit geopolitischen Umwälzungen – dem Ende der Sowjetunion, dem Fall der Berliner Mauer. Wir aber haben uns im Kopf und im Herzen gewandelt, ganz ohne Verfassungszusatz. Wir haben einen neuen Lebensstil gefunden.

Zur Wiedereröffnung wurde Verdi gespielt, wie zur ersten Premiere 1897. Damals aber war es Falstaff, 1997 Nabucco. Der berühmte Freiheitschor. Der bringt mich immer dazu, an die Opfer der Mafia zu denken. Bei ihnen müssen wir uns bedanken. Sie müssen wir seligsprechen und ehren.

Palermo galt als Stadt im Dunkeln – auf der ein tödliches Schweigen lastete. Wie konnte es dazu kommen?

Es war ein Tabu, das Wort Mafia in den Mund zu nehmen. Nicht nur die Mafiosi, auch die netten Leute von nebenan schwiegen darüber. Sie waren stumm vor Angst. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts übernahm das Netzwerk der Cosa Nostra mehr und mehr staatliche Aufgaben, besetzte die repräsentativen Stellen des Staates, der Kirche, es besaß das Gesicht des Bischofs, des Bürgermeisters, des Polizisten und erschuf eine autonome Ordnung. Und nebenbei den Mythos einer »ehrenwerten Gesellschaft«.

Wann setzte der Wandel ein? Wann begannen Sie, das Wort Mafia laut auszusprechen?

Das war am Dreikönigstag 1980, als mein Freund Piersanti Mattarella, der damalige Präsident der Region Sizilien, ermordet wurde. Ich war einer seiner engsten Mitarbeiter und stand vollkommen unter Schock. Dieser Schock brachte mich dazu, in die Politik zu gehen, womit ich aber plötzlich meine eigene Familie gegen mich aufbrachte, auch Kollegen, die wollten, dass alles so bleibt wie es ist.

Und die Bürgerinnen und Bürger Palermos wehrten sich nicht?

Das hat gedauert. Aber mit jeder neuen Leiche wuchsen Wut und Widerstand und ersetzten allmählich die Ohnmacht, dem Morden nichts entgegensetzen zu können. Als dann 1992 die Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordet wurden, von Bomben zerfetzt der Eine, erschossen der Andere, gingen die Palermitaner auf die Straße und schrien: »Basta, genug ist genug.«

Sie haben viele politische Wegbegleiter und Freunde verloren, die sie im Kampf gegen die Mafia unterstützt haben. Sie selbst standen auf einer schwarzen Liste, schreiben Sie…

Ich erinnere mich an einen Tisch, an dem ich mit sehr vielen Menschen zusammensaß – von diesen bin ich der Einzige, der noch lebt, der Einzige.

War dieses Bild auch ihr Albtraum?

Ja. Für Giovanni Falcone und seine Frau Francesca habe ich damals die standesamtliche Zeremonie gehalten – ganz heimlich, samstagnachts im Rathaus. Ohne Foto, ohne Champagner. So traurig. Von mir, meiner Frau und meinen Töchtern existiert kein einziges offizielles Foto. Die Schule meiner Töchter habe ich nie besucht – ich hätte sie sonst gefährdet. Trotzdem kann ich sagen: Mission ausgeführt. Noch nicht komplett, aber ausgeführt.

Sie haben Baugesetze verändert, den Menschen Denkmäler zurückgegeben, sich um Schulen, Bibliotheken, Straßenbeleuchtung und die Müllentsorgung gekümmert…

Inzwischen haben wir eine direkte Kultur der Legalität. Aber lassen Sie uns bitte nicht bei der Mafia stehen bleiben. Denn wir sind weiter gegangen und dafür müssen wir uns bei den Migranten bedanken. Heute, denke ich, gibt es keine Stadt in Europa, vielleicht sogar weltweit, die so offen, so liberal ist wie Palermo.

2015 haben Sie die Charta von Palermo verfasst. Auch während der Coronapandemie, selbst während des harten Lockdowns nahmen Sie Geflüchtete auf. Ihr Engagement gegen die Mafia mündete in einer Neuformulierung der Menschenrechte.

Meine Vision für die Stadt lautet: Ich bin eine Person, zusammen bilden wir eine Gemeinschaft – gegen den Populismus. Ein Populist, egal ob von rechts oder von links, ist ein Mensch, der die Zeit nicht respektiert, sondern glaubt, in einer ewig dauernden Gegenwart zu leben. Dass eine Problemlösung nur sofort möglich ist oder gar nicht. Aber Veränderungen brauchen Zeit.

Das klingt philosophisch…

Ich habe in Heidelberg Jura und Philosophie studiert. Ich lernte Heidegger und Gadamer kennen.

Wie blicken Sie auf Themen wie Europa oder Migration?

Wenn Sie fragen, wie viele Migranten in Palermo leben, dann antworte ich: keiner! Denn wer in Palermo ist, ist Palermitaner. Ich mache keinen Unterschied zwischen denen, die in Palermo geboren wurden und jenen, die später hinzukamen. Das ist meine formelle Entscheidung. Sie können Palermo verlassen, wenn Sie wollen. Aber solange Sie in Palermo sind, sind sie Palermitaner.

Die Mafia war stets gegen Menschen, die anders, die fremd waren, sie war zutiefst intolerant. Und wenn ich über Migranten spreche, möchte ich auch über Homosexuelle sprechen. Ich bin der erste Bürgermeister Italiens, der die Hochzeit zweier Homosexueller zelebrierte und eine Gay-Pride-Saison über drei Monate veranstaltete. Das war 2019, vor der Pandemie. Der Titel lautete: Homosexualität und Migration. Ich habe meine homosexuellen Freunde getroffen und gesagt, ihr wollt Respekt für euer Recht – ich akzeptiere das natürlich. Aber darf ich euch bitten, auch das Recht von Migranten zu akzeptieren? Genauso habe ich auch mit Migranten gesprochen. Ihr wollt respektiert werden? Selbstverständlich! Aber darf ich auch darum bitten, die Rechte Homosexueller zu respektieren?

Was muss Europa jetzt tun, um diese Werte von Freizügigkeit und Toleranz zu erhalten?

Wir müssen uns beim Virus bedanken. Denn bis zur Pandemie war Europa lediglich das Europa der Banken. Jetzt nach bzw. mit dem Virus ist Europa endlich zu einer Union für Menschen geworden…

…auch für menschliche Werte?

Ja, denn in unserer menschlichen Geschichte war bislang nichts so global wie dieses Virus. Es hat mehr Staaten involviert und mehr Menschen als der Zweite Weltkrieg. Und hier müssen wir uns wieder bei den Migranten bedanken! Sie haben unsere traditionellen Vorstellungen verändert. Identität entsteht ja nicht durch die Eltern. Ich bin nicht Palermitaner, weil mein Vater und meine Mutter Palermitaner waren, sondern weil ich mich dazu entschieden habe. Die Migranten geben uns diese Botschaft von Freiheit mit auf den Weg.

Für Google bedeuten die Grenzen eines Staates nichts. Aber was bedeuten Grenzen für einen Migranten? Für ihn sind sie eine existentielle Bedrohung. Und mein Traum ist eine Welt ohne Grenzen.

Bedeutet das, auch Heimat neu zu definieren?

Ich kann nicht akzeptieren, dass andere über mein Heimatland entscheiden. Ich habe entschieden, dass mein Heimatland Italien ist, welches ich schütze.

Wenn ich mir die Europäische Union angucke – ihre Grenzen – so schützt sie sich nicht auf der Grundlage dieser Werte, die Sie aufzählen.

Sie sprechen über Sicherheit. Okay, ich habe entschieden, allen Migranten eine eingetragene Residenz zu geben. So müssen sie nicht länger schwarzarbeiten. Sie können ganz offiziell eine Wohnung anmieten, Steuern bezahlen! Und nicht nur das. Sie können die Polizei rufen und die Polizei weiß, wo sie sind. In einer Demokratie braucht Sicherheit Respekt vor Menschenrechten. Wer gegen Migranten ist, weil sie aus seiner Sicht ein Sicherheitsrisiko darstellen, propagiert die Diktatur. Ganz einfach. Das wurde natürlich nicht von allen so verstanden.

In seiner kurzen Zeit im Amt wurde der damalige Innenminister Matteo Salvini zu Ihrem erbittertsten Gegner…

Als Innenminister Salvini erfuhr, dass ich Migranten die eingetragene Residenz gegeben hatte, sagte er in einer Pressekonferenz, »Ich werde eine Armee nach Palermo schicken, um Orlando aufzuhalten!« Nach mehr als zwei Jahren ist die Armee immer noch nicht eingetroffen, aber ich bin noch hier.

Er hat zu wenige Mitstreiterinnen oder Mitstreiter gefunden…

Einen Tag, nachdem er das gesagt hatte, haben 2.000 junge Palermitanerinnen und Palermitaner einen Flashmob vor dem Rathaus veranstaltet. Gegen Salvini. Trotzdem standen die Bürgermeisterin von Crema in der Lombardei und ich mit unserem Engagement, allen Geflüchteten einen legalen Aufenthaltsstatus geben zu wollen, lange im Abseits. Dann aber gab es ein Urteil des Verfassungsgerichts, das das aggressive Salvini-Gesetz für illegal erklärte, weil es gegen die Verfassung verstößt.

Inzwischen titelte die BBC, Palermo sei »exciting, safe, not expensive«! Stimmt das?

Was denken Sie, warum so viele Touristen zu uns kommen? Für ein Hotelzimmer zahlt man hier nicht so viel wie in Rom oder Mailand. Und wir gelten mittlerweile als die sicherste Stadt Italiens. Aber wir haben ein ökonomisches Problem. Das heißt, dass wir unsere kulturellen Fortschritte in eine ökonomische Entwicklung transformieren müssen. An erster Stelle steht da der Tourismus.

Durch die Pandemie stieg sicherlich auch in Palermo die Arbeitslosigkeit. Wie ist die aktuelle Situation?

Niemand ist während der Pandemie allein geblieben. Wir haben allen Hilfe zukommen lassen, auch der protestantischen Waldenser-Kirche und der muslimischen Gemeinde – für die unsichtbaren Menschen…

…also für jene, die illegal in Palermo sind?

Nach wie vor leben viele illegal in Palermo – aus den verschiedensten Gründen. Das heißt, sie könnten von einem auf den anderen Tag sterben, denn offiziell dürfen wir nur jene finanziell unterstützen, die eine Residenz besitzen. Durch die genannten Organisationen erhalten aber auch alle anderen Geld.

In Europa diskutiert man darüber, wie viele Geflüchtete man in Deutschland, in Italien, in Frankreich usw. aufnehmen kann bzw. will…

Während wir darüber sprechen, sterben weiterhin Menschen. Irgendwann werden wir einen zweiten Nürnberger Prozess bekommen – wegen der Toten im Mittelmeer! Unsere Großväter und Großmütter konnten zu den italienischen und deutschen Massenmorden sagen: »Wir wussten es nicht«. Heute können wir das nicht sagen. Wir müssen eine europäische Problemlösung finden. Deswegen habe ich Ursula von der Leyen und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments einen Vorschlag gemacht, um das Recht auf Rettung durchzusetzen.

In diesem Moment sind die einzigen, die Leben retten, die NGOs. Ihre Schiffe im Mittelmeer haben alle die Fahne Palermos gehisst: Open Arms, Sea Eye, Sea Watch usw. Auch der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Heinrich Bedford-Strohm unterstützt die Seenotretter Palermos. Jeden Sonntag hält er eine offizielle Zeremonie, Anfang September fand diese in Palermo statt. Das ZDF war dabei – viele Journalisten sind gekommen, auch ich habe bei dieser Zeremonie gesprochen.

Spüren Sie in Palermo bereits die Auswirkungen der Afghanistan-Politik?

Natürlich! Der Besitzer des Restaurants »Moltivolti« ist Afghane. Gemeinsam mit ihm habe ich Ende August Tag und Nacht versucht, Afghanen zu retten. Bei ungefähr 40 Menschen ist es uns gelungen. Ich habe Namen an den Außenminister weitergeleitet, Fotos von Reisepässen, Telefonnummern. Bei drei Menschen konnten wir nicht in Kontakt bleiben, weil ihr Akku leer war, was für eine Tragödie.

Ihre letzte Amtszeit neigt sich dem Ende zu. Und dabei gibt noch so viel zu tun. Was werden Sie machen?

Ich werde alles daransetzen, dass mein Nachfolger meine Vision fortsetzt, weil sie so wichtig ist. Dasselbe hatte ich bereits nach meiner ersten Amtszeit als Bürgermeister 2000 gemacht. Mit einer kleinen Stiftung habe ich mein Modell nach Mexiko, Kolumbien, Georgien und in viele andere Länder exportiert.

In Ihrer Autobiografie »Ich sollte der nächste sein« schreiben Sie, dass Sie eigentlich unmusikalisch sind…

…trotzdem habe ich das Opernhaus besucht, seitdem ich fünf Jahre alt bin – mit meiner Familie. Ich kenne es noch aus der Zeit, bevor es geschlossen wurde. Und natürlich liebe ich Musik. Weil sie eine Besonderheit besitzt: Sie kennt keine Grenzen.

Die Musik, die ich besonders mag, ist Jazz – Jazz ist multikulti! Und ich liebe Johann Sebastian Bach, weil er ein Revolutionär war, der die Musik verändert hat – durch seine Variationen und Improvisationen. Und in gewisser Weise ist Jazz ein Kind Bachs.

Unterschätzen wir die Kraft der Musik oder insgesamt der Kunst, wenn es um eine funktionierende Demokratie geht?

Wir sollten sie nie unterschätzen! Ende der 80er Jahre lernte ich Pina Bausch kennen, sie kam nach Palermo und entwickelte dort ihr Stück, das sie unserer Stadt widmete: »Palermo, Palermo«. Wundervoll! Nie wieder habe ich solche Tänzer erlebt. Zu Beginn bricht auf der Bühne eine Mauer ein, eine Tänzerin läuft unablässig die Wände hoch… Das war 1989, wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer.

Ein Symbol dafür, dass auch die Mauer des Schweigens, mit der sich die Mafia schützte, Risse bekam – zugleich auch eine Absage an jede Diktatur?

Pina Bausch war eine Visionärin. Nie wieder habe ich Vergleichbares auf einer Bühne gesehen. Als ich 1997 das Teatro Massimo wiedereröffnete, traf ich auf der Straße einen einfachen Mann, der nicht wusste, wie ein Theater von innen aussieht. Er kam zu mir und sagte: »Ich war noch nie in einem Opernhaus, auch mein Vater und Großvater nicht. Ich weiß nichts über Musik. Aber heute, da Sie das Teatro Massimo wiedereröffnen, bin ich glücklich.«

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