Das am 30. Mai 2019 in Kraft getretene African Continental Free Trade Agreement (AfCFTA) passt sowohl zur dominanten wachstumsorientierten Wirtschafts- und Lebensweise als auch zu den zentralen dominierenden entwicklungspolitischen Diskursen, wonach Handelsliberalisierung erstens stets positive Wachstums- und Wohlfahrtseffekte hat, Entwicklung zweitens der Industrialisierung bedarf und drittens Afrika im Kommen ist und zwar über private Investitionen. In der Tat ist es bisher für afrikanische Unternehmen leichter, Handel mit Europa als mit Ländern auf dem eigenen Kontinent zu treiben. Doch AfCFTA kann weder die großen Mängel an Transportinfrastruktur so einfach beheben, noch liefert es Antworten auf die grundsätzlichen Fragen, welche Güter (jenseits von Rohstoffen) gehandelt werden sollen und wie Entwicklung inklusiv und nachhaltig gestaltet werden kann.
Die afrikanischen Gewerkschaften haben zum AfCFTA weitgehend geschwiegen. Sie haben es bisher auch versäumt, grundsätzliche politische Positionen zu entwickeln, die das Wachstumsnarrativ kritisch hinterfragen. Auch progressive Beobachter sind hier zunehmend pessimistisch. Dafür gibt es durchaus gute Gründe: Nach ihrer komplexen Geschichte als wichtige Bündnispartner von Befreiungsbewegungen wurden Gewerkschaften und ihre Forderungen von den nachkolonialen Regierungen oft als potenzielle Entwicklungshindernisse betrachtet. Eine völlig antagonistische Frontstellung von Gewerkschaften und Regierungen wurde jedoch durch eine vielschichtige Kooptation vermieden, die – stark vereinfacht formuliert – darauf hinauslief, dass die Gewerkschaften sich weitgehend auf die Organisierung des öffentlichen Sektors und weniger privater, oft multinationaler Unternehmen beschränkten, der große landwirtschaftliche Sektor und die wachsende informelle Ökonomie daneben allerdings fast völlig unorganisiert blieben. Im Ergebnis wurden die Gewerkschaften zwar meist nicht zentraler Teil der Elitenkonstellationen, welche die postkolonialen Staaten dominierten, sie und ihre Mitglieder wurden aber nicht ganz zu Unrecht von Vielen so wahrgenommen.
Dies ändert sich langsam, einerseits, weil als Folge von Austeritätspolitik und ökonomischen Krisen die Verteilungskämpfe zunehmen, und andererseits, weil sich viele Gewerkschaften unter diesem Eindruck und dem daraus folgenden Mitgliederschwund gewissermaßen auf ihre Kernaufgaben besinnen und folglich nicht nur in zentralen, auch transnationalen Wirtschaftsbereichen wie Einzelhandel, Transportsektor und Bauwirtschaft aktiver werden, sondern auch versuchen, den teilweise künstlichen Graben zur informellen Wirtschaft zuzuschütten und dort Menschen zu organisieren beziehungsweise sie bei der Selbstorganisation zu unterstützen.
Wenn also derzeit noch der Eindruck einer von den Gewerkschaften des öffentlichen Sektors dominierten, erschreckend fragmentierten und zerstrittenen afrikanischen Arbeiterbewegung vorherrscht, so darf doch nicht vergessen werden, dass die Gewerkschaften immer noch die mobilisierungsfähigsten, demokratisch organisierten politischen Akteure in Afrika sind. Auch stellen viele Gewerkschaften unter Beweis, dass sie reform- und durchsetzungsfähig sind. Es wäre also voreilig, sie abzuschreiben. Dennoch ist die Frage berechtigt, welchen Anspruch sie haben können, wenn sie nur etwa 5 % der erwerbstätigen Bevölkerung vertreten.
Die Antwort liegt im Fokus auf eine inklusive Entwicklung: Wenn die Gewerkschaften selbst inklusiver werden wollen – und das müssen sie, wollen sie ihre eigene Zukunft nicht aufs Spiel setzen – dann geht dies nur über die Zielsetzung, einen wirtschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen, der den Bevölkerungen insgesamt zugutekommt. Private Investitionen werden derzeit als die entscheidenden Jobgeneratoren beschrieben; auf sie ist auch zunehmend die Entwicklungszusammenarbeit ausgerichtet. Besonderes Augenmerk gilt z. B. den chinesischen Investitionen im Infrastrukturbereich. Die Frage ist allerdings, welche Qualität die neu geschaffenen Arbeitsplätze haben und welche Teilhabe sie am wachsenden Wohlstand ermöglichen. Tatsächlich haben die Bestrebungen der Regierungen, private Investitionen ins Land zu bringen, um Wachstum zu erzeugen, in vielen Ländern zu einer Verschlechterung der Sozialstandards und zu einer Zunahme von prekärer und informeller Arbeit geführt. In Sonderwirtschaftszonen werden die nationalen Arbeitsrechte teilweise außer Kraft gesetzt. Beschäftigte und Regierungen verschiedener Länder werden in diesem »race to the bottom« gegeneinander ausgespielt. Starke Gewerkschaften sind also dringend nötig.
Tatsächlich sind durch den Abschluss von internationalen Rahmenabkommen (Global Framework Agreements) zwischen globalen Gewerkschaftsverbänden wie der Union Network International (UNI) im Dienstleistungsbereich und multinationalen Unternehmen schon Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass die betriebliche Interessenvertretung verbessert wird. Doch die Herausforderungen sind grundsätzlicher Natur:
Aufgrund des niedrigen Entwicklungs- und Produktivitätsniveaus verfügen die Beschäftigten in Afrika nur über schwache strukturelle Macht im Produktionsprozess und am Arbeitsmarkt. Diese kann auch nicht ohne Weiteres durch eine steigende Organisationsmacht von Gewerkschaften kompensiert werden, u. a. weil es in der informellen Ökonomie oft keine Verhandlungspartner gibt. Gesellschaftliche Bündnisse werden durch den teilweise berechtigten schlechten Ruf der Gewerkschaften erschwert. Der wichtige institutionelle Schutz von Gewerkschaften und Beschäftigten durch Gesetze und informelle Regeln ist einerseits löchrig, andererseits ist er da, wo er ausgebaut ist, oft genug zu starr und wirkt für die Mehrheit der Ausgeschlossenen als unüberwindbare Hürde für den Einstieg in den formalen Arbeitsmarkt. Staatliche Maßnahmen wie eine soziale Grundsicherung für alle Menschen (»social protection floor«) können helfen, führen aber nicht zu einer selbsttragenden, inklusiven Entwicklung. Sie sind für Staaten, die mit Terrorismus, Dürren und anderen Naturkatastrophen konfrontiert sind, auch nicht ohne Hilfe von außen zu leisten.
Die größte wirtschaftliche Herausforderung für den Kontinent führt wieder zurück zum Projekt einer afrikanischen Freihandelszone. Afrika ist in weiten Teilen von einer »premature deindustrialization« erfasst worden, das heißt die De-Industrialisierung hat lange vor dem Erreichen der Ziele der nationalen Industrialisierungsstrategien eingesetzt. Dies erklärt die Sorge von Ländern wie Südafrika, Ghana und Nigeria, dass nicht-afrikanische (insbesondere chinesische) Produkte indirekt zollfrei ins Land gelangen können, d. h. über andere afrikanische Länder, und damit ihre Industrialisierungsstrategie konterkarieren. Nigeria hat seine Grenzen auch deshalb derzeit geschlossen. Es ist in der Tat insbesondere der Industrialisierungserfolg Chinas, der zur vorzeitigen De-Industrialisierung Afrikas wesentlich beigetragen hat, während die in Europa und Nordamerika stark diskutierte Digitalisierung der Wirtschaft eine weit geringere Rolle spielt. Regierungen und Gewerkschaften ist noch nicht bewusst, dass die mit der Digitalisierung der Arbeit verbundenen Produktivitätsfortschritte die zukünftige Beschäftigungsentwicklung im verarbeitenden Gewerbe der Länder Afrikas ebenfalls nachhaltig beeinflussen werden.
Bisher haben die Industrialisierungsstrategien afrikanischer Länder es also nicht vermocht, genug Arbeitskräfte im produktiven, verarbeitenden Gewerbe zu absorbieren. Dies liegt einerseits daran, dass der demografische Druck sehr hoch ist und andererseits an der großen Konkurrenz durch westliche und vor allem chinesische Industrieprodukte. Viele afrikanische Ökonomien bleiben daher einerseits auf den Export von Rohstoffen fokussiert und andererseits auf die wenig produktive Landwirtschaft und informelle Dienstleistungen. Die Hoffnung, dass Handelsliberalisierung zu Industrialisierung und dem Aufbau von Wertschöpfungsketten auf dem afrikanischen Kontinent führt, kann mithin trügerisch sein und scheint von Wunschdenken geprägt.
Die afrikanischen Gewerkschaften stehen also vor der Herausforderung, nicht nur die Berücksichtigung von sozialen Belangen und den Schutz von Arbeitnehmerrechten in den Liberalisierungs- und Industrialisierungsprozessen durchzusetzen, sondern grundsätzlich Strategien zu entwickeln, wie die nationalen Wirtschaften diversifiziert und entwickelt werden können. Darüber hinaus stellt sich auch in Afrika – jenseits von simplen Verzichtsdebatten – die Frage des Umgangs mit dem menschengemachten Klimawandel, dessen Folgen die Menschen in Afrika besonders treffen. Diese Diskussion ist für einen Kontinent, der seine wirtschaftliche Entwicklung bisher weitgehend auf der rücksichtslosen Ausbeutung von Rohstoffen aufgebaut hat, nicht einfach, und die entsprechenden Diskurse werden von einigen wenigen Eliten größtenteils über die Köpfe der betroffenen Bürger hinweg geführt. Gelingt es, die notwendige strukturelle Transformation der Wirtschaft so zu gestalten, dass ein inklusives Wachstum nicht behindert wird? Wie kann in den wirtschaftlich oftmals abgekoppelten Ländern Afrikas eine sozial-ökologische Transformation unterstützt werden, die nicht zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung, sondern zu ihrem Nutzen ausgestaltet ist? Hier gilt es für die Gewerkschaften, im Rahmen einer »just transition«, also eines sozial gerecht gestalteten Übergangs zu einer weniger klimaschädlichen Wirtschaft, eine proaktive Rolle zu spielen und im Verbund mit der Klimabewegung für gerechte und langfristige Energie- und Wirtschaftskonzepte zu kämpfen.
Mehr Fragen als Antworten also. Aber da Entwicklung insbesondere von stabilen und effektiv funktionierenden Institutionen abhängt, sollte der Schutz der Rechte und Standards der Beschäftigten und ihrer Organisationen stärker in den Blick genommen werden. Langfristige private Investitionen brauchen nicht nur formale Rechtssicherheit, sondern auch sozialen Frieden. Und wirtschaftlicher Fortschritt braucht die gerechte Verteilung der Gewinne. In Bezug auf die soziale Verantwortung multinationaler Unternehmen ist die Politik der Freiwilligkeit klar gescheitert. Gesetzliche Maßnahmen zur Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten entlang der Wertschöpfungskette (wie sie in Frankreich bereits beschlossen wurden) müssen ins Zentrum des entwicklungspolitischen Handels gestellt werden.
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