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Gibt es eine digitale Identität?

Digitalisierung und die daraus resultierenden Folgen für unser Menschsein sind in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der öffentlichen Diskussion gerückt. In philosophischen Diskursen wird hingegen die digitale Kultur bis heute eher vernachlässigt. Dabei könnte gerade das philosophische Denken in seiner konkreten, an die Lebenswelt der Menschen angelehnten Form, den Diskurs um das vermeintlich »digitale Menschsein« bereichern – und zwar indem es die Lebenswelt der Menschen aufgreift und gleichzeitig Distanz zu ihr gewinnt, um den gestellten Fragen nüchtern und doch nicht gleichgültig zu begegnen. In diesem Sinne möchte ich hier die Frage aufgreifen, inwieweit die Rede von einer »digitalen Identität«, wie sie so häufig zu hören ist, überhaupt ihre Berechtigung hat.

Mit »digitale Identität« ist zum einen die Summe der von uns in digitale Welten eingespeisten Daten gemeint. Insofern wäre meine »digitale Identität« einfach nur das, was andere über mich in digitaler Form wissen können, das, was ich zumeist im Internet von mir preisgebe. Eine Art digitaler Doppelgänger für den Fall, dass meine persönlichen digitalen Daten umfangreich sind und mein Aktivitätenprotokoll entsprechend reichhaltig ist, vielleicht aber auch nur ein verschwommenes, undeutliches Spiegelbild für den Fall, dass ich das Internet selten nutze, wenig preisgebe oder mich entsprechend schütze. Gegen diese Verwendung des Begriffs ist nichts einzuwenden – er beschreibt eine Faktenlage.

Andererseits kann der Begriff der »digitalen Identität« aber auch emotionaler verhandelt werden: Dann geht es um die Idee, dass durch die fortschreitende Digitalisierung nicht nur unsere Lebenswelt verändert wird, sondern in der Folge auch wir selbst, und zwar in einer grundlegenden Weise, die die althergebrachten Vorstellungen von menschlicher Identität als überholt erscheinen lässt. Zum Teil ist damit die beinahe euphorisch vorgebrachte Idee eines »neuen Menschen« verbunden, zum Teil aber auch die kulturpessimistische Angst vor dem Verlust eben jenes ursprünglichen Menschseins, was auch immer genau darunter verstanden wird. Auch wenn es in Veröffentlichungen zum Thema oft nicht explizit so formuliert wird, so schwingt doch implizit häufig die Vorstellung mit, dass die Digitalisierung einen unvergleichlichen Einschnitt mit sich bringt, einen Einschnitt in die Gesellschaft, in die Kultur, in unser Leben, vor allem aber in unser Selbstverständnis und in das, was uns als Individuen ausmacht – in unsere Identität.

Es kann nicht bestritten werden, dass die Digitalisierung vieles grundlegend verändert. Heutige Generationen wachsen in einer Lebenswelt auf, die mit der ihrer Großeltern in manchen Punkten nicht mehr zu vergleichen ist. Von der ersten Gute-Nacht-App und dem ersten Skype-Telefonat an bewegen sich heutige Kinder auch in digital-virtuellen Welten und pflegen schon früh einen selbstverständlichen, gewohnheitsmäßigen Umgang mit der Digitalität. Der körperliche Kontakt scheint in den Hintergrund zu treten, wenn die Kommunikation hauptsächlich über WhatsApp und Facebook stattfindet. Und nicht zuletzt gibt es immer mehr Bereiche, in denen bestimmte Aktionen nur noch digital vollzogen werden können: Von der Einschreibung an der Uni bis hin zur Anmeldung zur Theorieprüfung der Fahrschule – immer mehr Handlungen erfordern einen Internetzugang.

Es kann auch nicht bestritten werden, dass diese Veränderung der Lebenswelt zwangsläufig eine Veränderung unserer selbst, unserer Identität bedeutet. Nur der sprichwörtliche Gelehrte im Elfenbeinturm kann die Meinung vertreten, dass man unsere Identität abgelöst von äußerlichen Bedingungen verstehen könnte. Als Menschen sind wir in unsere Umwelt nicht nur eingebettet, sondern, vor allem weil wir so anpassungsfähige und lernbedürftige Wesen sind, zwangsläufig durch sie auch geformt. Die Merkmale unserer persönlichen Identität, wie ich sie verstehe, nämlich erstens: Körper und Leib, zweitens: Charakter, drittens: Wille und Werte, viertens: soziale Rollen und fünftens: Selbstnarration und Lebensgeschichte – diese Merkmale machen uns als individuelle Menschen aus. Insofern wäre es naiv zu glauben, dass die Digitalisierung, die in immer mehr Bereiche unseres täglichen Lebens Einzug hält, nicht auch einen Einfluss auf unsere Identität ausüben würde.

Was allerdings bestritten werden kann, ist der grundsätzliche und umwälzende Charakter dieses Einflusses. So als bräuchten wir dringend einen neuen Begriff, nämlich eben den Begriff der »digitalen Identität«, um das überhaupt nur fassen zu können, was unsere Identität im ursprünglichen Verständnis abgelöst haben soll. Dieser Vorstellung widerspreche ich vehement. Alle fünf genannten Identitätsmerkmale behalten meiner Meinung nach auch in Zeiten der Digitalisierung ihre uneingeschränkte Gültigkeit, auch wenn sie, in ihrer speziellen, individuellen Form von der Digitalisierung der Lebenswelt natürlich nicht unberührt bleiben. Ich möchte das am Beispiel von Körper und Leib verdeutlichen, ein Identitätsmerkmal, das durch den Einfluss digitaler Phänomene als besonders umstritten erscheint.

Dass man in digitalen Welten nicht direkt als Körper anwesend ist, versteht sich von selbst. Nur wird aus dieser Feststellung schnell die oft wiederholte Behauptung abgeleitet, die Bedeutung unseres Körpers sei durch unseren »Aufenthalt« in digitalen Welten infrage gestellt. Als würde der Körper als Identitätsmerkmal nicht mehr von Belang sein, weil vieles heute ohne direkte körperliche Anwesenheit erledigt werden kann, nicht zuletzt weil auch der menschliche Kontakt immer häufiger weitgehend »körperlos« vonstatten geht.

Was aber ist dann von der unglaublichen Anzahl von Fotos zu halten, die täglich in Hülle und Fülle hochgeladen werden, darunter zum großen Teil auch Selfies? Derjenige, der soziale Netzwerke wie Facebook als Plattform für Selbstdarsteller annimmt, wird auch zugeben müssen, dass es sich dabei in den meisten Fällen auch, und nicht unwesentlich, um die Darstellung des eigenen Körpers handelt. Hier und da retuschiert vielleicht, aber gerade die Aufmerksamkeit, die der körperlichen Selbstdarstellung im Internet gewidmet wird, zeugt ja von der Bedeutung, die der Körper auch im digitalen Zeitalter noch als Identitätsmerkmal innehat.

Über diese Selbstdarstellungsmechanismen hinaus ist der Körper noch in einer weiteren Weise aus dem Internet nicht wegzudenken: Und zwar als sekundäres Identitätsmerkmal, das mittelbar dadurch identitätsstiftend ist, dass es unsere anderen Identitätsmerkmale mitbestimmt. Wie oft haben wir den Mythos von der körperlich gehandicapten Person gehört, die in der digitalen Kommunikation endlich frei von ihrer Behinderung sein kann? Sicherlich bieten die virtuellen Welten die Möglichkeit, solche Merkmale vor den Gesprächspartnern weitgehend zu verstecken. Aber es wäre naiv zu glauben, dass unser Wille, unsere Werte, unser Charakter, unsere Rollen und unsere Selbstnarration völlig unabhängig von unserer tatsächlichen körperlichen Beschaffenheit existierten. Das, was uns ausmacht, ist auch von unseren Körpern mitbestimmt. Eine körperliche Beeinträchtigung ist nur ein besonders augenfälliges Beispiel dafür. In Wirklichkeit können wir den eigenen Körper eben aus dem Grund weder on- noch offline zurücklassen, weil wir durch ihn geworden sind, wer wir sind und er sich damit, wenn auch nur mittelbar, in jeder unserer Handlungen – seien sie nun digital oder analog – äußert.

Die Leiblichkeit ist das subjektive Körperempfinden im Gegensatz zum objektiven, messbaren, von außen zu betrachtenden Körper. Und auch sie wird häufig als Opfer der Digitalisierung beklagt: So wird beispielsweise der Verlust menschlicher Bindungen angemahnt, der mit dem Fehlen der Gesamtleiblichkeit in der digitalen Kommunikation begründet wird.

Es ist nicht zu leugnen, dass die Leiblichkeit im Internet manche sinnliche Faktoren, wie den Geruch, Geschmack und Tastsinn, auslässt – Faktoren, die für menschliche Bindungen nicht zu Unrecht als entscheidend angesehen werden. Nur würde ich daraus nicht den Schluss ziehen, dass wir durch den Umgang mit digitalen Daten gesamtleibliche Beziehungen verlieren oder aufzugeben gewillt sind. Gerade neuere Entwicklungen wie das Web 2.0 stützen sich viel eher auf den Kontakt mit bereits bestehenden Offline-Bekanntschaften, als dass reine Internetkommunikationspartner, zu denen ich nur ein eingeschränkt leibliches Verhältnis habe, der Normalfall wären. Nicht zuletzt zeugen die Emoticons vom ständigen Versuch, die Leiblichkeit in die digitale Kommunikation einzubeziehen.

Aber viel deutlicher noch erscheint die Leiblichkeit im Internet in dem, vielleicht etwas ungünstig benannten, Körperschema, bzw. dem erweiterten Körperschema, wie es vor allem durch den Philosophen Maurice Merleau-Ponty bekannt wurde: Zu einem Tennisschläger hat der erfahrene Tennisspieler keine objektiv-körperliche Haltung, der Schläger wohnt vielmehr der Leiblichkeit des Spielers inne. Er fungiert als Erweiterung des eigenen Leibes, insofern er nicht bei jedem Schlag bewusst gegen die Höhe und Geschwindigkeit des ankommenden Balles aufgerechnet werden muss, sondern der Spieler wie selbstverständlich durch ihn handelt.

Dieses Phänomen scheint auf digitale Objekte ebenso zuzutreffen: Der Mauszeiger auf dem Bildschirm wird nicht durch bewusste Kontrolle von einer Schaltfläche zur nächsten bewegt, sondern ich bewege ihn ganz natürlich und ohne darüber nachzudenken, eben so, wie ich auch meine Hand von einem Objekt zum nächsten bewegen würde. Genauso verhält es sich mit Avataren und einer Unzahl anderer digitaler Werkzeuge. Diese Form der Einleibung zeigt, dass das Körperschema auf digitale Welten ausgeweitet werden kann und dass das Internet, obwohl es in Bezug auf die Körperlichkeit nur metaphorisch als Raum bezeichnet werden kann, in Bezug auf die Leiblichkeit einen realen Raum bildet. In diesem Sinne ist es richtig davon zu sprechen, dass wir uns »auf« einer Homepage befinden. Das Internet ist ein Handlungsraum und nur durch unsere Leiblichkeit als solcher bestimmt.

Eine ernsthafte Beschäftigung mit unserer körperlichen und leiblichen Identität zeigt also keineswegs, dass wir diese in digitalen Welten verlieren oder aufzugeben gewillt sind. Zu sehr sind diese Identitätsmerkmale mit dem verbunden, was wir als Menschen sind, was uns als Individuen ausmacht. Selbstverständlich wird unser Verhältnis zu diesen Merkmalen auch von der immer stärker digital ausgerichteten Umwelt verändert. Aber das sogenannte »digitale Menschsein« ist weiterhin eine zutiefst körperlich und leiblich bestimmte Identität. Der nüchterne Blick auf die neuesten Entwicklungen zeigt: Auch in digitalen Welten werden wir nicht zu kartesischen Geistwesen, der Begriff einer genuin »digitalen Identität« ist also meines Erachtens fehl am Platze.

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