Seit der von Karl Jaspers so bezeichneten »Achsenzeit«, also der Zeitspanne von 800 bis 200 vor Christi Geburt, in der nahezu zeitgleich in Griechenland, im Vorderen Orient, in Indien und in China die bis heute wirksamen religiösen und metaphysischen Weltdeutungssysteme entstanden, spielt sich, nicht nur, aber vor allem, in Europa ein konfliktreicher Prozess der Auseinandersetzung über das Verhältnis von Glauben und Wissen ab, der spätestens seit der Frühaufklärung die Konturen einer allmählichen Säkularisierung des Denkens und Handelns annimmt. Freilich hat dieser Prozess nicht, wie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von vielen erwartet, zu einem Verschwinden der Religion geführt. Vielmehr haben sich in den meisten Ländern Formen einer Koexistenz von säkularer Weltsicht und Alltagspraxis mit einer Vielzahl von Angeboten religiöser Sinngebung und Ritualisierung des Lebens herausgebildet.
Wo sich die westliche Lebensweise durchgesetzt hat, sind inzwischen Staat und Recht dem bestimmenden Einfluss religiöser Autoritäten weitgehend entzogen. Politik und Administration haben sich von den Ansprüchen der Religion auch deswegen emanzipiert, weil sich die Religion bei der technisch-ökonomischen Verarbeitung des wachsenden Weltwissens oft als Hindernis erwies. Zugleich führen heute die ökonomische Globalisierung und die durch sie ausgelösten oder geförderten neuen Migrationsbewegungen dazu, dass der kulturelle und religiöse Pluralismus in den meisten Gesellschaften zunimmt und vermehrt Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen von Gläubigen und zwischen Gläubigen und dezidiert Säkularen auftreten. Wenn diese Konflikte nicht zu einem – auch kriegerisch ausgetragenen – »Kampf der Kulturen« ausarten sollen, wie ihn der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington in den 90er Jahren voraussagte, müssen wir uns fragen, unter welchen Bedingungen eine verbindliche globale Rechtsordnung geschaffen werden könnte, die mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen kompatibel ist, und nicht den spezifisch europäischen Weg der Säkularisierung einseitig präferiert.
In zwei Bänden mit insgesamt über 1.700 Seiten hat Jürgen Habermas nun diesen Prozess aus dem Blickwinkel des Philosophen als eine, wie er selbst einräumt, auf den okzidentalen Pfad »eingeschränkte« Genealogie des postmetaphysischen Denkens akribisch nachgezeichnet und andererseits darüber reflektiert, unter welchen Bedingungen eine Globalisierung dieses Prozesses zur Grundlage einer gerechten und allgemein akzeptierten Weltordnung führen könnte. Er greift dabei Themen wieder auf und führt sie zusammen, die er seit seiner Friedenspreisrede im Jahr 2001 unter der Überschrift »Glauben und Wissen« in mehreren Publikationen erörtert hat. Anders als Samuel Huntington geht Habermas davon aus, dass eine tragfähige globale Rechtsordnung unmöglich ist, solange die durch die griechisch-jüdisch-christlichen Überlieferungen geprägte westliche Kultur »nach wie vor mit dem Anspruch auf universale Geltung« auftritt, wie dies in der kolonialistischen Vergangenheit der Europäer und nach dem Zweiten Weltkrieg im Konzept der globalen Ordnungsmacht durch die USA der Fall war. Gelingen kann ein solches Projekt allenfalls, so Habermas, als Ergebnis eines offenen weltweiten Diskurses, an dem Vertreter aller religiösen Gruppen und der säkular Eingestellten gleichberechtigt teilnehmen.
Wie bei dem Autor nicht anders zu erwarten, sind es für ihn vor allem diskursethische bzw. diskurspragmatische Bedingungen, die bezüglich Erfolg oder Misserfolg eines solchen Unternehmens den Ausschlag geben. »Denn die Teilnehmer eines ernsthaft geführten Diskurses«, schreibt er, »müssen sich gegenseitig als vernünftige Subjekte anerkennen, die voneinander lernen können. Diese diskurspragmatische Voraussetzung würde verletzt, sobald sich die säkulare Seite von einem exklusiven Verständnis von Vernunft leiten ließe und dem religiösen Einbettungskontext, der für die andere Seite nicht nur eine motivationale, sondern eine kognitive Bedeutung hat, den Respekt verweigerte«. Der Vernunftbegriff, von dem der Autor sich leiten lässt, das zeigt sich nicht nur an dieser Stelle, ist kein kämpferisch säkularer, erst recht kein technokratisch trivialisierter, sondern einer, der sich der seit der Achsenzeit weiterwirkenden religiösen und metaphysischen Grundimpulse bewusst bleibt. So ist es zu verstehen, wenn der Autor am Ende des Eingangskapitels schreibt: »Mein Versuch einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens soll dazu ermutigen, den Menschen nach wie vor als das ›Vernunft habende‹ Tier zu begreifen und dabei an einem komprehensiven Begriff der Vernunft festzuhalten.«
Habermas geht es nicht um eine Entzauberung oder gar eine Widerlegung des Glaubens, sein Interesse gilt dem Prozess der allmählichen »Entkoppelung des Glaubens vom Wissen vor allem im komplementären Hinblick auf eine Philosophie, die sich nun ihrerseits vom Glauben löst und ihre Probleme im wissenschaftlichen Geiste, also – ungeachtet des persönlichen Bekenntnisses – in der methodischen Einstellung des ›etsi deus non daretur‹ behandelt.« Diese Ablösung der Philosophie vom Glauben wird in dreifacher Hinsicht folgenreich, nämlich im Verhältnis zur religiösen Überlieferung, im Verhältnis zu Recht, Politik und Gesellschaft und im Verhältnis zur modernen Naturwissenschaft. Für Habermas folgt diese Entwicklung im Ganzen einer immanenten Logik, ist nicht umkehrbar und letztlich auch nicht ausschließlich europäisch, sondern ein sich in verschiedenen Verlaufsformen und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen vollziehendes globales Geschehen.
Genau dies ist aber Habermas von einigen Rezensenten als Einseitigkeit vorgeworfen worden. So hat Hans Joas in der Süddeutschen Zeitung vom 14. November 2019 gegen Habermas eingewandt, dass er, statt zu fragen, was die Philosophie aus dem Diskurs über Glauben und Wissen gelernt hat, lieber hätte fragen sollen, »wie die Philosophie in ihrer Geschichte zu einem angemessenen Verständnis des Glaubens kam oder noch kommen könne«. Wie ein solches »angemessenes Verständnis des Glaubens« durch die Philosophie aussehen könnte, ohne dass die Philosophie im Sprechen über religiöse Gegenstände ihre eigene Verwissenschaftlichung aufgäbe, bleibt allerdings bei Joas unklar. Worum es ihm wirklich geht, wird deutlich, wenn er wenige Zeilen weiter schreibt: »Der Grundgestus von Habermas ist, dass Religion zwar heute ›noch‹ existiere, aber vom Richterstuhl der ›Vernunft‹ aus gesehen doch ein Relikt der Vergangenheit sei.« Hätte Joas an dieser Stelle statt Religion »Theologie« geschrieben, wäre an dieser Aussage wenig auszusetzen gewesen, jedenfalls, sofern mit Theologie jene spätmittelalterliche und neuzeitliche Theologie gemeint wäre, die für sich lange Zeit den Spitzenplatz unter den universitären Wissenschaften reklamierte. Wenn hier aber Religion als Habitus und rituell dokumentierte Lebenseinstellung gemeint ist, so ist festzuhalten, dass eine solche Religion gar nicht im Fokus des kritischen nachmetaphysischen Denkens steht, mit dem sich Habermas befasst.
Geradezu absurd wird es, wenn Joas in seiner Rezension meint, dem Autor Folgendes mahnend vorhalten zu müssen: »Aber nicht nur religiöse Institutionen sind eine potentielle Bedrohung. Die Kontrolle durch ›säkulare‹ Institutionen, zum Beispiel eine kommunistische Partei und ihren Staatsapparat, ist doch genauso abzulehnen wie religiöse Bevormundung.« Dass Joas ausgerechnet dem Autor Habermas, der seit Jahrzehnten die Grundlagen der Freiheit und der liberalen Demokratie gegen alle Spielarten des Autoritarismus und der Despotie verteidigt, meint, dies ins Stammbuch schreiben zu müssen, lässt sich nur dadurch erklären, dass er dessen Geschichte des nachmetaphysischen Denkens als einen einzigen Angriff auf die eigene Religion und Religiosität missversteht.
Bedenkenswerter erscheint mir da schon eher Joas' Hinweis, dass nicht (besser: nicht nur) metaphysische Weltbilder und sozialintegrative Rituale die Menschen in den Bann von Religionen ziehen, sondern (auch, vielleicht sogar vor allem) »außeralltägliche Erfahrungen, allein oder mit anderen, welche der Artikulation bedürfen«. Der Erfahrungsbegriff, den Joas hier verwendet, ist offenbar ein anderer als der, den David Hume verwendet, wenn er in den Dialogen über natürliche Religion kategorisch feststellt, dass wir keine Erfahrungen von den göttlichen Eigenschaften und Handlungen haben. Inwiefern sich solche wie auch immer vermittelten »außeralltäglichen« religiösen Erfahrungen gegenüber dem von Habermas geschilderten Prozess der Entwicklung des nachmetaphysischen Denkens und in einer durch ein solches Denken geprägten Gesellschaft behaupten können, ist in der Tat nicht entschieden. Aber das würde auch Habermas nicht in Abrede stellen.
Die großen Linien der Entwicklung des Weltverständnisses, wie sie Habermas von den Anfängen in der Achsenzeit über die platonisch-plotinische Institutionalisierung des Christentums in der spätrömischen Phase und weiter über Augustinus, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, über Martin Luther und Baruch de Spinoza, Immanuel Kant und David Hume, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die Junghegelianer, Karl Marx und Ludwig Feuerbach und schließlich über Friedrich Schleiermacher, Søren Kierkegaard, Karl Jaspers und Charles Sanders Peirce bis in die Gegenwart hinein nachzeichnet, verlieren nichts von ihrer Überzeugungskraft, wenn eine solche gelebte Religiosität, die zwar bezeugt, aber nach Schleiermacher nicht der Bekräftigung oder gar Verbindlichmachung in öffentlichen »vernünftigen« Diskursen bedarf, erhalten bliebe oder an Bedeutung gewänne. Implizit erkennt Habermas dies an, wenn er schreibt: »Schleiermachers historische Leistung ist eine Deutung der Religion, die dem frommen Eigensinn eines authentischen Glaubens sein Eigenrecht bewahren soll.«
Habermas selbst hat in diesem Zusammenhang im Postskriptum des Buches an einen zentralen Denkanstoß erinnert, der seiner Vorgehensweise in diesem von manchen Rezensenten als sein »Vermächtnis« bezeichneten Monumentalwerk zugrunde liegt: »Es gibt einen enigmatischen Satz von Adorno, der mich seit langem fasziniert: ›Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeder wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.‹ Am Leitfaden dieses Satzes habe ich versucht, den Prozess der ›Einwanderung‹ theologischer Gehalte ins profane Denken als einen philosophisch nachvollziehbaren Lernprozess darzustellen.« Insofern ist es nicht ganz falsch, wenn Arno Widmann in seiner Rezension in der Frankfurter Rundschau vom 12. November 2019 hier vor allem einen Versuch erkennt, Glauben und Wissen, Vernunft und Religion zu versöhnen.
Seine persönliche Haltung zur Frage von Glauben und Wissen hat Habermas in wenigen Sätzen am Ende des Buches erläutert: »Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende insgesamt transzendiert, selber verkümmern. Die Abwehr dieser Entropie ist ein Punkt der Berührung des nachmetaphysischen Denkens mit dem religiösen Bewusstsein, solange sich dieses in der liturgischen Praxis einer Gemeinde von Gläubigen verkörpert und damit als eine gegenwärtige Gestalt des Geistes behauptet. Der Ritus beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen. Solange sich die religiöse Erfahrung noch auf diese Praxis der Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz stützen kann, bleibt sie ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Dasein nachgibt – und solange hält sie auch für die säkulare Vernunft die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ›ins Profane‹ harren.«
Kein Zweifel, eine angemessene Lektüre dieses Opus magnum verlangt vom Leser eine ausdauernde Konzentration und eine zumindest oberflächliche Vertrautheit mit den philosophischen Diskursen und der geistesgeschichtlichen Entwicklung Europas seit den antiken Anfängen, die heute sicher nur bei einem kleinen Teil des Publikums vorausgesetzt werden kann. Ein wenig erleichtert wird dem Leser freilich der Zugang, weil der Autor es bei aller stupenden Stofffülle, die er ausbreitet, glänzend versteht, den durch das Werk laufenden roten Faden über die ganze Strecke des Buches sichtbar zu halten und in eingestreuten Zwischenbilanzen und vorausblickenden Erläuterungen des weiteren Vorgehens den Leser beim Gang durch mehr als zwei Jahrtausende Geistesgeschichte behutsam an die Hand zu nehmen.
Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen; Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen. Suhrkamp, Berlin 2019, 1.752 S., 98 €.
Kommentare (0)
Keine Kommentare gefunden!