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Glosse: Kevin und die Zündhölzer

Kevin hat mal wieder mit den Zündhölzern gespielt – nur ein bisschen. Zwei Journalisten, die gern die Flammen lodern sehen im Dachstuhl des ramponierten Hauses der Sozialdemokratie, haben ihm gekonnt assistiert: Die SPD könnte ja mal, wenn die Krise des Kapitalismus so weitergeht, z. B. BMW kollektivieren. Aber als »Genossenschaft«, um reflexhafte Kommunismus-Vorwürfe ein wenig auszubremsen. Es meldeten sich aber sofort vollzählig alle erwartbaren Stimmen mit allen erwartbaren Invektiven: autosuggestiv Erregte mit dem verwelkten DDR-Vorwurf und schlecht informierte Demokratiewächter mit der ihrerseits demokratiewidrigen Schmähung, hier lege einer Hand ans Grundgesetz. Dann aber auch nachsichtige Beschützer mit der Mahnung, man müsse doch wohl mal eine neue Idee äußern dürfen, besonders wenn man noch ganz jung ist. Am heftigsten war der Aufschrei des nach Absicht des Geschmähten von seinem Vorschlag eigentlich am meisten Begünstigten, dem BMW-Betriebsratsvorsitzenden: Kein Arbeiter könne jetzt noch SPD wählen. Witzig immerhin war der trockene Einwurf: Hallo, BMW ist doch längst kollektiviert, schließlich gehört es doch Tausenden von Anteilseignern, mit Sitz und Stimme im Aufsichtsrat.

Wir sollten Kevin Kühnert einfach mal nur dankbar sein, hat er doch die entscheidende Schadstelle im Wurzelwerk des letztens immer unsozialer gewordenen Kapitalismus offengelegt. Die »soziale Marktwirtschaft« beruht nämlich auf dem bis vor Kurzem unangefochtenen »sozialdemokratischen Kompromiss«, den die Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bald nach dem Zweiten Weltkrieg geschlossen hatten. Er prägte Mentalitäten und Handeln auf beiden Seiten der Frontlinie von Kapital und Arbeit sowie des größten Teils der Gesellschaft jahrzehntelang zuverlässig – bis dann der Neoliberalismus vor 30 Jahren erfolgreich Hand an ihn legte. Der Möglichkeit dieses Kompromisses wurde – und zwar genau mit dieser Absicht – in den Artikeln 14 und 15 GG Verfassungsrang verliehen: Wirtschaftseigentum kann »zum Zwecke der Vergesellschaftung (…) in Gemeineigentum (…) überführt werden«, heißt es in letzterem. Dies war ja, bezogen auf Bodenschätze und Schlüsselindustrien und Rahmenplanung, damals die Option der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften, um die neue Demokratie von vornherein vor einem verheerenden Versagen des Kapitalismus wie in der Weimarer Republik zu bewahren. Die arbeitspolitischen Kontrahenten einigten sich dann aber als vorläufiges Minimum auf den »sozialdemokratischen Kompromiss«, um das gleiche Ziel der demokratischen Bändigung des Kapitalismus sicher und einvernehmlich zu erreichen: Das große Produktionsmitteleigentum nicht nominell abzuschaffen, sondern durch Sozialbindung im Sozial- und Arbeitsrecht, paritätische Mitbestimmung im Unternehmen, umfassende sozialstaatliche Garantien und demokratische Marktregulierung zu »vergesellschaften«, also der gesellschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen.

Das hat während der darauffolgenden drei goldenen Jahrzehnte der sozialen Demokratie erst zunehmend gut funktioniert. Bis sich dann dieser wertvolle Kompromiss im Säurebad von Globalisierung, Finanzialisierung und neoliberaler Entfesselung des Kapitalismus aufzulösen begann. Der Kapitalismus beginnt, seine sozialen Fesseln zu sprengen. Kevins unpräziser Vorschlag, das weiß er wohl selbst am besten, ist für die Tagespraxis so nicht geeignet. Aber als provokante Erinnerung an die vergessene historische Geschäftsgrundlage der sozialen Marktwirtschaft und für eine Diskussion der Frage, wie man sie heute wieder zur Geltung bringen kann, ist er ein guter Aufschlag.

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