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Der Ukrainekrieg und die neue Weltordnung »Grand Design« nicht in Sicht

Weltordnung ist per se ein euphemistischer Begriff. Wo man »Ordnung« erwartet, da kann auch Chaos herrschen. In Wirklichkeit sagt der Ausdruck, ohne zu werten, etwas über große Mächte aus: welchen Einfluss sie ausüben und welche Bündnisse sie untereinander bilden.

Weltpolitische Ereignisse können Weltordnungen verändern. So besteht Konsens, dass 1945 mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vereinigten Staaten von Amerika als neue Weltmacht die Bühne betreten durften. Es entwickelte sich eine »bipolare Weltordnung«, mit den USA auf der einen Seite und der Sowjetunion auf der anderen, die 40 Jahre von 1949–1989 Bestand hatte. Geprägt war diese Epoche von der Blockkonfrontation zwischen Ost und West, und es herrschte ein »Kalter Krieg« auf der Basis des atomaren »Gleichgewichts des Schreckens«.

Zwischen 1989 und 1991 lösten sich die Sowjetunion und die Warschauer Vertragsorganisation auf. Die USA blieb als einzige Weltmacht übrig, was als »Sieg des Westens« gefeiert wurde. Es schien so, als sei die »unipolare Welt« der pax americana gekommen, um zu bleiben. Der US-Soziologe Francis Fukuyama schrieb sogar ein Buch über das »Ende der Geschichte«.

Aber die Geschichte ging weiter, und es kamen die Terrorakte des 11. September 2001 in Washington und New York. Sie zeigten die Verwundbarkeit der einzigen verbliebenen Weltmacht und leiteten eine Umbruchphase ein. Amerika versuchte sich im Afghanistan- und Irakkrieg mit militärischen Erfolgen wieder mehr Respekt zu verschaffen, konnte den Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) aber nicht verhindern.

US-Präsident Obama leitete den Rückzug aus beiden Kriegsgebieten ein und verkündete den »Pivot to Asia«, die außenpolitische Orientierung nach Asien. Er markierte damit eine neue Priorität in der amerikanischen Politik, nämlich die Eindämmung Chinas, das sich in einem atemberaubenden Tempo zu einer der führenden Weltmächte entwickelt.

Längst haben China und Russland Ansprüche erhoben, als »Ordnungsmächte« im internationalen System anerkannt zu werden. Seit 2007 prangert Wladimir Putin das amerikanische Hegemoniestreben an und propagiert eine »multipolare Weltordnung«. Aus russischer Sicht ist das Ende der westlichen Vorherrschaft gekommen, die Platz macht für eine neue »Post-West-Ära«.

Peking teilt diese Sichtweise. Chinas Alleinherrscher Xi Jinping verbindet den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes mit ehrgeizigen geopolitischen Zielen. Mit seinem »chinesischen Traum« peilt er die Wiedergeburt Chinas nach zwei Jahrhunderten des Niedergangs an. Bis zum magischen Jahr 2049 (100 Jahre nach Gründung der Volksrepublik) soll China zur reichsten Nation weltweit geworden sein, mit »führendem Einfluss auf der Weltbühne«.

Dazu wurde 2015 das Programm »Made in China 2025« auf die Schiene gesetzt, um bis zu diesem Zielpunkt westliche Standards bei der Hochtechnologie zu erreichen. Die von Xi bereits 2013 ins Leben gerufene Strategie der »Neuen Seidenstraße« zeigt am eindrücklichsten die Verbindung von ökonomischen und weltpolitischen Ambitionen. Die schier unendlichen finanziellen Ressourcen des Landes nutzend investiert Peking in über 70 Ländern in Infrastrukturprojekte wie Bahnstrecken, Straßen, Brücken, Tunnel, Häfen, Flugplätze und Pipelines – meistens kreditfinanziert und von chinesischen Arbeitern errichtet. Natürlich erweitert das ökonomische und politische Einflußmöglichkeiten und schafft Abhängigkeiten. Bei aller Kritik lässt sich diesen chinesischen Strategien der Charakter eines »Grand Design« nicht absprechen, faktisch als politische Antwort auf Obamas »Pivot to Asia« von 2011.

Kampf um Werte

Aber es bleibt nicht bei der chinesischen Entschlossenheit, in die Führungsrolle der Weltpolitik aufzusteigen. Peking reagiert auch allergisch gegen jede Form von Kritik, sei es die an der menschenverachtenden Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang, an der Entmachtung der Opposition in Hongkong oder an dem Umgang mit der Zivilgesellschaft zu Hause. Jede Kritik wird als Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes zurückgewiesen.

Gerne nennt sich China die »größte Demokratie der Welt«, räumt dabei aber ein, dass es eigene Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit entwickelt habe. Die Unterschiede zur westlichen Definition solcher Werte werden nicht geleugnet, sondern als Resultate einer eigenständigen kulturellen Entwicklung offensiv bekräftigt. An dieser Brandmauer sollen die beständigen westlichen Bestrebungen, eine wertorientierte und regelbasierte Ordnung durchzusetzen, zerschellen.

In Russland treffen wir auf ein vergleichbares Bild. Zwischen Russland und dem Westen vollzieht sich seit 2000 ein schrittweiser Entfremdungsprozess, der sich auch auf die Frage der Weltordnung bezieht. Putin, der 2005 die Auflösung der Sowjetunion »die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« nannte, beklagt immer wieder, dass Amerika sich weigere, die Weltmachtrolle Russlands anzuerkennen und mit Moskau auf gleicher Augenhöhe zu verkehren. Im März 2014 bezeichnete Barack Obama Russland als »Regionalmacht«, die nicht aus Stärke sondern aus Schwäche eine Gefahr für seine Nachbarstaaten darstelle, nicht aber für die Vereinigten Staaten.

Ebenso wie China weist Russland Kritik an seiner Politik zurück als Einmischung in die inneren Angelegenheiten, besonders dort, wo sich diese Kritik auf die Verletzung von Menschen- und Bürgerrechten bezieht. Die Einforderung westlicher Werte wird als Teil des westlichen Hegemonieanspruchs zurückgewiesen. Wo China auf die eigenen Interpretationen von Regeln und Werten verweist, pocht die russische Führung auf eigene »traditionelle russische Werte«, wozu Patriotismus, Orthodoxie, Heimatliebe und die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen gehören. Gelegentlich werden westliche Werte sogar verhöhnt, etwa wenn »Europa« in »Gayropa« übersetzt wird. Offensichtlich ist die Auseinandersetzung um die richtige Weltordnung und um die Gültigkeit der Wertesysteme vom Zustand der Entfremdung in eine Art politischen Kulturkampf eingemündet und belastet das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland beziehungsweise China.

Angriff auf die »Europäische Friedensordnung«

Mit der russischen Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine von 2014 und mit Russlands völkerrechtswidrigem Angriff auf die gesamte Ukraine vom 24. Februar 2022 ist dieses Verhältnis noch deutlich schlimmer belastet worden. Moskau hat mit seinem Krieg gegen die Grundprinzipien der »Europäischen Friedensordnung« verstoßen, zu denen Russland sich selbst bekannt hat. Sowohl in der »Schlussakte von Helsinki« (1975) wie in der »Charta von Paris für ein neues Europa« (1990) verpflichten sich alle Unterzeichnerländer, die Souveränitätsrechte der Staaten zu achten, die bestehenden Grenzen unangetastet zu lassen und auf jede Gewaltanwendung zu verzichten.

Diese Garantien tauchen auch im »Budapester Memorandum« von 1994 als Gegenleistung für den Verzicht der Ukraine auf die geerbten Atomwaffen auf sowie in der »NATO-Russland-Grundakte« von 1997. All diese konstitutiven Dokumente tragen die Unterschrift der Sowjetunion beziehungswise der Russischen Föderation und verpflichten die Unterzeichner.

Der Westen reagierte sowohl 2014 als auch 2022 mit einem ganzen Bündel von Sanktionen gegen verantwortliche Personen und gegen das russische Finanz- und Wirtschaftssystem, vor allem aber mit einer massiven politischen, finanziellen und militärischen Unterstützung der angegriffenen Ukraine. Dabei musste eine ständige Abwägung vorgenommen werden zwischen dem Ziel der Verhinderung eines raschen Erfolgs der russischen Waffen und der Entschlossenheit, sich auf keinen Fall in diesen Krieg hineinziehen zu lassen.

Hauptlieferant der Waffen sind die Vereinigten Staaten, die aber bisher wie auch die Europäer keine Systeme zur Verfügung stellen, mit denen Kiew tief auf russischem Gebiet eingreifen könnte. Allerdings werden die Rufe der ukrainischen Führung nach schweren Waffen, um der russischen Übermacht standzuhalten, immer dringlicher. Nach langer kontroverser Diskussion erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz am 25. Januar 2023, dass Deutschland zur Lieferung von Kampfpanzern Leopard 2 bereit sei, nachdem er eine parallele Zusage von Präsident Biden erreicht hatte. Prädident Selenskyj wartete nicht lange, um seine Forderungen auszuweiten – auf die Lieferung von Kampfflugzeugen, Langstreckenraketen und Marineschiffen. In den Wochen danach zeigte sich, dass der Weg einer amerikanisch-europäischen «Panzerkoalition» bis zum tatsächlichen Einsatz der Systeme noch länger sein wird.

International erfolgte ein Prozess der politischen Isolierung von Putins Russland. Russlandkritische Resolutionen des UN-Sicherheitsrates scheiterten zwar an Moskaus Vetorecht. Aber in der Vollversammlung der UN gibt es keine solche Möglichkeit. Schon am 2. März 2022 stimmten dort 141 Länder für einen Beschluss, der das russische Vorgehen anprangerte. Am 13. Oktober 2022 ging es um die Verurteilung der Annexion der vier Gebiete in der Ostukraine, für die 143 Länder mit Ja stimmten, 35 enthielten sich, nur fünf lehnten die Resolution ab. Neben der Russischen Föderation noch Belarus, Nordkorea, Nicaragua und Syrien. Allerdings befanden sich unter den Enthaltungen auch solche Schwergewichte wie China und Indien.

Interessant ist, dass zwar sehr viele Länder den russischen Angriffskrieg kritisieren, sich aber längst nicht alle den westlichen Sanktionen anschließen. Zu den Sanktionsverweigerern gehören neben China und Indien auch Länder wie Brasilien, Bangladesch, Pakistan, Indonesien und die Türkei. Fragt man nach den Gründen für diese Zurückhaltung, hört man häufig die Antwort »Das ist nicht unser Krieg. Wir haben nur den Schaden zu tragen.«

Die Rolle des »Globalen Südens«

Auf der internationalen Bühne hört man immer häufiger eine neue Stimme: die des »Globalen Südens«, zu dem sich 144 Länder zählen. Die früheren Entwicklungs- und Schwellenländer wollen sich weder einer Weltmacht noch einem Block anschließen. Sie scheuen sich nicht, den Westen zu kritisieren, und melden ihre eigenen Ansprüche an.

Auf der Weltklimakonferenz COP27 im November 2022 setzten die Länder des »Globalen Südens« die Schaffung eines »Fonds für Verluste und Schäden« durch den Klimawandel durch, den die reicheren Staaten auffüllen sollen. Obwohl noch keine Einzelheiten verabredet wurden, war dies ein Erfolg, durchgesetzt gegen so manchen westlichen Widerstand, aber auch gegen Obstruktionsversuche Chinas, das sich immer noch, dem Kyoto-Protokoll vom Dezember 1997 folgend, als Entwicklungsland einschätzt und statt in den Fonds einzuzahlen Auszahlungen beansprucht. So handelt eine Weltmacht, die weder auf Freunde noch Beifall angewiesen ist.

Die Zeiten einer unipolaren oder bipolaren Weltordnung sind vorüber. Wir erleben ein politisches Ringen um eine neue »multipolare Weltordnung«. Russland und China beanspruchen den Status globaler Ordnungsmächte und sind sich dabei einig, dass die Zeit westlicher Hegemonieansprüche abgelaufen sei. Der Streit um konkurrierende Wertesysteme hat wesentlich zu einer Entfremdung zwischen Russland und dem Westen beigetragen. Putins Angriff auf die Ukraine hat der »Europäischen Friedensordnung« einen kaum zu reparierenden Schaden zugefügt, weltweit aber eine weitgehende politische Isolierung Russlands zur Folge gehabt.

China hält die Treue zum russischen Partner, auch wenn es Putins atomare Drohungen ablehnt. Eine neue Blockbildung in der Weltpolitik erscheint aber fraglich, auch weil mit dem »Globalen Süden« ein neuer Akteur die Bühne betritt und seine Interessen ohne Rücksicht auf die bisherigen Ordnungsmächte geltend macht. Eine neue feste Ordnung ist nicht in Sicht, was sogenannte Ad-hoc-Koalitionen nicht ausschließt.

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