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Graphic Novels und die Macht der komplexen Bilder

Graphic Novels, das sind Comics in »Einzelbänden, die eine Geschichte erzählen«. So kurz und knapp beschrieb Art Spiegelman, berühmtester Vertreter dieses Genres kürzlich in einem Interview das Format. Doch der Begriff stiftet Verwirrung und sorgt auch unter Geisteswissenschaftlern für Diskussionen. Das beginnt damit, dass sein zentrales Werk Maus wohl kaum als Roman bezeichnet werden kann, auch nicht als Roman in Comicform. Denn Maus erzählt autobiografisch von Spiegelmans Beziehung zu seinem Vater, dem Holocaust-Überlebenden Vladek, und dessen Überlebenskampf im Konzentrationslager. Spiegelmans Buch setzt seinen Figuren Tiermasken auf: Deutsche Soldaten werden zu Katzen, Polen zu Schweinen, Juden zu Mäusen. Und nur selten lugt hinter den mörderischen Stereotypen das angsterfüllte Antlitz der Menschen hervor. So sehr sich Spiegelman im Setzkasten der Comicgeschichte bedient, etwa bei George Herrimans Krazy Kat oder bei Disneys Micky Maus, so sehr insistiert er doch auf die historische Wirklichkeit und ihren anhaltenden Schrecken. Nichts liegt Spiegelman also ferner als die Fiktionalität des Romans. Dennoch werden als Graphic Novels gemeinhin alle Comicbücher verstanden, die statt vieler Einzelgeschichten eine durchgehende Erzählung bilden. Ob sich unter dem Buchumschlag Memoiren, Reportagen oder Superhelden verbergen, tut da scheinbar nichts zur Sache.

Diese begriffliche Unschärfe hat historische Gründe. Comicautoren und ihre Verlage versprachen sich seit den 70er Jahren vom Einzelband und dessen Vermarktung als Roman einen Ausweg aus der jahrzehntelangen Krise des Mediums Comic. Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Verkaufszahlen von in Serie produzierten Comicheften dramatisch gesunken, nicht zuletzt aufgrund der rasanten Verbreitung des Fernsehens. In der Gegenkultur der 60er Jahre entwickelte sich dann eine neue Formensprache. Sie setzte der Massenware der Comicindustrie einen subversiven Individualismus entgegen, als Satiren im Eigenverlag und als künstlerisches Experiment. Der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu hat diesen Prozess als Transformation kultureller Produktion bezeichnet – eine Loslösung vom Massenmarkt, in der sich Produzenten ihre kreative Autonomie und somit den Status des Künstlers erkämpfen. Wohlweislich sprach Bourdieu nicht von schnöden Comics sondern von der modernistischen Literatur im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Aber bereits für diese beobachtete er einen Begleitprozess, der mittlerweile auch Comicautoren zugutekommt. Im Zuge feministischer und poststrukturalistischer Theorien setzte in der Literaturwissenschaft seit den 80er Jahren ein Öffnungsprozess ein. Nun durften auch Comics als Literatur gelesen werden: Aus dem Werbebegriff der »Graphic Novel« wurde so ein wissenschaftliches Konzept, das Comics als komplexe Textsorte analysierte und ihnen so neuen Wert zusprach. Das kam nicht nur Autoren wie Spiegelman, Daniel Clowes (Ghost World) oder Chris Ware (Jimmy Corrigan) zugute. Auch Literaturwissenschaftler profitierten von der Etablierung dieses neuen Forschungsfeldes, in dem sie Expertise beanspruchen und auf Karrieren hoffen konnten.

Man mag diese symbiotische Wechselbeziehung zwischen Künstlern und ihren Rezipienten für zynisch halten. Manch alteingesessener Comicforscher neigt weiterhin dazu, die Graphic Novel als kulturelle Eintagsfliege abzutun. Doch übersieht diese ablehnende Geste, dass die Transformationsprozesse des literarischen Marktes beizeiten zu ästhetischer Innovation führen. Tatsächlich versammelt sich heute unter dem Deckmantel der Graphic Novel eine Fülle an thematischen und formalen Neuerungen. Dies lässt sich auch mit den empirischen Methoden der digitalen Geisteswissenschaften nachweisen, mit deren Hilfe große Textsammlungen untersucht werden können. Die Graphic Novel ähnelt mittlerweile nicht nur in ihrem Seitenumfang dem literarischen Roman. Sie zeigen außerdem eine ähnliche Themenfülle wie dieser, in der Bildungsromane mit Krimis und avantgardistischen Formexperimenten um die Gunst der Leser buhlen. Zunehmend tauschen sie dabei die Pop-Ästhetik der Comichefte gegen eine Bildgestaltung ein, die farblich zurückhaltender aber äußerst wandlungsfähig ist.

Politische Bildungsarbeit mit Comics

Zwei kürzlich erschienene Werke von Autorinnen mögen als Beispiele für diese Experimentierfreudigkeit stehen. Nora Krugs Heimat. Ein deutsches Familienalbum steht als autobiografische Auseinandersetzung mit Deutschlands jüngerer Geschichte in der Tradition von Maus. Die in New York lebende deutsche Zeichnerin kehrte für ihr Buch nach Karlsruhe zurück, um die Verstrickung ihrer Familie in den Nationalsozialismus zu recherchieren. Das Buch erschien gleichzeitig in den Vereinigten Staaten auf Englisch, wurde aber hierzulande zum Überraschungserfolg. Dieser gründet sich wohl auf die gelungene Balance aus Ernsthaftigkeit und Leichtigkeit, mit der Krug sich an der gefühlten Schuld der Nachkommen abarbeitet. Visuell nimmt die Autorin Anleihen bei Maus. So erscheinen auf einer Seite sowohl Krugs autobiografisches Alter Ego als auch ihre Mutter als Katzen – ganz so wie bei Spiegelman die Deutschen. Jedoch weicht Heimat die serielle Struktur des Comics, in dem die Erzählung aus aufeinanderfolgenden Einzelbildern entsteht, zu einer vielschichtigen Collage auf. Handschriftliche Textpassagen stehen neben Abbildungen historischer Fotografien, Illustration verbindet sich mit Dokumentation. Seiten, die als Comic im engeren Sinne fungieren, dienen in Heimat entweder der Nacherzählung familiärer Begebenheiten oder sie weisen, wie im Fall rassistischer Äußerungen, mit denen sich Krug auf Auslandsreisen selbst konfrontiert sieht, auf die fortdauernde Wirkmacht nationaler Vorurteile hin. Damit werden zwei entscheidende Potenziale des Mediums Comic deutlich – nicht nur, aber auch, in der politischen Bildungsarbeit. Einerseits eignet sich der verkürzte Text in Comics und die Auswahl entscheidender Bilddetails dafür, komplexe Sachverhalte schnell und einprägsam zu vermitteln. Andererseits wohnt den karikaturhaften Zeichnungen eine gewisse Stereotypisierung inne. Dies mag zwar eine Schwäche des Mediums darstellen, lässt sich aber in eine Stärke umwenden, wenn das Karikatureske wie bei Spiegelman und Krug der Reflexion über Vorurteile dient.

Ali Fitzgeralds Drawn to Berlin ist sich dieser Stärken bewusst und thematisiert eine weitere. Die amerikanische Autorin, die regelmäßig für den Guardian und den New Yorker zeichnet, lebt seit mehreren Jahren in der deutschen Hauptstadt. Ihr grafisches Reportagebuch – es liegt bisher nur auf Englisch vor – entstand aus Comic-Workshops, die Fitzgerald mehrere Jahre lang in Berliner Flüchtlingsheimen durchführte. Dabei macht sie sich die Tatsache zunutze, dass einfache Comics keine besonderen Zeichenkünste erfordern und als visuelle Ausdrucksform auch nicht an Sprachbarrieren scheitern müssen. Beim Zeichnen erzählen Fitzgeralds Workshopteilnehmer von ihrer Heimat und den Erfahrungen in dem neuen, fremden Land, in dem sie Zuflucht gefunden haben. Bleiben die so entstandenen Comics meist harmloser Zeitvertreib, um die leeren Stunden in der Massenunterkunft zu überbrücken, hilft anderen das Zeichnen zur Aufarbeitung der eigenen Traumata. Eine junge Frau skizziert mit Farbstiften ein lebloses Kind auf einem Strand und bittet darum, ihre Zeichnung behalten zu dürfen. Ein syrischer Mann kopiert detailgetreu Folterszenen aus Joe Saccos Comic-Klassiker Palästina. Nur die Gesichter der Gefolterten übermalt er. Fitzgerald reagiert auf diese Bilder des Leidens mit zunehmender Überforderung, die exemplarisch für die Hilferufe vieler freiwilliger Helfer stehen kann: »Oft wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich bin keine Psychotherapeutin, keine Sozialarbeiterin, nur Künstlerin«.

Während in Drawn to Berlin Fitzgeralds Schützlinge ihre Erfahrungen auf Papier bringen, veröffentlicht die AfD in Baden-Württemberg Karikaturen von syrischen Geflüchteten. Die Autorin erinnern diese hasserfüllten Fratzen wenig überraschend an die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten. Deutsche Gegenwart und Geschichte bleiben auch in den zeitgenössischen Graphic Novels untrennbar miteinander verbunden. Doch zunehmend erzählen diese Bände Geschichten, die nicht nur geografische Grenzen überschreiten. Auch die Trennlinien zwischen Populärkultur und Kunst, Literatur und Autobiografie, durchkreuzen Graphic Novels Strich für Strich.

Ali Fitzgerald: Drawn to Berlin. Comic Workshops in Refugee Shelters and Other Stories from a New Europe. Fantagraphics, Seattle 2018, 196 S., $ 24.99. – Nora Krug: Heimat. Ein deutsches Familienalbum. Penguin, München 2018, 288 S., 28 €.

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