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Otto Bauer als Theoretiker des Sozialismus Grenzgänger zwischen Reform und Revolution?

Heute ist er nur noch wenigen Spezialisten ein Begriff, die sich intensiver mit der Geschichte der sozialistischen Idee in Europa beschäftigen: der Österreicher Otto Bauer. Dabei war er – das kann man ohne Übertreibung sagen – die geistige und politische Autorität der europäischen Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit. Kein Geringerer als Willy Brandt hatte anlässlich des 100. Geburtstags von Otto Bauer vor 40 Jahren die Frage aufgeworfen, ob nicht auch in Deutschland die politische Entwicklung anders verlaufen wäre, hätte die deutsche Sozialdemokratie in der Weimarer Zeit über eine Persönlichkeit vom Grade Bauers verfügt. Brandt suchte den exilierten sozialdemokratischen Parteiführer 1937 mit seinen Freunden Jacob Walcher und Max Diamant an dessen Fluchtort Brünn auf, um die antinazistischen Aktivitäten der linkssozialistischen Kräfte aufeinander abzustimmen. Was dem jungen Aktivisten Brandt besonders imponierte, war die schonungslos selbstkritische Haltung seines Gesprächspartners im Angesicht der verheerenden Niederlage wenige Jahre zuvor. Die alte Führung, so meinte er, habe in der Konsequenz der Niederlage beiseitezutreten; sie solle sich darauf beschränken, ihre Erfahrungen auszuwerten und sie den neuen, jüngeren Kräften zu vermitteln. Geschlagene Feldherren müssten abtreten. Brandt: »Das war eine andere Sprache als jene, die wir von den deutschen Parteiführern gewohnt waren.« Nun leben wir gewiss nicht in Zeiten derart epochaler Brüche und Katastrophen. Aber ob der hier artikulierte Grundgedanke bei den heute politisch Verantwortlichen in der Führung sozialdemokratischer Parteien in gleicher Weise präsent ist? Man mag da seine Zweifel haben.

Als Brandt diese Eindrücke zu Papier brachte, am Beginn der 80er Jahre, ereignete sich auch in der Bundesrepublik etwas, was Wolfgang Abendroth die »Renaissance des klassischen Austromarxismus« nannte. Parallel zum Auftreten reformkommunistischer Strömungen (mit Berufung insbesondere auf die Gefängnisschriften Antonio Gramscis) entdeckten linke Sozialdemokraten in Österreich und Deutschland dieses Erbe des Austromarxismus neu und versuchten Bauers theoretische Überlegungen über einen »integralen Sozialismus« für ein neues Verhältnis unterschiedlicher linker Kräfte zueinander nutzbar zu machen. In den Hauptquartieren der damaligen beiden großen Lager der Arbeiterbewegung – der Sozialdemokraten und der Kommunisten – wurden derartige Bestrebungen aber eher argwöhnisch beäugt. Ersteren galt diese Renaissance als zu links, den orthodoxen Kommunisten in der DDR wie im Westen hingegen als reformistisch-revisionistischer Irrweg. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es in diesen frühen 80er Jahren auch Jungsozialisten gab, die sich für besonders »links« hielten, die auf Tagungen stolz eigens dazu angefertigte Buttons mit der Aufschrift »Otto Bauer – nein danke« am Revers trugen.

Einer derjenigen, die sich in diesen Jahren historisch-wissenschaftlich mit dem Austromarxismus und Otto Bauer zu beschäftigen begannen, ist der renommierte Politikwissenschaftler und Utopieforscher Richard Saage. Über fast 40 Jahre hat er immer wieder kluge, abwägende Aufsätze zu Teilaspekten des bauerschen Denkens vorgelegt. In den zurückliegenden Jahren ist er schließlich darangegangen, hier gewissermaßen die Lücken zu schließen, hat an verschiedenen Publikationsorten Bauers Hauptwerke zum Ausgangspunkt seiner kritischen Betrachtungen in Aufsätzen genommen, die nun in einem Band vereint ein organisch-geschlossenes Ganzes ergeben. Diese Herangehensweise ist neu und ein Glück zugleich, weil wir aus den zurückliegenden Jahren von anderen Autoren bereits über eine Reihe biografischer Annäherungen verfügen, während hier nun mit Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution eine thematisch gegliederte Intellektuellenbiografie vorliegt.

Dies zu schreiben bedeutet zugleich, etwas zum »Typus« eines Politikers wie Otto Bauer sagen zu müssen. Er verkörperte geradezu idealtypisch das, was in den ersten Generationen der Arbeiterbewegung noch auf breiterer Front anzutreffen war: einen politischen Akteur, der sein Handeln zugleich immer neu intellektuell reflektiert und die Ergebnisse seines Reflektierens anschließend auf den unterschiedlichsten Wegen – in Parteitagsreden, Artikeln in der Tagespresse oder theoretischen Zeitschriften, in Büchern und Broschüren – den eigenen Mitgliedern und der eigenen Anhängerschaft zu vermitteln versucht. Derartige »organische Intellektuelle« (gelegentlich auch »wissenschaftliche Politiker« genannt) sind heutzutage nur noch rar gesät, zeichneten sich früher aber vor allem auch durch ihren Sprachduktus aus, der abgehobenes Theoretisieren am Erfahrungshorizont der einfachen Mitglieder und Anhänger vorbei ausschloss. Zu den ersten theoretischen Arbeiten Bauers sind die anerkennenden Worte Karl Kautskys überliefert: So habe er sich den jungen Marx vorgestellt.

Saage stellt seinem Band eine kurze profunde biografische Einführung zum Lebensweg des 1881 geborenen Bauer voran. Dass er, der spätere unbestrittene Parteiführer der österreichischen Sozialdemokraten, gleichwohl niemals ihr Parteivorsitzender war, erklärt sich daraus, dass man einem ständig aggressiver werdenden Antisemitismus keinen zusätzlichen Vorwand liefern wollte, die Sozialdemokratie als »verjudet« und »Judenpartei« zu denunzieren. Der Band gliedert sich in sieben Aufsätze mit einer vertikalen Struktur, die sich in monografischer Form mit den Hauptwerken Bauers auseinandersetzen, und weiteren sieben, die konzeptionell ausgerichtet und auf einer horizontalen, gleichsam überwölbenden Interpretationsebene angesiedelt sind. Dem entspricht eine Aufgliederung in drei Hauptteile, die der zeitlichen Einordnung in die Perioden der Habsburgermonarchie (1907–1918), der Ersten Republik (1918–1934) und des Exils (1934–1938) folgen. Bauer tritt schon als junger Mann von Mitte 20 mit einer bahnbrechenden Studie zur Nationalitätenfrage in der Habsburgermonarchie hervor, die bis heute in kaum einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema Staat und Nation fehlt. Wie kaum ein Zweiter hat er später eine verständliche Interpretation von Ablauf und Restriktionsbedingungen der österreichischen Revolution 1918/19 vorgelegt. Neben Karl Kautsky, von dessen Vorbildrolle er sich langsam entfernt, reflektiert er immer neu Chancen und Bedingungen einer sozialistischen Transformation vor der Folie des historischen Fortgangs der russischen Oktoberrevolution.

An Marx und Engels anknüpfend entwickelt er eine eigene Interpretation der Chancen der Sozialdemokratie in der demokratischen Republik im Rahmen des Theorems des »Gleichgewichts der Klassenkräfte«. Konkreter politisch-strategischer Ausdruck davon sind die von ihm wesentlich entworfenen Programme seiner Partei: das Linzer Programm von 1926 und das Agrarprogramm von 1927. Seine Werke Rationalisierung – Fehlrationalisierung von 1931 und Zwischen zwei Weltkriegen? von 1936 zeigen ihn, den ausgebildeten Juristen, zugleich als ausgewiesenen ökonomischen Theoretiker auf der Höhe seiner Zeit. Sein eigener, am Theorem des Bonapartismus orientierter, Zugang zu einer Theorie des Faschismus wurde in der Bundesrepublik bereits Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre neu rezipiert. All diese theoretischen Arbeiten und Anstöße werden von Richard Saage kenntnisreich vorgestellt, in ihren zeithistorischen Kontext eingeordnet, interpretiert und natürlich gelegentlich auch kritisiert.

Was das Besondere an Otto Bauer ausmachte, hat Wolfgang Maderthaner, der bekannte Historiker der österreichischen Arbeiterbewegung, in seinem Geleitwort zu diesem Band so umrissen: »Bauer war von der Eigengesetzlichkeit der Geschichte, von der ›ehernen Macht der geschichtlichen Tatsachen‹ zutiefst überzeugt. Aber wenn dann eines jener Ereignisse eintrat, die dem weiteren Gang der Geschichte eine ganz unerwartete (oder jedenfalls von Bauer selbst nicht vorhergesehene) Wendung gaben, dann war er wie kein Zweiter imstande, binnen kürzester Zeit Analysen von erstaunlicher Originalität und analytischer Dichte vorzulegen. Schonungslos nicht zuletzt gegenüber den eigenen Fehlern, verfasst mit dem kühl-distanzierten Blick des Wissenschaftlers ebenso wie mit der Emotionalität des engagierten Parteimannes, zeichnen diese Studien die innere historische Logik solcher Ereignisse in unnachahmlicher Weise nach. Es sind Agitationsschriften von außergewöhnlich hohem Niveau, historische Rechtfertigungen und praktische Anleitungen für künftige Politik in einem. Bauers Sprache (…) ist die paradigmatische Sprache der (Spät-)Aufklärung von hoher literarischer Qualität.«

Dafür, dass uns Richard Saage dieses bedeutende Werk jetzt in einer neuen Form, in einer intellektuellen Biografie präsentiert, dafür sind wir ihm zu großem Dank verpflichtet. Ein Lesevergnügen ist sie allemal.

Richard Saage: Otto Bauer. Ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution. LIT, Münster 2021, 300 S., 34,90 €.

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