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Neue Bücher über die islamische Welt Gretchens Frage

Am 23. Dezember 2017 berichtete Brian Whitaker auf al-bab.com von Plänen des ägyptischen Parlaments, den Atheismus zu kriminalisieren. Eine solche Initiative habe man schon 2014 angekündigt. Eine regierungsnahe ägyptische Zeitung habe Atheisten als »the country’s second enemy after the Muslim Brotherhood« bezeichnet, und einen Psychologen zitiert, der behauptet habe, Atheismus führe zu Störungen des geistigen Gleichgewichts und Paranoia. In Saudi-Arabien sei die Propagierung atheistischen Denkens bereits 2014 als terroristischer Akt eingestuft worden.

So scheint die Gretchenfrage »Wie hast du’s mit der Religion?« recht aktuell, doch nicht nur das beschriebene Drohszenario lässt vermuten, dass man darauf nicht unbedingt eine ehrliche Antwort erwarten darf. Ein Rekonfessionalisierungsdruck ist nicht nur in Ägypten zu beobachten. Bemerkenswert an diesem Beispiel aber ist, dass hier eine politische Volksvertretung den Atheismus als staatsfeindlich einstuft und damit umgekehrt das Glaubensbekenntnis gleich welcher Konfession als ein Bekenntnis zur herrschenden Ordnung. Über den Umweg des Religionsbekenntnisses verschafft sich die Staatsgewalt eine absolutistische Legitimation. Ganz nebenbei rückt man dabei auch noch die Muslimbrüder und deren fundamentalistische Emanzipationsbestrebungen in die Nähe der ungläubigen Staatsfeinde.

Kontrolle via Rekonfessionalisierung ist offenbar so verführerisch, dass selbst die türkische Armee, eigentlich Siegelbewahrerin des kemalistischen Laizismus, seinerzeit nicht widerstehen konnte. Inga Rogg schreibt in ihrem Buch Türkei. Die unfertige Nation die Militärs hätten zwar nach ihrem Putsch im Jahre 1980 ein Turbanverbot erlassen; »gleichzeitig machen sie aber den Religionsunterricht zum verfassungsmäßig verankerten Pflichtfach an Grund- und Mittelschulen und erklären schließlich die Beleidigung der obersten Religionsbehörde Diyanet zum Straftatbestand. Auf diese Weise hoffen sie, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: die staatliche Kontrolle über die Religion zu stärken und die Linken zu schwächen.«

Rainer Hermann wiederum weist in Arabisches Beben auf politische Glaubensgewissheiten hin, derer man sich kaum noch erinnern mag: »Noch vor wenigen Jahren haben wir geglaubt, keine andere Region sei so stabil wie der Nahe Osten mit seinen Diktatoren, die über Jahrzehnte herrschten.« Stabil waren diese Diktaturen auch dank technischer Hilfen ihrer »Freunde« im Westen zur Unterdrückung der Opposition im eigenen Lande und unbotmäßiger Nachbarländer.

Die westlichen Sündenfälle im Nahen Osten

Ironischerweise begann der Zerfall dieser Stabilität ausgerechnet in einem Land, dessen operettenhafter Herrscher ein Star der Regenbogenpresse war. Hermann fasst dessen Vorgeschichte und die unrühmliche Rolle des Westens dabei zusammen: »Zwei Interventionen haben den Nahen Osten im 20. Jahrhundert mehr verändert als alles andere: erst das Sykes-Picot-Abkommen von 1916, dann 1953 der Sturz des liberalen iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh.« Das Abkommen von 1916 schrieb dem Nahen Osten seine bis vor wenigen Jahren weitgehend unangetasteten Grenzen vor. Der gestürzte Mossadegh wiederum hatte begonnen, den Iran gegen den Willen von Schah Reza Mohammad Pahlavi auf den Pfad der Demokratie zu führen: »Von Großbritannien forderte Mossadegh, die Einnahmen aus der Ölförderung im Land zu gleichen Teilen mit Iran zu teilen. Doch der britische Premierminister Winston Churchill bestand darauf, dass die Anglo-Iranian Oil Company, die spätere BP, weiter nahezu ohne Gegenleistung über das gesamte in Iran geförderte Erdöl verfügen sollte. Der amerikanische Präsident Harry S. Truman lehnte zunächst eine britische Bitte ab, Mossadegh gemeinsam zu stürzen. Dwight D. Eisenhower, der 1953 auf ihn folgte, war dazu bereit und gab der CIA den entsprechenden Auftrag. Die ›Operation Ajax‹ stürzte Mossadegh. Washington und London setzten den zuvor geflohenen Schah Reza Mohammad Pahlavi als Marionette ein, der von nun an mit eiserner Hand regierte«, so Hermann.

Dass die von »God’s own Country«, den USA, installierte Marionettenherrschaft mit Ruhollah Chomeini (1902–1989) ein Mann beendete, der eine Herrschaft der Religionsgelehrten propagierte, passt zur Mischung aus Religion und Politik, mit der wir es seit jeher zu tun haben. Bei aller religiösen Rhetorik aber, die sich von muslimischer Seite gegen den »großen Satan« USA richtet, lässt Hermann keinen Zweifel daran, dass es dabei nicht um Glaubenskonflikte geht. »Der Revolutionsruf ›Tod Amerika‹, der seit 1979 erschallt, war vor allem eine Quittung für die Rolle Washingtons bei der Errichtung der Schah-Diktatur.«

Um die Vorstellung vom islamischen Glaubenskrieg doch noch zu retten, bedarf es deshalb einer zeitgemäßen Umetikettierung. So spricht Sascha Adamek in seinem Buch Scharia-Kapitalismus vom »Kampf gegen unsere Art zu leben«. Die Unterüberschrift »Den Kampf gegen unsere Freiheit finanzieren wir selbst« signalisiert bereits, welches »gefährliches Ping-Pong-Spiel« der Journalist und Filmemacher hier anprangert: »Finanzströme aus dem Westen refinanzieren an vielen Stellen des Nahen Ostens Einzelpersonen, Organisationen und sogar Staaten, die dann wiederum als Gönner und Sponsoren fundamentalistischer Verbände und Moscheevereine im Westen – oder gar terroristischer Gruppen – dienen.«

Dankenswerterweise gesteht Adamek an derselben Stelle ein, der von ihm gebrauchte Begriff »Scharia-Kapitalismus« beschreibe »keinen wissenschaftlichen Umstand, schon gar keine Gesetzmäßigkeit«, sondern ein »unmoralisches Geschäftsverhältnis«. Andererseits räumt er auch ein, dass »einige rechtliche Normen der Scharia« sogar einen »positiven Effekt entfalten« könnten, »weil sie viele schädliche Auswüchse der kapitalistischen Marktwirtschaft, wie die Zinsspekulation oder den Handel mit Waffen oder Drogen, verbieten«. Andererseits aber schildert der Autor auch, »dass islamische Kapitalisten auch nicht religionstreuer und frommer handeln« als z. B. die Vatikanbank, »die über Jahrzehnte in Korruption, Geldwäsche und Waffenhandel mit brutalen Diktatoren in Südamerika und anderswo verwickelt war«.

Mit solchen Ausführungen gelingt es Adamek, auf wenigen Zeilen zu zeigen, dass Kapitalismus, Religion und Moral schon per e so komplex und miteinander verschachtelt sind, dass man sie nicht auch noch untereinander durcheinanderbringen sollte. Es gibt keinen »Scharia-Kapitalismus«, so wie es auch nie einen »christlichen Kapitalismus« oder eine »christliche Wissenschaft« hat geben können.

Der Traum vom Goldenen Zeitalter des Islam

Im Spiel von Einfluss, Macht und Politik ist die Gretchenfrage immer wieder instrumentalisiert worden. Die großen Weltreligionen umfassen nicht nur die reine Lehre und deren Auslegung, sondern immer auch die Interpretation einer Realgeschichte, vor deren Hintergrund sich ihre Offenbarung vollzogen hat. So groß manche Vorbehalte gegen eine historisierende Lesart kanonischer Texte sein mögen, so stark ist doch der Rückbezug auf die Geschichte ihrer Wirkungen.

So beginnt die islamische Überlieferung als Erfolgsgeschichte einer über Jahrhunderte währenden Expansion, doch kam es auch früh zur Glaubensspaltung in Sunniten und Schiiten, die heute etwa den Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran grundiert. Der Hang zum Märtyrertum war hingegen ein Kennzeichen des frühen Christentums. Als sich das Blatt nach den Kreuzzügen und der Reconquista zu wenden begann, etablierte sich damit auch der Antagonismus von Abendland und Morgenland, in dem sich Christen und Muslime gegenüberstanden, ohne jeweils für sich wirklich geeint zu sein.

Ein Kennzeichen des islamistischen Terrors unserer Tage ist, dass überwiegend islamisch geprägte Länder wie Ägypten, Afghanistan, Bangladesch, Irak, Libyen, Nigeria, Pakistan und Syrien dabei regelmäßig die höchsten Opferzahlen aufweisen. Schließlich zählt die gnadenlose Verfolgung von Ketzern in den eigenen Reihen zu den Mitteln, die Schäfchen beieinander zu halten.

Das Grundproblem dieser Länder und ihrer oft autokratischen Herren ist, dass sie auch vom asymmetrischen Austausch mit dem Westen schneller und stärker profitieren als von einer Entwicklung aus sich selbst heraus. Alle Wohlgerüche Arabiens waren nichts im Vergleich mit dem übel riechenden Erdöl, dessen Export Milliarden von »Petrodollars« in die Kassen fließen ließ. Die Förderung fundamentalistischer Bewegungen mithilfe dieses Geldes hat, neben innen- und außenpolitischen Gründen, auch etwas von dem, was man im Abendland als Ablasshandel kennt. Das Bekenntnis wird zum Deckmantel, unter dem sich Glaube, Fanatismus und Bigotterie vereinen lassen.

Im sehr erhellenden Gespräch zwischen den Historikern Perry Anderson und Suleiman Mourad über Das Mosaik des Islam äußert sich letzterer über die Sehnsucht nach dem »Goldenen Zeitalter des Islam«, die oftmals fatale Folgen hatte. Die salafistische Rückbesinnung auf die reine Lehre sei aber nicht immer doktrinär gewesen: »Eine Ausprägung war recht liberal und wurde zunächst von zwei moderaten Denkern vertreten: Dschamal ad-Din al-Afghani (…) und Muhammad Abduh (…), der 1899 bis 1905 Großmufti von Ägypten war. Die beiden wollten eine islamische Renaissance herbeiführen, indem sie sich ihre Vorgänger im Goldenen Zeitalter (grob gesagt in den ersten vier Jahrhunderten des Islams) zum Vorbild nahmen.«

Der radikale Salafismus hingegen beruhe auf reiner »Nachahmung« und habe mit einer wirklichen Renaissance nichts zu tun. Diese war in Europa weder eine Wiederkehr zum Urchristentum noch zur heidnischen Antike, sondern eine Synthese von antiker Wissens- und mittelalterlicher Glaubenskultur – nicht Wieder-, sondern Neugeburt des Abendlandes. Um so etwas in der islamischen Welt zu erreichen, bedürfte es weit mehr als einer salafistischen Scharia-Polizei; dafür sei es auch schon zu spät.

Der Westen hat die Früchte von Renaissance und Aufklärung, von Säkularisierung und industrieller Revolution längst weltweit geerntet und zu großen Teilen bereits verzehrt. Die gewaltsame Landnahme des IS ist nur ein schwacher Abklatsch der kolonialen Eroberungszüge Europas. Vor deren Spätfolgen rettet uns kein höheres Wesen, und man sollte die Gretchenfrage neu formulieren: »Wie hast du’s mit der Gerechtigkeit?«

Sascha Adamek: Scharia-Kapitalismus. Den Kampf gegen unsere Feinde finanzieren wir selbst. Econ, Berlin 2017, 320 S., 18 €. – Rainer Hermann: Arabisches Beben. Die wahren Gründe des Bebens im Nahen Osten. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 350 S., 16,95 €. – Suleiman Mourad und Perry Anderson: Das Mosaik des Islam. Berenberg, Berlin 2018, 160 S., 22 €. – Inga Rogg: Türkei. Die unfertige Nation. Erdogans Traum vom Osmanischen Reich. Orell Füssli, Zürich 2017, 240 S., 20 €.

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