Die widersprüchlichen Signale, die die Regierung in Berlin 2022 in Bezug auf die militärische Unterstützung der Ukraine gesendet hat, haben in Polen die Frage aufgeworfen, welche Rolle Deutschland künftig für sich selbst sieht: die eines Vermittlers nach Art der neutralen Schweiz oder eine Führungsrolle in einem demokratischen, starken und geeinten Europa. Laut einer Umfrage des Instituts United Surveys waren im vergangegen Mai jedenfalls 44 Prozent der Polen der Meinung, dass Deutschland zu wenig für die Ukraine tue.
Durch die russische Aggression gegen die Ukraine hat sich gezeigt, dass Deutschland in der Sicherheitspolitik viel gespaltener ist als Polen. An Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien der Ampelkoalition hat es im letzten Jahr nicht gemangelt, und manchmal hat man sogar den Eindruck, dass die Innenpolitik Vorrang vor der Außen- und Sicherheitspolitik hat, was Deutschland den Ruf des »Bremsers« beim Thema Aufrüstung der Ukraine einbrachte. Vieles davon war eher Rhetorik, denn Deutschland unterstützt die Ukraine finanziell und militärisch und zwar in einem ähnlichen Umfang wie Großbritannien. In Bezug auf de Unterstützungsbeitrag pro Kopf liegt Deutschland jedoch immer noch hinter Estland und Polen.
In Polen versteht kaum jemand, warum militärische Details in TV-Talkshows verhandelt werden. Was weiß der Durchschnittsbürger über Munition, Panzer und Militärflugzeuge? Politiker sollten Richtungsentscheidungen treffen und Experten sollten über die technischen Details entscheiden. Oft hat man aber den Eindruck, dass die regierenden Politiker in Berlin sich eher an Umfragen orientieren.
Der russische Krieg in der Ukraine ist kein Thema wie andere, hier ist echte politische Führung gefragt, kein Zögern. Waffen verteidigen das Leben und die Souveränität des Landes. Das Jahr 2022 ist nicht mit 1939 oder 1941 zu vergleichen, und das heutige Deutschland ist eine führende, starke Demokratie, also hoffen wir in Polen, dass es eine starke Führungsrolle in der europäischen Sicherheit einnehmen wird.
Polen ist derzeit ein politisch sehr polarisiertes Land. Eines der wenigen Dinge, das Regierung und Opposition eint, ist aber die Kritik an Deutschlands Haltung gegenüber der russischen Aggression gegen die Ukraine. Im vergangenen Jahrzehnt, seit der Eröffnung von Nord Stream 1 im Jahr 2011, haben die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau und dann die deutsche Haltung gegenüber der überfallenen Ukraine im Jahr 2014 die polnische Sicht auf Deutschland geprägt.
Obwohl wir in den deutsch-polnischen Beziehungen seit Jahrzehnten über den Zweiten Weltkrieg diskutieren, mindestens aber seit 1965, seit dem Brief der polnischen Bischöfe an die deutschen Bischöfe, glaube ich nicht, dass wir uns jemals ehrlich gesagt haben, welche Lehren wir aus dem Krieg gezogen haben. Für die Polen bedeutete das Motto »Nie wieder Krieg« vor allem, nie wieder wehrlos zu sein, nie wieder zuzulassen, dass einem die Souveränität genommen wird, nie wieder Besatzung und fremdbestimmte Tyrannei.
Heute scheint es, dass die Deutschen diese Formel viel wörtlicher genommen haben. Wahrscheinlich, weil unsere Perspektiven auch völlig unterschiedlich waren. Die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatten und am Ersten zumindest nicht schuldlos waren, wollten nie wieder auf die dunkle Seite ihrer Geschichte zurückkehren. Gut so! Aber nach 1945 war die Geschichte (bis 1990 West-)Deutschlands auch eine Erfolgsgeschichte! Es wurde eine gefestigte Demokratie mit stabilen Institutionen und einem umfassenden Menschenrechtssystem aufgebaut. Daran sollte Deutschland heute seine geopolitischen Ambitionen ausrichten. Schließlich geht es in der Ukraine nicht darum, Russland anzugreifen und einen globalen Krieg zu entfesseln, wie Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer suggerieren, sondern darum, Russland zu stoppen und die ukrainische Demokratie und Souveränität zu verteidigen und damit einen globalen Konflikt zu verhindern.
In Polen sehen wir, dass Bundeskanzler Olaf Scholz dies verstanden hat. Seine berühmte Zeitenwende-Rede vom 27. Februar 2022 war der beste Ausdruck dafür. Das lange Zögern der Regierung bei den Waffenlieferungen an die Ukrainer und der Stärkung der Bundeswehr ließ jedoch Zweifel aufkommen, ob es Deutschland mit dem sicherheitspolitischen Kurswechsel ernst meint und ob es die Fehler seiner Politik gegenüber der Herrschaft Wladimir Putins wirklich verstanden hat.
In Warschau befürchten die meisten Politiker, aus der Regierung, aber auch aus der proeuropäischen Opposition, dass Berlin die Bedrohung der europäischen Sicherheit durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine noch immer nicht verstanden hat. Radosław Sikorski, Außenminister in der Regierung von Donald Tusk, sagte kürzlich, er erwarte »keine Entschuldigung, aber, dass Deutschland anfängt zuzuhören und zu handeln«.
Die Aussage der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, im Laufe der Jahre mehrfach wiederholt, dass »dieser Konflikt nicht militärisch gelöst werden wird«, und ihre Zusicherung, dass der Westen nicht militärisch auf den Krieg in der Ukraine reagieren werde, klangen wie eine Einladung an Wladimir Putin, die er auch annahm. Die Diplomatie von Angela Merkel wurde auf eine Art Appeasement-Politik beschränkt, ihre Politik zwischen 2014 und 2021 war ein offensichtlicher Fehler, der hätte vermieden werden können. In Deutschland aber wiederholen Politiker und Journalisten die Einschätzung, dass niemand die russische Invasion hätte vorhersehen können.
Im östlichen Teil Europas hat ihn fast jeder erwartet. Aber die Deutschen wollten nicht auf uns hören. Sie haben unsere Politik und unsere Analyse Russlands auf »Ängste« und »Sorgen« reduziert. Wir wollten keine Konfrontation mit Putin, wir wollten sie um jeden Preis vermeiden. Die Deutschen haben nicht berücksichtigt, dass niemand in Europa glücklicher wäre als Polen, Esten, Letten, Litauer, Ukrainer, Moldawier, Slowaken, Tschechen, Rumänen, Bulgaren, wenn Russland sich in eine demokratische Richtung entwickelte, das Völkerrecht respektierte und Putin ein vertrauenswürdiger Politiker wäre. Niemandem liegt ein friedliches Russland mehr am Herzen als den Osteuropäern. Aber wir müssen uns an die Realität anpassen, sonst werden wir nicht überleben. Klingt zu dramatisch? Schauen Sie sich unsere Geschichte an!
In Polen versteht niemand, wie es möglich ist, dass in Deutschland im Jahr 2023 die Äußerung des US-Verteidigungsministers, »Russland muss so weit geschwächt werden, dass es seine Nachbarn nicht mehr bedrohen kann«, für Kontroversen sorgt. Was ist daran für die Deutschen umstritten? Wir verstehen nicht, warum Deutschland gegenüber Russland weiterhin so vorsichtig auftritt. Das taktische Vorgehen à la Angela Merkel war nicht erfolgreich. In Polen und anderen Ländern der Region wollen die Menschen wissen, dass man auf das demokratische Deutschland, das Ihr sorgfältig aufgebaut habt, zählen kann. Es ist auch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Westdeutschland während des Kalten Krieges in der Lage war, sich wirtschaftlich glänzend zu entwickeln, Wohlstand aufzubauen und damit die Demokratie zu stärken, weil es die Sicherheitsgarantie der USA und der NATO hatte. Nichts anderes wollen wir heute in Polen und in den Ländern unserer Region.
Streitpunkt Kernenergie
Bei aller Kritik am Tempo der Waffenlieferungen beobachten wir in Polen mit Bewunderung das Tempo des Wandels in der deutschen Energiepolitik, die inzwischen zum Bestandteil der Außen-, Klima- und Sicherheitspolitik zugleich geworden ist. Der zügige Bau des LNG-Terminals in Wilhelmshaven und die Suche nach Alternativen für die Lieferungen von russischem Öl und Gas geben Hoffnung für das weitere Wachstum der deutschen Wirtschaft. Ein Drittel der polnischen Exporte geht nach Deutschland, unseren wichtigsten Wirtschaftspartner. Für Deutschland ist Polen der fünftwichtigste Handelspartner.
In der Wirtschaft sind wir untrennbare Partner. Deshalb verfolgen wir an der Weichsel aufmerksam die ehrgeizige Energiewende der Deutschen. Wir hoffen, dass die Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen auch nach dem Krieg ein fester Bestandteil davon sein wird. Keine völlige Abschottung, aber eine Unabhängigkeit, damit kein Politiker im Kreml mehr die Energieressourcen für eine imperiale Politik nutzen kann. Die meisten Politiker und Experten in Polen bejubeln die deutschen Investitionen in Wasserstoff, weil sie überzeugt sind, dass die deutschen Autokonzerne die Entwicklung im Wettbewerb mit asiatischen Unternehmen bisher verschlafen haben.
Es ist jedoch unverständlich, angesichts der anhaltenden Energiekrise, auf der Abkehr von der Kernenergie zu beharren. Diese Entscheidung Berlins wirkt eher ideologisch als pragmatisch, was für die Deutschen eher ungewöhnlich ist. Wenn man nur die Klimaziele betrachtet, ist es schwer zu verstehen, warum Deutschland schneller aus der Kernenergie aussteigt als aus der Kohle. Die Kernenergie ist zu einer Quelle der Zerstrittenheit auf dem Kontinent geworden, während sie einst eine Quelle der europäischen Einheit war.
»Das friedliche Atom« – schrieb Jean Monnet, einer der Gründerväter der EU. 1957 unterzeichneten die Gründungsmitglieder die Römischen Verträge und schufen damit die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den Vorläufer der heutigen EU. Gleichzeitig schlossen sie sich einer weniger bekannten Organisation an: Euratom, die für die Überwachung der Kernenergie auf dem Kontinent zuständig sein sollte. Die Idee eines gemeinsamen Marktes war vage, das Potenzial der Kernenergie war klar.
Der gemeinsame Markt hat sich zur heutigen EU entwickelt, während Euratom an Bedeutung verloren hat. Polen hat gerade beschlossen, sein erstes Kernkraftwerk zu bauen. Für Polen, aber auch für Frankreich und einige andere EU-Länder hat die Kernenergie weiterhin eine große Zukunft. Für Deutschland gehört diese Technologie der Vergangenheit an. Es bleibt zu hoffen, dass wir mit dieser Energievielfalt vereint leben können.
Die Europäische Union ist zweifelsohne das beste politische Projekt der europäischen Geschichte. Dessen Zukunft entscheidet sich unseres Erachtens jetzt in der Ukraine. Der ehemalige polnische Außenminister Jacek Czaputowicz hat vor Kurzem gesagt, dass »Deutschlands Unterstützung für die Ukraine an seiner Entschlossenheit gemessen werden sollte, die Ukraine in die Europäische Union aufzunehmen«. Dies scheint die Linie der gesamten politischen Klasse in Polen für die kommenden Jahre zu sein, weshalb die Skepsis Berlins gegenüber einer raschen Aufnahme der Ukraine in die EU in Warschau mit Enttäuschung aufgenommen wird. Vielleicht wollen deutsche Politiker aus taktischen Gründen ihre Öffentlichkeit und Russland nicht verärgern, aber damit verzichten sie darauf, die Führung in Europa zu übernehmen.
Bundeskanzler Helmut Schmidt schickte Politiker mit einer Vision zum Arzt, aber kann man die Ukrainer heute realistisch unterstützen, ohne ihnen echte Hoffnung auf eine europäische Zukunft zu machen? Auch in Polen wissen wir, dass die Ukraine ihre eigenen internen Lektionen zu lernen hat, aber jetzt ist es an der Zeit, sie zu motivieren statt sie abzublocken. Führung in Europa muss nicht Alleinherrschaft bedeuten, Deutschland muss nicht den Vorwurf der Hegemonie fürchten.
Die derzeitige polnische Regierung hat die Abkehr von der Einstimmigkeit im Europäischen Rat, wie sie von Olaf Scholz vorgeschlagen wurde, kritisiert. Doch im Herbst finden in Polen Parlamentswahlen statt, und vieles deutet darauf hin, dass die proeuropäische Opposition tatsächlich die Macht übernehmen kann, was die Möglichkeiten eines konstruktiven Dialogs über die Zukunft der polnisch-deutschen und europäischen Beziehungen erweitert.
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