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© picture alliance / dpa | Felix Hörhager

Parteipolitik und Bewegungspolitik in Kriegszeiten – die Quadratur des Kreises? Grüne Passionsspiele

Die schleichende Klimakrise und der aktuelle Krieg Putins gegen die Ukraine stellen die Ampelregierung in Deutschland vor gewaltige Herausforderungen. Mittelfristig steht insbesondere die Partei der Grünen vor einer Richtungsentscheidung: Betreibt sie entweder – schon um des Zusammenhalts der Regierungskoalition willen – eine stark von Kompromissen geprägte »Realpolitik« und erweist sich in diesem Sinne als regierungsfähig? Oder folgt sie, einen Koalitionskrach in Kauf nehmend, den weitreichenden Forderungen der Umwelt- und Friedensbewegungen, aus denen die Partei einst hervorgegangen ist und die einen wichtigen Teil ihrer Wählerschaft bilden? Oder gibt es einen dritten Weg, einen grünen Spagat zwischen Parteipolitik und Bewegungspolitik?

Die Parteipolitik gebietet den Erwerb und die Festigung politischer Macht, also die Besetzung politischer Ämter auf der Basis von Wählerstimmen. Auf dem Stimmungs- und Stimmenmarkt sind Parteitradition und Parteiprogrammatik nicht unwichtig. Aber sie werden der Real- und Machtpolitik nachgeordnet. Deshalb kann auch die Jahrzehnte geltende Doktrin, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern, buchstäblich über Nacht aufgehoben werden. Deshalb kann der 2002 beschlossene Ausstieg aus der Atomenergie in einem 2010 getroffenen Beschluss hinausgeschoben, dann angesichts der Katastrophe von Fukushima erneuert und nun, im Zeichen einer möglichen energetischen Versorgungskrise, erneut infrage gestellt werden. Die mögliche Laufzeitverlängerung der drei noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke, so Wirtschaftsminister Robert Habeck, werde er »nicht ideologisch abwehren«.

Die Bewegungspolitik folgt anderen Regeln. Sie zielt im »Modus der Belagerung« (Jürgen Habermas) auf Einfluss, aber nicht, zumindest nicht primär, auf Machterwerb. Zwar stehen auch Bewegungen vor Dilemmata, die sich zum Beispiel aus der notorischen Spannung zwischen einem moderaten und einem radikalen Flügel ergeben. Aber anders als Parteien unterliegen sie nicht rigiden Kompromisszwängen, die ideologische Flexibilität oder gar Opportunismus verlangen. Bewegungen spitzen zu, stellen Maximalforderungen. In ihrem Hang zum »Sofortismus« verlangen sie gelegentlich das Unmögliche, wohlwissend, dass die »Realpolitik« dem nicht folgen wird. »Seid realistisch, verlangt das Unmögliche«, hieß ein Slogan des Pariser Mai 1968.

Aber beweist nicht die Existenz von Bewegungsparteien, dass die Versöhnung von Bewegungs- und Parteipolitik möglich ist? Die Grünen, gestartet als eine »Anti-Parteien-Partei« (Petra Kelly), waren bestenfalls in ihrer Frühphase eine Bewegungspartei. Aber sie sind es nicht mehr. Ähnliches gilt für die einstmals bewegte SPD, die Partei der institutionalisierten Revolution in Mexiko, die zeitweise in Brasilien regierende Arbeiterpartei, Podemos in Spanien und so weiter.

Ursprünglicher Impetus wird zur rhetorischen Girlande

Meine These lautet: Die Logiken von Parteipolitik und Bewegungspolitik sind auf Dauer unvereinbar. Eine als Bewegung gestartete und vielleicht noch immer sich als Bewegung stilisierende Partei muss sich programmatisch, strukturell und strategisch auf die Bedingungen der Parteienkonkurrenz einlassen, um über einen Nischenstatus hinauszukommen. Damit mutiert sie in ihrer Form zwangsläufig zu einer konventionellen Partei. Dies erfordert, erstens, politisch-ideologische Wendigkeit, zweitens eine hierarchisch geprägte, wenngleich nicht dem Modus von Befehl und Gehorsam folgende Organisation samt der Etablierung von formellen Entscheidungsgremien, und, drittens, die strategische Ausrichtung auf eine beinharte Konkurrenz, die, bezogen auf Wählerstimmen und Parteizugehörigkeit, ein Nullsummenspiel darstellt.

Mit dieser Ausrichtung ziehen Parteien früher oder später die Kritik selbst jener Bewegungen auf sich, mit denen große inhaltliche Übereinstimmungen bestehen. Wo Parteipolitikerinnen und -politiker auf Sachzwänge oder eine neue Ausgangslage verweisen, wittern Bewegungsaktivist:innen einen Verrat an der Sache, Rücksicht auf die eigene Klientel und das Interesse an der eigenen Karriere.

Ob aus diesen oder anderen Gründen: Es kommt zu Friktionen, wenn der Grüne Jürgen Trittin als einstiger Bundesumweltminister gegen den Widerstand der Anti-Atomkraft-Bewegung Castor-Transporte nach Gorleben befürwortet, wenn der Sozialdemokrat Gerhard Schröder als einstiger Bundeskanzler gegen die Proteste von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Arbeitsloseninitiativen die Agenda 2010 exekutiert, wenn in Bewegungen sozialisierte Spitzenpolitiker wie Joschka Fischer in Deutschland, Alexis Tsipras in Griechenland und Pablo Iglesias in Spanien Entscheidungen zustimmen, die sie in ihrer Bewegungsphase verdammt hätten.

Sozialen Bewegungen wohnt eine Tendenz zur allmählichen Institutionalisierung inne. Mit Blick auf die deutsche Sozialdemokratie, aber letztlich in Bezug auf jede Form von Großorganisation, hatte Robert Michels 1911 ein »ehernes Gesetz der Oligarchie« postuliert. Am Ende, so Michels, überwiegt das Interesse am Erhalt und der Ausdehnung des eigenen Apparats, während der ursprüngliche Impetus des (radikalen) Wandels nur noch als Traditionsbestand, als rhetorische Girlande in Sonntagsreden, beschworen wird.

Wer aber Michels’ Buch bis zum letzten Absatz liest, findet dort keine Behauptung einer linearen Entwicklung, mit der das Formprinzip der Bewegung definitiv enden würde. Vielmehr entstehen »aus dem Schoß der Oligarchie« neue Ankläger. Gegen die dominierende alte Klasse, so Michels, »erheben sich nun namens der Demokratie wieder neue Freiheitskämpfer. Und dieses grausame Spiel zwischen dem unheilbaren Idealismus der Jungen und der unheilbaren Herrschsucht der Alten findet kein Ende. Stets neue Wellen tosen gegen die stets gleiche Brandung. Das ist die tiefinnerste Signatur der Parteigeschichte.«

Michels unterstellt ein mechanisches und zugleich endloses Wechselspiel von Bewegungs- und Parteiphase. Realistischer erscheint allerdings die Annahme, dass Parteien und Bewegungen in einer spannungsreichen Beziehung koexistieren. Auf der Formebene ist die jeweilige Eigenlogik von Bewegungs- und Parteipolitik in Rechnung zu stellen, die nicht zugunsten der einen oder anderen Seite aufzulösen ist. Die Demokratie braucht Parteien. Und sie braucht Bewegungen, die der Demokratie historisch zum Durchbruch verholfen haben und Demokratie lebendig und anpassungsfähig halten.

Auf der inhaltlichen Ebene dagegen, die Michels auf das Verhältnis von Masse, Führern und Apparaten in der Demokratie reduzierte, geht es um zusätzliche Themenbereiche, die teilweise einen inneren Zusammenhang aufweisen. Dieser breite Problemhorizont war, um nur ein historisches Beispiel zu nennen, das erklärte Anliegen von Clara Zetkin. Sie hatte im März 1915, also während des Ersten Weltkriegs, eine internationale, wenngleich nur von 25 Teilnehmerinnen besuchte Konferenz in der Schweiz organisiert, um programmatisch die Themen Frieden, soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung der Frauen zu verknüpfen. Allerdings erwiesen sich entsprechende Forderungen angesichts der Wucht von Nationalismus, Kriegsbegeisterung und Chauvinismus als illusorisch.

Auch heute, angesichts der Verrücktheit der Gegenwart, stehen wir vor Aufgaben, für die sich die Mühlen der Parteipolitik als zu schwerfällig, die Schubladen der Politikressorts als zu sperrig erweisen. Es bedarf vielmehr eines themenübergreifenden Zusammendenkens, wie es von manchen Bewegungen gefordert wird. Dabei ist es ihre Sache, das politische Zentrum zu belagern und Umwelt-, Friedens-, Menschen- und Bürgerrechtspolitik (einschließlich der Geschlechterpolitik) zu verknüpfen, wie es im losen Netzwerk von #unteilbar, in Bewegungsorganisationen wie campact!, in der Bewegungsstiftung und auch den Friedensdemonstrationen dieser Tage anklingt.

Mit der Klimakrise stehen nicht »nur« Fragen der Allokation von Macht, sondern des globalen Überlebens auf der Tagesordnung. Manche folgern daraus: Erst kommt das Überleben, dann alles Weitere. Vor dem Hintergrund katastrophischer Erwartungen gibt es Überlegungen, demokratische Prinzipien ganz oder teilweise aufzukündigen, um autoritativ jene Maßnahmen durchzusetzen, die Rettung in Aussicht stellen. Und wenn die Regierenden dem nicht folgen, so erscheint Selbstermächtigung unter Berufung auf »Notwehr« geboten. Entsprechende Äußerungen dazu finden sich bei aktivistischen Vertretern von Extinction Rebellion, die vor allem auf mediengerechte Protestinszenierung setzen.

Sie finden sich auch bei Hans Jonas, einem Vordenker einer ökologisch grundierten Verantwortungsethik. Dessen Überlegungen, dass in der Demokratie notwendig die Gegenwartsinteressen das Wort führen und somit über die ökologisch gebotene Notwendigkeit einer Tyrannis nachzudenken sei, wurden allerdings in der Neuausgabe seines erstmals 1979 erschienenen Hauptwerks Das Prinzip Verantwortung getilgt. Gälte der Imperativ des schieren Überlebens unter allen Umständen, so wäre nicht nur eine Ökodiktatur hinzunehmen. In Putins Krieg müssten auch die Ukrainer von ihrem Widerstand lassen.

Verweis auf Sachzwänge ist eine Kapitulationserklärung

Ob der Erhalt des Lebens dem Erhalt der Freiheit vorzuordnen ist, ergibt sich aus keinem Sachzwang, sondern bleibt eine individuelle und kollektive Entscheidung. Der Verweis auf Sachzwänge, seien sie technischer Art wie bei Helmut Schelsky (Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, 1961), politischer Art wie bei Margaret Thatcher (»There is no alternative« im Jahr 1980) oder ökologischer Art (wie beim »Aufstand der letzten Generation« im Jahr 2022) ist eine Kapitulationserklärung.

Stattdessen gilt es am demokratischen Regelwerk festzuhalten, Handlungsoptionen samt ihren Konsequenzen aufzuzeigen und für dann bevorzugte Lösungen die Mühen politischer Überzeugungsarbeit auf sich zu nehmen – dies allerdings in Anerkennung heutiger Problemlagen, die drastische Maßnahmen erfordern. Der Impuls dazu geht von progressiven Bewegungen aus. Sie werden auf mittlere Sicht die derzeitige Bundesregierung unter erheblichen Druck setzen. Dem unterliegen allerdings die drei Koalitionspartner in unterschiedlichem Ausmaß.

Die FDP hat kein bewegungsförmiges Standbein. Sie ist de facto vor allem ein Transmissionsriemen für wirtschaftsnahe Lobbygruppen, auch wenn sie ihre Rolle anders und weitaus differenzierter beschreiben mag. Allerdings kann sie lobbyistischen Interessen nur sehr eingeschränkt nachkommen. Sozialdemokraten und Grüne werden sich entweder querstellen oder der FDP Zugeständnisse an anderer Stelle abverlangen. Die Sozialdemokraten sind traditionell einer Reihe bewegter Gruppierungen, darunter Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände, verpflichtet. Allerdings haben diese ihren Status als einstige Vorfeldorganisationen der Partei (mit Ausnahme kirchlicher Gruppen) weitgehend abgestreift.

Somit wird die Sozialdemokratie darauf achten müssen, von ihrer ohnehin nicht sonderlich kräftigen außerparlamentarischen »Schöpfquelle« (Robert Michels) nicht ganz abgeschnitten zu werden. In dieser Hinsicht droht den Grünen die größte Gefahr. Als derzeit vorrangiger Hoffnungsträger und Ansprechpartner progressiver Bewegungen werden sie deren Erwartungen enttäuschen und damit auch Teile der eigenen Parteibasis in Zweifel stürzen. Was heute den »Bewegten« mit Blick auf die Klimafrage wie auch die Verteidigungs- und Rüstungspolitik gewisse Bauchschmerzen bereitet, wird sich morgen oder übermorgen zu einem chronischen Leiden auswachsen.

Wie kann es sein, dass die Bundeswehr mit einem zuletzt auf über 50 Milliarden Euro gestiegenen Jahresetat »mehr oder weniger blank« dasteht, wie es der Heeresinspekteur Alfons Mais jüngst offenbarte, während ein Land wie Frankreich mit einem ähnlich großen Verteidigungshaushalt durchaus gerüstet erscheint? Warum ist Deutschland als weltweit viertgrößter Waffenexporteur nicht in der Lage, seine eigenen Waffen funktionsfähig zu halten? Braucht es angesichts der vielfachen militärischen Übermacht der NATO-Staaten gegenüber konkurrierenden Ländern wie Russland und China weitere, über die bisherigen Zusagen hinausgehende Verteidigungsausgaben?

Der vermeintliche »Befreiungsschlag« eines über Nacht verkündeten Sonderetats von 100 Milliarden Euro für Rüstungsausgaben hätte, auch wenn er bereits vor zehn Jahren beschlossen worden wäre, Putin in keiner Weise daran gehindert, Nachbarländer, die nicht der NATO angehören, zu überfallen. Bedarf es vor diesem Hintergrund nicht eher eines weitaus größeren Sonderetats für Umwelt- und Klimapolitik?

So gesehen könnte sich die Erhöhung der Verteidigungsausgaben als ein Bumerang für die SPD und mehr noch die Grünen erweisen. Angesichts einer in ihrer Oppositionsrolle erstarkenden Union und der massiver werdenden Fundamentalkritik progressiver Bewegungen werden sich die ohnehin schmalen Handlungsräume der Regierungskoalition weiter verengen. Passionsspiele stehen auf dem Programm. In der Hauptrolle: die Grünen.

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