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© Bild von Erich Westendarp auf Pixabay 

Grundrechtecharta und das soziale Europa

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union konnte vor kurzem ihr zehnjähriges Jubiläum feiern. Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Jürgen Meyer hat zusammen mit Sven Hölscheidt bei Nomos ein fulminantes Buch zu diesem wichtigen Projekt der europäischen Einigung vorgelegt. Sowohl die Entstehungsgeschichte der Charta-Idee als auch die kontroversen Debatten im Konvent sowie die zunehmende Bedeutung von eigenständigen Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger in der Europäischen Union werden darin profund und spannend erklärt.

Gut 40 Jahre nach Inkrafttreten der Römischen Verträge reifte bei den Entscheidungsträgern in der Politik die Erkenntnis, dass sich die Vereinigung der Völker Europas nicht in der Vollendung eines Binnenmarktes erschöpfen lässt, sondern dass diesem Projekt eine Wertebasis zugrunde liegen muss: das vereinte Europa nicht als technokratisches Projekt für den freien Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr, sondern als wertegebundene Rechtsgemeinschaft.

Die rot-grüne Bundesregierung ergriff in ihrer EU-Präsidentschaft im Jahr 1999 die Initiative für einen Konvent zur Ausarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta. Der EU-Gipfel am 3./4. Juni erteilte das »Kölner Mandat«, alle Rechte der Menschen in der EU aufzulisten und sichtbar zu machen, die es auf Grundlage der EU-Verträge, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs oder Internationaler Konventionen gibt. Dieses Mandat war bewusst vorsichtig formuliert, da EU-skeptische Kräfte einen eigenständigen EU-Grundrechteschutz nicht anerkennen wollten. Unter dem Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog nahm der Charta-Konvent im Frühjahr 2000 mit 62 Delegierten aus den nationalen Parlamenten und dem Europaparlament seine Arbeit auf. Der Deutsche Bundestag wurde von Jürgen Meyer (SPD) und Peter Altmaier (CDU) vertreten.

Dieser 1. Europäische Konvent entwickelte sehr schnell seine eigene Dynamik. Die Parlamentarier wollten nicht bloß vorhandene Grundrechte in einem Katalog sichtbar machen, sondern einen zeitgemäßen Kanon von Rechten erarbeiten. Das ist gelungen. Mit 50 Rechten und Freiheiten in der Charta genießen die Menschen in der EU den weltweit umfassendsten Schutz ihrer Lebensgestaltung. Mit dem Inkrafttreten des Europavertrags von Lissabon im Dezember 2009 wurde die Grundrechtecharta für das Handeln der EU-Institutionen wie auch der Mitgliedstaaten rechtsverbindlich. Der Europäische Gerichtshof hat nach anfänglichem Zögern mittlerweile die Charta zur Basis seiner Urteile herangezogen. Auch weltweit ist die Europäische Grundrechtecharta ein Referenzpunkt für die Rechtsentwicklung geworden.

Es wird immer davon gesprochen, dass die Menschen in Europa die gleichen Werte teilen. Trotzdem gibt es recht unterschiedliche Auffassungen über Art und Umfang der Rechte, die den Menschen zustehen. Meyer/Hölscheidt beschreiben eindrucksvoll die vielen Kontroversen im Konvent, was als ein Grundwert angesehen wird und was nicht.

Das beginnt schon mit Artikel 1 und der Frage, ob die »Würde des Menschen« nur ein Grundsatz oder ein Grundrecht sein soll. Nach den Erfahrungen verletzter Menschenwürde durch Kolonialismus, Sklaverei, NS-Regime und Gulag ist die Menschenwürde das oberste Grundrecht eines jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit. Der EuGH hat in Urteilen zur Homophobie, zum Asylrecht oder zur Sozialhilfe den Schutz der »Würde« einer Person zum Maßstab seiner Entscheidungen gemacht. Wie im Grundgesetz heißt der erste Satz der EU-Charta: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

»Jeder hat ein Recht auf Leben« postuliert Artikel 2. Nur, wann fängt das Leben an und wann hört es auf? Hierüber gibt es keine Einigkeit in Europa. Der Schutz des Embryos oder das Recht auf Sterbehilfe wurde folglich in den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten übertragen und konnte nicht für die ganze EU beantwortet werden. Immerhin sind sich die Europäer über das Verbot der Todesstrafe einig. Das gilt auch als Signal mit Außenwirkung, sowohl in Richtung China wie in die USA. Das Gleiche lässt sich sagen über das Verbot der Folter und das reproduktive Klonen von Menschen. Hier unterscheidet sich Europa auch von sogenannten Freunden in der Welt.

Artikel 5 verbietet Menschenhandel, Sklaverei und Zwangsarbeit. So manches Mitglied im Konvent hielt das für überflüssig, weil es so etwas in Europa nicht mehr gäbe. Weit gefehlt! Menschenhandel in der Sexindustrie, Vertragssklaverei im Finanzwesen oder Leibeigenschaft von Hilfspersonal in einigen Botschaften existieren mitten in der EU.

Meyer/Hölscheidt zeichnen mit großer Kenntnis die Kontroversen über die Charta-Kapitel »Freiheit, Gleichheit, Solidarität« nach. Artikel 8 postuliert sehr weitsichtig: »Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.« Diese dürfen nur mit Einwilligung der betroffenen Person verwertet werden. Jede Person hat das Recht auf Auskunft über seine Daten und kann deren Berichtigung erwirken. Der Kampf der EU mit Facebook und anderen Plattformen erhält hier seinen grundrechtlichen Auftrag. Auch hier ist Europa anders als viele Länder in Amerika oder Asien.

Artikel 10 konstatiert: »Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.« Autoritäre Kräfte innerhalb der EU und noch viel mehr um uns herum im Osten und Süden treten diese Grundrechte mit Füßen. Auch die Wissenschaftsfreiheit (Artikel 13) ist akut in Gefahr, wie das ungarische Hochschulgesetz mit dem Verbot der Internationalen Universität in Budapest gezeigt hat.

»Jede Person hat das Recht auf Bildung und Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung« fordert Artikel 14. Da die EU wenig Kompetenzen für die Bildungspolitik hat, richtet sich dieses Postulat an die Mitgliedstaaten. Mit dem Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung und den Mitteln des Europäischen Sozialfonds wird Brüssel unterstützend und koordinierend tätig.

»Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen«, so Artikel 15. Ein »Recht auf Arbeit« wurde im Konvent gefordert, wie es in den Verfassungen einiger Mitgliedstaaten verankert ist. Das ließ sich aber nicht durchsetzen.

Die Konservativen im Konvent legten großen Wert auf ein Grundrecht der »unternehmerischen Freiheit« (Artikel 16) und des Rechts auf Eigentum (Artikel 17). Die EVP-Fraktion hatte diese beiden Artikel zur Bedingung für die Akzeptanz der ganzen Charta gemacht. So verhallte die Kritik, dass die Berufsgruppe der Unternehmer gegenüber anderen Berufsgruppen privilegiert wird. Auch die Forderungen, nur das »rechtmäßig erworbene« Eigentum zu schützen und eine Sozialbindung des Eigentums zu verankern, ließen sich gegen den Widerstand konservativ-liberaler Kräfte nicht durchsetzen.

Auf der anderen Seite konnten progressive Kräfte um den Vertreter des Deutschen Bundestages, Jürgen Meyer, ein eigenständiges Kapitel »Solidarität« durchsetzen. Solidarität wurde damit als »unteilbarer und universeller« Wert neben die Freiheit gestellt. Das war in der EU nicht immer selbstverständlich. Sozialpolitik war weitläufig nationale Politik. Soziale Rechte auf EU-Ebene hatten es lange Zeit schwer, anerkannt zu werden. Zwar sprach schon der Vertrag von Rom (1959) von der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der »Arbeitskräfte«. Man glaubte damals, die Wirkungen des gemeinsamen Marktes und der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Mittel würden ausreichen. Im Vertrag von Maastricht war es aufgrund des Widerstands von Großbritannien nicht möglich, arbeitsschutzrechtliche Kompetenzen auf EU-Ebene zu verankern. Erst als Tony Blair die Europäische Sozialcharta ratifiziert hatte, konnten im Vertrag von Amsterdam neue Bestimmungen für den Sozialschutz aufgenommen werden.

Im Konvent versuchten konservative Kräfte sehr energisch, das Solidaritätskapitel zu verhindern oder mindestens zu verwässern. Soziale Grundrechte seien ein Einfallstor für neue Forderungen und Leistungen. Die EU habe hier kaum Kompetenzen und solle keine Versprechungen machen. So erwirkten Großbritannien und Polen zuletzt mit dem Protokoll Nr. 30 zur Charta ein opt out. Sie wollen soziale Rechte nur insoweit anerkennen, wie sie auf ihrer nationalen Ebene bereits existieren. Das hat Wirkung gezeigt und andere ebenfalls ermuntert. So findet sich bei den meisten sozialen Rechten im Kapitel »Solidarität« der Verweis und damit die Einschränkung auf die »einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten«. Die Charta ist daher eher eine Ermöglichungsfunktion für die Sozialpartner und die Mitgliedstaaten, ihrerseits soziale Schutzmaßnahmen zu organisieren.

Widerstände gegen Arbeitnehmerrechte

Alle Ziele im Solidaritätskapitel wurden von Konservativen und Neoliberalen hinterfragt oder bestritten. So das Recht der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter auf rechtzeitige Unterrichtung (Artikel 27). »Effektive« Unterrichtung war die ursprüngliche Forderung. Von »Mitbestimmung« wie noch in der Europäischen Sozialcharta des Europarates ist keine Rede mehr. Heftig ging es zu bei den Debatten um Artikel 28 und dem Recht der Tarifpartner »bei Interessenskonflikten kollektive Maßnahmen, einschließlich Streiks, zu ergreifen«. Konservative wollten das Streikrecht nur auf nationaler Ebene begründbar sehen und zur Not auch das Recht auf Aussperrung in der Charta festlegen. Hier haben die Sozialdemokraten allerdings die rote Linie gezogen und das Gesamtergebnis infrage gestellt. Das war auch vor dem Hintergrund einiger EuGH-Urteile nötig, die die Warenverkehrsfreiheit im Binnenmarkt über das Streikrecht gestellt hatten, so die Fälle Laval und Viking.

Beim »Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst« (Artikel 29) fragte Peter Altmaier (CDU), warum diese Dienstleistung unentgeltlich sein soll, und der Vertreter seiner Majestät hielt das Ganze für unmöglich in Großbritannien zu verwirklichen.

»Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen (...) auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten und auf einen bezahlten Jahresurlaub« (Artikel 31). Bei der Forderung nach »gleichem Geld für gleiche Arbeit« liefen die Konservativen Sturm. Die Zeitungen würden schreiben, die EU wolle die Löhne regulieren.

Seit Jahren gibt es Streit in der EU über die wöchentliche Höchstarbeitszeit wie auch um die Ruhezeiten. Auch im Konvent gab es Meinungen, dass jede/r selbst entscheiden soll, ob er/sie mehr als 48 Stunden in der Woche arbeiten will. Zu den Arbeitsbedingungen gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von EU-Richtlinien, auch bezogen auf Personengruppen wie Jugendliche, Mütter, Seeleute, Leiharbeiter etc.

Die Charta regelt auch den Kinder- und Jugendschutz. So ist Kinderarbeit in der EU verboten. Keine Einigkeit gab es zu der Aussage, wann das Jugendalter beginnt. Die Zahl 15 taucht im Artikel 32 nicht auf.

Umfangreiche Debatten verursachte der Artikel 34 mit der Feststellung »Die Union anerkennt und achtet das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit und zu den sozialen Diensten«. Konservative hegten starke Zweifel an der Chartawürdigkeit und am Grundrechtscharakter. Peter Altmaier (CDU) befürchtete sogar eine drohende Harmonisierung nationaler Sicherungssysteme und einklagbare Ansprüche durch EuGH-Urteile. Das Recht auf einen Mindestlohn konnte nicht in der Charta verankert werden.

In der Politik der EU muss ein »hohes Umweltschutzniveau« erreicht und eine »nachhaltige Entwicklung« sichergestellt werden (Artikel 37). Der Klimaschutz war seinerzeit noch nicht so präsent, um im Text erwähnt zu werden. Zwei gleich große Lager standen sich bei der Forderung zum »Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse« (Artikel 36) gegenüber. In den Verfassungen der Mitgliedstaaten gibt es hierzu kein Vorbild. So hat Slowenien 2016 als erster europäischer Staat das Recht auf Trinkwasser in seine Verfassung aufgenommen. Seit den 90er Jahren hatte eine Welle von Liberalisierungen und Privatisierungen von Diensten der Daseinsvorsorge zur Gefahr der sozialen Spaltung in elementaren Lebensbereichen geführt. Um den sozialen und territorialen Zusammenhalt der EU zu fördern, beharrte der progressive Flügel des Konvents auf dem Zugang aller Menschen zu diesen Dienstleistungen. Etliche Richtlinien der EU zu Wasser-, Strom- und Gasversorgung, zu Abwasser- und Abfallentsorgung, zu Verkehrs- und Beförderungsdienstleistungen bis zur Tätigkeit öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten ranken sich um die Auseinandersetzung, was privatwirtschaftlich mit Renditeabsicht und was von allgemeinem öffentlichem Interesse ist.

Die Corona-Krise zeigt deutlich die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Artikel 35 forderte weitsichtig: »Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung«. In allen Bereichen der Politik und von Maßnahmen der EU »wird ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt«. Die letzten Wochen haben deutlich gemacht, wieviel da noch fehlt. Die Gesundheitssysteme sind heruntergespart worden, Schutzausrüstungen und Arzneimittel fehlen und von grenzüberschreitender Solidarität ist nur partiell die Rede gewesen. Europäische Gesundheitspolitik wird nach dem Corona-Schock ein Top-Thema auf der Agenda bleiben, mit Hoffnung auf Besserung.

Die Charta der Europäischen Grundrechte ist ein Meilenstein sowohl auf dem Weg zu einem Europa der Bürgerinnen und Bürger, wie auch zu einer politischen Union. Die »Seele« Europas liegt im Grundstock an zivilisatorischen Errungenschaften im Laufe der Geschichte und ihrer Absicherung im Rechtsstaat. Einmalig in der Welt ist der transnationale Charakter von Grundrechten. Bei allen Defiziten wurde mit der Europäischen Union ein Raum der Freiheit und der Sicherheit geschaffen, der seinesgleichen sucht.

Zur Zeit des Konvents im Jahr 2000 herrschte immer noch die positive Stimmung, dass nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs »Europa zu seinem Glück vereint« wird, wie es in einer gemeinsamen Erklärung der drei EU-Institutionen Parlament, Kommission und Rat damals hieß. Die nationalistischen und populistischen Strömungen wie auch die autoritären Verführungen à la Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński waren noch nicht so stark vorhanden. Aus heutiger Sicht ist es deshalb umso besser, dass die EU mit der Grundrechtecharta einen Kompass an der Hand hat für eine Politik der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität und auch, um die Abwendung einzelner Mitgliedstaaten vom gemeinsamen Wertekanon zur Not mit Sanktionen zu korrigieren.

Jürgen Meyer und Sven Hölscheidt sei Dank für ein erstklassiges Werk der Beschreibung und Erläuterung des praktischen Nutzens all jener Rechte und Freiheiten, die wir als Menschen in der Europäischen Union in Anspruch nehmen können. Das Buch sei allen empfohlen, die Interesse an der Zukunft Europas haben.

Jürgen Meyer/Sven Hölscheidt (Hg.): Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Nomos, Baden-Baden 2019, 5. Aufl., 1.030 S., 148 €.

Kommentare (1)

  • Eleonore Hippmann
    Eleonore Hippmann
    am 15.07.2020
    Jeder hat ein Recht auf Leben.
    Gehören nicht die Tiere auch dazu? Leider lese ich keinen einzigen Satz darüber ob in Deutschland Tierschutzgesetze eingehalten werden müssen, wie im Artikel 20a vom 1.Aug.2002 aufgezeigt wird. Kann eine Frau Klöckner diese im Grungesetzt angegebenen Statuten, ignorieren oder einfach ausser Acht lassen, ohne mit juristischer Verfolgung zu rechnen??? Wie ist das möglich in einem Rechtsstaat???? Hätte gerne eine Antwort.

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