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Das EU-MERCOSUR-Abkommen braucht einen Perspektivwechsel Handel in Krisenzeiten

Im Juni 2019 wurden nach über 20 Jahren endlich die Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem südamerikanischen Staatenblock MERCOSUR abgeschlossen. Auf dem G20-Gipfel in Osaka wurde der Zusammenschluss der beiden Regionalbündnisse als Gründung der weltweit größten Freihandelszone verkündet. Antrieb für die Einigung dürften aber weniger handels- als geopolitische Motive gewesen sein: Zwischen US-amerikanischem Protektionismus und chinesischer Expansion versuchen beide Blöcke, sich strategisch im Weltmarkt zu positionieren. Angesichts globaler Krisen wurde die Chance, nachhaltige alternative Standards zu setzen, von der EU jedoch bislang verspielt.

1991 schlossen sich Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay im Markt des Südens zusammen. Das Vorhaben, welches freien Handel nach innen und gemeinsame Zölle nach außen vorsah und durch demokratische Kontrollinstanzen wie das 2005 geschaffene Regionalparlament PARLASUR ergänzt wurde, orientierte sich stark am europäischen Vorbild. Zwar krankte der MERCOSUR stets an den wirtschaftlichen Asymmetrien zwischen den G20-Ländern Brasilien und Argentinien einerseits und den kleinen Nachbarn andererseits und die Spannungen zwischen den beiden Riesen und daraus resultierende Nationalismen behinderten die Vollendung der ambitionierten Integrationsziele – bis dato ist nur eine unvollständige Zollunion erreicht und Institutionen wie Rat und Parlament wurden nie mit einem eigenständigen Mandat ausgestattet. Dennoch stieg der intraregionale Handel insbesondere in der ersten Dekade erheblich.

Der Dialog zwischen der EU und dem MERCOSUR, der 1995 in ein biregionales Rahmenabkommen als Vorstufe der Assoziierung mündete, schien historisch wie politisch naheliegend: Es galt, eine enge Zusammenarbeit zwischen den beiden Weltregionen zu etablieren, die – mehr als alle anderen – durch die Migrationen des 19. und 20. Jahrhunderts, durch Handel und Investitionen kulturell, ideengeschichtlich und wirtschaftlich eng verbunden sind. Das Rahmenabkommen war aber auch eine Antwort auf das 1991 von George Bush sen. verkündete Projekt eines gemeinsamen Marktes von Alaska bis Feuerland: Der MERCOSUR als wirtschaftlich wichtigster Teil des US-amerikanischen »backyard« suchte ein zweites Standbein und Europa liebäugelte mit dem Zugang zur panamerikanischen Freihandelszone (FTAA) – ein Projekt, das 2005 von lateinamerikanischer Seite aufgekündigt wurde.

In den anschließenden Assoziierungsverhandlungen bildeten weniger Zölle oder Quoten den Streitpunkt, sondern nicht-tarifäre Aspekte wie öffentliche Ausschreibungen, Patentrecht und Investitionsschutz, bei denen es für den MERCOSUR letztlich um die Aufgabe nationaler politischer Gestaltungshoheit bei so wichtigen Themen wie Gesundheitsvorsorge oder Wirtschaftsentwicklung geht. Denn wie will man Start-ups mit staatlichen Programmen fördern, wenn diese zur interregionalen Ausschreibung offenstehen, wie Generika von Aids-Medikamenten oder gegebenenfalls COVID-Impfungen kostengünstig der Bevölkerung zur Verfügung stellen, wenn es dem Patentrecht widerspricht oder auf die Gefahren des Rauchens hinweisen, wenn Philip Morris dies unter Bezug auf den Investitionsschutz zu unterbinden versucht – wie 2010 in Uruguay?

Das 2019 erzielte Verhandlungsergebnis weist nun deutliche Asymmetrien auf: Das sogenannte Social Impact Assessment (SIA), das die renommierte London School of Economics im Auftrag der EU-Kommission bis zum Sommer 2020 erstellt hat, schätzt, dass sich die EU-Exporte in den MERCOSUR fast verdoppeln werden (Elektrogeräte + 110 %, Autos und Autoteile + 95 %, Milchprodukte + 91 %), während die des MERCOSUR in die EU durchschnittlich nur um ein Drittel ansteigen (Rindfleisch + 30 %, Soja + 40 %). Darüber hinaus wird zwar eine Reihe von landwirtschaftlichen Exportgütern aus dem MERCOSUR gänzlich von Zöllen befreit; bei den kompetitivsten wie Rindfleisch und Soja wird allerdings ein reduzierter Zollsatz beibehalten und die Menge auf Quoten beschränkt, die weit unter dem derzeitigen Handelsvolumen liegen. Zudem hat die europäische Agro-Lobby erstmals eine Klausel durchgesetzt, die im Falle von »Marktstörungen« durch Importe aus dem MERCOSUR Interventionsmöglichkeiten der EU vorsieht sowie einen entsprechenden Hilfsfonds von einer Milliarde Euro. Im Gegenzug zu Marktöffnungen auch bei öffentlichen Ausschreibungen und Anpassung an europäisches Patentrecht und Verbraucherschutzstandards erhält der MERCOSUR also Importquoten.

Nachhaltigkeit ohne Garantie

Das SIA stellt zudem kaum negative Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Klima fest, andere Studien belegen aber, dass viele besser bezahlte Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung durch wenige prekäre in Landwirtschaft, Bergbau und Dienstleistungen ersetzt werden. Zusätzlich werden eine erhöhte Soja- und Rindfleischnachfrage zu einer Ausweitung der Anbau- und Weideflächen durch Rodung führen – auch im Amazonasgebiet.

Die Zivilgesellschaft beiderseits des Atlantiks äußerte daher stets deutliche Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der handelspolitischen Partnerschaft: Das Abkommen zementiere ein schädlich extraktivistisches Wirtschaftsmodell im MERCOSUR. Es führe zu Produktionssteigerungen durch Monokultivierung und unter Einsatz von Pestiziden und Genmanipulation, die erhebliche Umwelt- und Klimaschäden verursachen. Menschenrechtsorganisationen sind darüber hinaus besorgt aufgrund von Verletzungen der Rechte von Indigenen durch Landraub.

Um zivilgesellschaftlicher Kritik zu begegnen wurden von der EU-Kommission seit Ende der 90er Jahre sogenannte Nachhaltigkeitskapitel mit Vereinbarungen zu sozialen und ökologischen Fragen in die Handelsverträge eingefügt. Auch in dem vorliegenden Abkommen verpflichten sich die Vertragspartner u. a. zur Einhaltung und Umsetzung zentraler multilateraler Übereinkommen wie Klimaabkommen und ILO-Konventionen. Darüber hinaus sollen Menschenrechtsklauseln einen besonderen Schutz gegen Verletzungen bieten. Effiziente Kontrollmechanismen und Sanktionen im Falle von Verstößen werden aber nicht benannt. Und die Erfahrung mit bisherigen Handelsverträgen wie etwa dem EU-Abkommen mit Kolumbien, Peru und Ecuador oder Zentralamerika zeigen, dass reine Selbstverpflichtungen Nachhaltigkeit keineswegs garantieren: Wenn der politische Wille fehlt, reichen Dialogmechanismen zur Streitbeilegung oder Durchsetzung von Rechten allein nicht aus.

Die Einigung mit dem MERCOSUR wurde bislang nur zum Handelsteil erzielt. Die anderen beiden Säulen des Assoziierungsabkommens – mit politischem Dialog und Kooperation also die Vereinbarungen, die gemeinsame Werte und die Befähigung zur Einhaltung von Standards und Klimazielen vorsähen – sind bislang unbekannt. So droht aus einem ambitionierten biregionalen Vorhaben ein Abkommen zu werden, das nicht mal den Namen Freihandel verdient. Denn wenn Marktöffnung auf der einen Seite gegen Quotensätze auf der anderen getauscht werden, kann von frei schwerlich die Rede sein.

Assoziierung statt Handel!

Natürlich braucht Europa Post-Corona Absatzmärkte für die wirtschaftliche Wiederbelebung. Im Falle der Beziehungen zum MERCOSUR dürfte das aber nicht das entscheidende Motiv sein. Zwar war die EU bis 2016, als sie von China abgelöst wurde, der wichtigste Handelspartner des MERCOSUR. Aber selbst, wenn das EU-Exportvolumen von derzeit 45 Milliarden Euro verdoppelt würde, was durch die Corona-Krise fragwürdig geworden ist, bliebe der MERCOSUR unter den EU-Handelspartnern ein kleiner Fisch.

Wenn Handelsinteressen also nicht das ausschlaggebende Motiv der EU in ihren Beziehungen zum MERCOSUR sind, liegen geopolitische Belange nahe. Die USA setzen unilateral und protektionistisch eigene Interessen durch. Und China wirbt mit Wachstum, Expansion und erfolgreicher Armutsbekämpfung global für ein Modell, das – obwohl oder gerade weil anti-demokratisch – weltweit inmitten der Repräsentationskrise viel Zustimmung erntet. Zudem ist China als Investor und Kreditgeber in Lateinamerika schwer zu überbieten.

In der »neuen Normalität« wird die EU dagegen Partner zwischen den Polen brauchen, mit denen globalen Herausforderungen von Pandemien bis zum Klimawandel begegnet werden kann. Das Alleinstellungsmerkmal des Assoziierungsabkommens mit dem MERCOSUR könnte aus dieser Perspektive als ein Bündnis zweier (noch) demokratisch regierter Regionen geopolitisch ein wichtiges Signal in Richtung Nachhaltigkeit, Multilateralismus und Demokratie setzen – eine Perspektive, die Handel komplementär sieht, indem weder EU-Milchpulver nach Uruguay noch holländische Tomaten nach Brasilien exportiert werden, die Kooperation vom Technologietransfer bis zu Forschungsverbünden zur Befähigung der Einhaltung von Verbraucherschutz und Klimazielen definiert, die einen politischen Dialog fördert, der Inklusion global denkt und angesichts von Wirtschafts- und Klimaflüchtlingen ein gemeinsames Interesse an nachhaltigen Entwicklungsmodellen erkennt. Und auch Mechanismen der gegenseitigen Kontrolle und Sanktionen im Falle von Verstößen dürfen trotz aller guten Vorsätze nicht fehlen.

Derart ausgestaltet böte eine Assoziierungsstrategie der EU die Möglichkeit, Lateinamerika bei der Bewältigung und Überwindung der Folgen der Pandemie zu unterstützen, anti-demokratische Regierungen in ihre Schranken zu verweisen und sich geopolitisch mit einem Modell zu positionieren, das neue Maßstäbe setzt und damit viel von dem kooperativen Geist des Rahmenabkommens von 1995 aufgreift.

Jüngste Initiativen, Gestaltung und Regulierung des globalen Handels im Lichte der Pandemie neu bewerten zu wollen, stellen somit eine Chance für eine neue EU-Politik dar, die weit über das EU-MERCOSUR-Abkommen hinausgeht.

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