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Chancen und Bedingungen für Rot-Rot-Grün Handlungsspielräume in der sozialdemokratischen Matrix

Wer in den vergangenen Jahren über die Möglichkeiten eines linksreformerischen Kurswechsels in diesem Land nachdachte, hatte nicht besonders viel Anlass zum Optimismus. Daran hat sich wenig geändert. Während auf der einen Seite die ökonomischen, sozialen und ökologischen Herausforderungen immer größer werden, wächst offenkundig die politische Substanz, auf der sich eine notwendige Linkswende bauen ließe, nicht mit. Das gilt für die Parteien, das gilt aber auch für den gesellschaftlichen Raum. Die bisweilen recht lauten Geräusche, die der politisch-mediale Betrieb vor der Bundestagswahl 2017 in Sachen Rot-Rot-Grün macht, können darüber nicht hinwegtäuschen.

»Alle Welt schreit [sic] im Augenblick vor der Gefahr einer AfD und eines Rechtsruckes dieser Gesellschaft, und die eigentliche Gefahr ist doch, dass gegebenenfalls wirklich ein Linksbündnis in diesem Land droht«, so der CSU-Innenpolitiker Michael Frieser im Deutschlandfunk (20.9.16). So oder ähnlich tönt es seit Wochen aus der Union. Das ist die eine Seite des Krawalls, doch aus bloßer Gegnerschaft des rechtsbürgerlichen Lagers allein wird noch kein progressiver Frühling.

Auf der anderen Seite mahnt die intellektuelle Linke, die Parteien sollten sich doch endlich für eine »vernünftige Alternative« (Jürgen Habermas) wirklich ins Zeug legen, was in der Regel auch den Appell zum Ausbruch aus der um sich selbst kreisenden Parteienlogik beinhaltet. Zugegeben: So etwas lässt sich von »außen« leicht fordern, »innen« wirken derweil die Zwänge der parlamentarischen Routinen, der Organisationskultur, der medialen Aufmerksamkeitsökonomie.

Allerdings geht es inzwischen auch um sehr viel. Nicht nur Parteipolitiker von SPD, DIE LINKE und den GRÜNEN halten ein Mitte-links-Bündnis in diesen Zeiten – und das ist ein Unterschied zu den rot-rot-grünen Annäherungsversuchen der Vergangenheit – auch deshalb für eine bundespolitische Option, weil eine substanziell andere Regierungspolitik als zentrale Voraussetzung dafür angesehen wird, die politischen, sozialen, ökonomischen und gesellschaftlichen Ursachen des aktuellen Rechtsrucks anzugehen. Habermas hat in diesem Zusammenhang zur demokratischen Polarisierung aufgerufen: Es müssten »politische Gegensätze wieder kenntlich« gemacht werden, die Debatte solle sich anders als bisher »um sachliche Gegensätze kristallisieren«. (Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2016)

Das Motto müsste also lauten: Wenn ihr die wählt, dann fährt der Wagen in eine ganz andere Richtung. Was derzeit in der Regel als medial vermitteltes Pingpong über Rot-Rot-Grün aufgeführt wird, erfüllt diesen Anspruch freilich nicht. Da fordert dann gern die eine Seite ultimativ, dass eine andere Partei diese oder jene Bedingung erfüllen müsse, sonst sei eine Kooperation ausgeschlossen. Die andere Seite antwortet darauf meist mit reflexhafter Präzision, dass auch umgekehrt diese oder jene Bedingung gelte. Und überhaupt: Mit dieser oder jener Person könne man ja gar nicht!

Reden wir stattdessen über den Wagen und die andere Richtung. Man kann dafür an Thomas Oppermann anknüpfen, der in der Ausgabe 12|2016 der NG|FH die Frage diskutiert hat, ob Rot-Rot-Grün realistisch sei. Es wäre nun ein leichtes, so wortreich wie Oppermann die »Obstruktionspolitik der Linkspartei« gescholten und diverse Bedingungen aufgestellt hat, den Spieß bloß umzudrehen, und die SPD in kritischer Absicht an ihre eigene Regierungsgeschichte, an die Folgen der Agenda 2010 zu erinnern und daraus Bedingungen abzuleiten.

Die Fragen jenseits der parteipolitischen Muckibude

Dies wäre aber langweilig und vor allem: wenig ertragreich. Die Endlosschleife des medial-politischen »Diskurses«, und hier könnte als Beispiel ebenso gut die Linkspartei angeführt werden, die in ihrer parteipolitischen Muckibude gern auf SPD-Punshingbälle drischt, drückt sich um die eigentlichen Fragen. Der Platz reicht nicht, um diese hier alle aufzuzählen. Zwei wichtige Beispiele seien aber genannt.

Es geht in der politischen Debatte erstens zu wenig um die klassenpolitische Dimension der gegenwärtigen tiefgreifenden Veränderungen der technologischen Basis der Produktion und der globalen Bedingungen der Verteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums sowie der Ressourcen. Was Rot-Rot-Grün der Öffentlichkeit in der Regel bietet, ist entweder eine affirmative Erzählung der »Chancen der Globalisierung und Digitalisierung« oder eine holzschnittartige Warnung vor den »Folgen des Freihandels und der Automatisierung«. Beides widerspricht den subjektiven Erfahrungen vieler Menschen, die die Widersprüche der herrschenden Verhältnisse in ihrem Alltag immerzu verarbeiten müssen: mehr Freiheit und Autonomie auf der einen, mehr Druck und Abhängigkeiten auf der anderen Seite.

Eine verbindende Kritik, die die Potenziale der Befreiung des technologischen Wandels ebenso in den Blick nimmt wie die Realität globaler Marktverhältnisse und die darin konkurrierenden Interessen, ist in der gesellschaftlichen Linken leider eine Mangelware. Viel zu oft werden mit dem Mittel der sprachlichen Objektivierung die gesellschaftlichen Verhältnisse zugekleistert – Globalisierung ist ebenso wenig wie die Digitalisierung ein Naturzustand, an den man sich anpassen müsste. Und wer an einem Mitte-unten-Bündnis der Veränderung wirklich interessiert ist, kann auch nicht über die Widersprüche »innerhalb der Klasse« hinweggehen – es macht einen beträchtlichen Unterschied, ob jemand im öffentlichen Sektor arbeitet oder in einem exportorientierten Gewerbe. Man muss sich nur die bisweilen konkurrierende Politik der Einzelorganisationen unter dem Dach des DGB anschauen.

Es wird zweitens zu wenig selbstkritisch über die herrschenden Bedingungen von (nationalstaatlich begrenzter) Politik gesprochen. Die Grenzen linksreformerischen Handelns werden nicht offen politisiert – wer sind denn die »Gegner« eines radikalen Umsteuerns, welche institutionellen Barrieren sind in einer Legislatur gar nicht überwindbar, was hängt an der EU und welchen mühseligen Weg müsste man gehen, um in Brüssel erst die Kräfteverhältnisse und dann auch die Politik zu ändern? In einer Zeit, in der viele Menschen das »Establishment« mit Argwohn beäugen, mag es sogar mit deren Erfahrungen viel eher kompatibel sein, statt Schlagwörter aus dem Politmarketing in den Raum zu werfen auch einmal Selbstzweifel und Ratlosigkeit zu bekunden.

Wolfgang Fritz Haug hat 2005 mit Blick auf das Ende der damaligen Schröder-Koalition angemerkt, »Rot-Grün war die deutsche Linksregierung unterm Neoliberalismus. Eine andere steht vorläufig noch in den Sternen, und was mit Aussicht auf Erfolg anders gemacht werden könnte, nicht weniger« (Das Argument 262). Wenn nun über die Option Rot-Rot-Grün auf Bundesebene zu Beginn des Jahres 2017 diskutiert wird – wie würde heute die Antwort ausfallen? Es reicht ja nicht, den durchaus ansehnlichen Katalog der inhaltlichen Übereinstimmungen zwischen den Parteien hochzuhalten. Die Leute wollen heute auch hören – und das ist auch eine Folge von sich links nennender Regierungspolitik der vergangenen Jahre –, warum es denn ausgerechnet dieses Mal wirklich anders und nun ganz bestimmt besser werden sollte. Ihre Erfahrung mit Mitte-links, mit Politik überhaupt spricht dagegen.

Dazu ein Blick in die USA: Kurz nach der Wahl von Donald Trump wurde an eine Rede des scheidenden demokratischen Vizepräsidenten Joe Biden erinnert, die dieser Anfang 2016 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gehalten hatte. Er zählte seinerzeit vor den Mächtigen dieser Welt einen Katalog mit Forderungen auf, die von heute aus betrachtet wie eine Lehre aus Trumps Wahlsieg klingt: mehr Investitionen in Bildung, bessere Sozialsysteme, Modernisierung der Infrastruktur, gerechtere Steuersysteme sowie einfacherer Zugang zu Kapital für Investitionen in kleineren Firmen.

Natürlich fragt man sich, warum hat der Mann nur solche Reden gehalten, warum hat es die Obama-Administration nicht auch umgesetzt? In der linken Diskussion vernimmt man als Antwort darauf meist ein wissendes Raunen: Ist doch klar. Ist es? Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis kam nach der US-Wahl über eine moralische Kritik auch nicht hinaus: Obama sei schwach gegenüber Gegnern wie der Wall Street gewesen, obwohl er die Chance gehabt hätte, einen New Deal ähnlich dem von Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren aufzulegen. Warum hat er das nicht getan? Varoufakis’ Antwort: Obama wollte eben Mitglied des Establishments werden statt es herauszufordern.

Man kennt die Entsprechung hierzulande: »Den Politikern« gehe es ja doch nur um Posten, vor allem den sozialdemokratischen. Die »blinken links« und biegen dann rechts ab. So etwas macht sich bestimmt auf Marktplätzen gut, umgeht aber eine entscheidende Frage: Könnte es sein, dass sozialdemokratische Politik unter Bedingungen eines globalen Kapitalismus, der verschärften Konkurrenz, der Sogwirkungen transnationaler und im Sinne von Profit, Wettbewerb etc. existierender (und meist nicht so leicht veränderbarer) Regeln und nicht zuletzt der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung immer weniger möglich ist? Und was heißt das für die Politik der kommenden Jahre?

Unter »Sozialdemokratie« sollte dabei nicht nur die gleichnamige Partei verstanden werden. Im Grunde agieren auch DIE LINKE und DIE GRÜNEN, historisch gesehen beide ohnehin »Fleisch vom Fleische der Sozialdemokratie«, in derselben Matrix. Das gleiche trifft auf viele andere Akteure zu – von der zivilgesellschaftlichen Plattform Campact über das linksradikale Netzwerk Blockupy bis hin zur europäischen Demokratiebewegung DiEM25.

Sie alle bewegen sich (trotz unterschiedlicher längerfristiger Zielvorstellungen) derzeit in einem gemeinsamen Handlungsrahmen: Es geht um demokratische Veränderung von unten nach oben (parteipolitisch-parlamentarisch, betrieblich-gewerkschaftlich, zivilgesellschaftlich), die zu (staatlichen, grundrechteorientierten, solidarischen) Regelungen führen soll, mit der die aus der Verfügung über Eigentum und Kapital resultierende Macht mindestens begrenzt wird, damit der gesellschaftlich produzierte Reichtum auch besser, das heißt »vernünftiger« gesellschaftlich genutzt werden kann. Es geht grosso modo zunächst darum, den globalen, finanzmarktgetriebenen Kapitalismus sozial und ökologisch (wieder) so einzuhegen, dass die bestehende demokratische Substanz verteidigt werden kann – es geht aber zugleich auch um eine auf die Zukunft bezogene Möglichkeit: mit radikaler Realpolitik einen utopischen Überschuss »zu erwirtschaften«, also die Verbesserung im Hier und Heute immer auch als Beitrag zur Veränderung im Großen und Ganzen anzugehen.

Warum aber gelingt das nicht oder nicht mehr so wie noch vor einigen Jahrzehnten? Ökonomisch scheint jene Phase schon länger vorbei, in der ausreichendes Wachstum eine entsprechende wohlfahrtsstaatliche Verteilung ermöglichte. Damit muss sich Rot-Rot-Grün auseinandersetzen: mit säkularer Stagnation, den verteilungspolitischen Folgen der Finanzialisierung und eines Konsums durch Verschuldung, mit stagnierenden Löhnen in den »westlichen« Ländern und der im Weltmaßstab trotz technologischer Revolution niedrigen Produktivität. Was bedeutet all das für die Handlungsspielräume und Richtungsentscheidungen in der sozialdemokratischen Matrix?

Niemand erwartet von Rot-Rot-Grün eine Revolutionierung des politischen Betriebs. Was man aber verlangen kann, ist eine Diskussion »auf der Höhe der Zeit«, wie es Thomas Oppermann selbst formuliert hat. Auf ein solches Niveau gelangt man allerdings nicht mit gegenseitigen Vorhaltungen, personellen Tabuisierungen und dem Aufsagen von Bedingungen. Man muss schon ein weit schwierigeres Geschäft betreiben: das der ehrlichen, selbstkritischen Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen.

 

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