Jetzt hat sich das Bildungsblatt digital gewendet und diese Wende wurde von der klassischen politischen Bildung verschlafen. Große Teile der Jugend wenden sich von der Demokratie ab und entwickeln sich zu Autokratiefans der AfD, die frühzeitig bemerkt hat, dass um die Zukunft der Demokratie digital gespielt wird – und dieses Spiel beherrschen die Rechtsextremisten.
Die neuen Wilden der AfD sind schnell, sie gießen ihre antidemokratischen (»Bildungs«-)Fake-News nicht in seriöse Fachartikel oder Bildungsveranstaltungen, sondern in 20-Sekunden Reels, die sie der nachwachsenden Generationen altersgerecht und unterhaltsam millionenfach um die Ohren hauen. »Nicht unser Niveau« sagte mir ein Bildungsexperte und das versinnbildlicht seine ignorante Haltung, die als Konsequenz den AfD-Vereinfachern das digitale Bildungsspielfeld überlässt. »Komm mir nicht mit TikTok« ergänzte mir gegenüber ein anderer geschätzter Bildungskollege, »das ist doch Kinderkram.«
TikTok ist kein Kinderkram
Er irrt sich: TikTok ist kein Kinderkram, sondern ist wie ein gefährlicher rechtspopulistischer Umerziehungs-Kindergarten. Die kurzen Online-Beiträge zur politischen Rechtsextremismus-Bildung sind flach, unterhaltsam, abwechslungsreich, provokant, modern, zeitgemäß, spannend, aufregend. Man kann sich als Jugendlicher (und auch als Erwachsener) darin komplett verlieren, die Zeit rast vorbei und es ist alles schön bunt und laut, Party Time! Insofern verstehe ich die Aversion der politisch Gebildeten gegen soziale Medien wie TikTok. Nur sie haben diesem digitalen AfD-Erfolgsmodell nichts entgegenzusetzen. Das ist ein krasses Versagen und ein Riesenfehler, denn TikTok erreicht diejenigen, die unsere demokratische Zukunft gestalten werden: unsere Jugend. Mit Erfolg für die Rechtsextremen, denn die Jugend wählt in großen Teilen AfD und verschiebt ihr politisches Standing damit von rot-grün zu blau. Jugend gleich links? Das war einmal.
Geschieht das bei der Jugend aus Überzeugung? Ja, denn Wohnungsnot, Wirtschaftskrise und konflikthafte Erfahrungen mit männlichen jugendlichen Migranten – über die stellvertretend auch Landwirtschaftsminister Cem Özdemir und der damalige SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert klagten – prägen bei vielen ihren Erfahrungshintergrund; und das nach den einschränkenden Quarantänezwängen der Pandemie. Diese Problemlagen signalisieren der Jugend eines: die etablierten Parteien haben versagt. Da muss etwas Neues her, so das weitverbreitete Gefühl.
Ein zweiter wichtiger Grund für diesen überfallartigen Wechsel ins blaue Lager liegt im Zauber der digitalen Skalierung, also der Möglichkeit im Netz – auch als kleiner blauer Player – exorbitant zu wachsen. Faktisch drückt sich das in der täglichen massenhaften Begegnung mit Politiker_innen der AfD in den sozialen Medien aus. Sie sind die Shootingstars, sie sind mega präsent, sie sind die neue »Normalität« für die Jungen, denn sie sind überall und das mit Leidenschaft und nicht im Schnarchmodus eines Kanzlers, der mal einen digitalen Einblick in seine Aktentasche gibt mit dem Hinweis »darin seien Akten«. Der Kanzler, mit den Milliardenbudgets, fährt – wie viele von uns – in der digitalen Postkutsche, die AfD fliegt im Space X von Elon Musk davon. Was meinen Sie, wer hier schneller zum Ziel kommt?
»Der Kanzler fährt in der digitalen Postkutsche, die AfD fliegt im Space X von Elon Musk.«
Sie glauben mir nicht? Liebe Leser_innen, starten Sie – so wie ich – den blauen Selbstversuch auf TikTok, der dominierenden infantilen Plattform mit ihren abwechslungsreichen Reels. Die AfD-Beiträge sind Hingucker und häufig auf den ersten Blick nicht als blaue Meinungsmache zu erkennen. Sie prangern Unzulänglichkeiten der Demokratie an, die es natürlich massenhaft gibt, überzeichnen sie und gießen sie in fesselnde 20-Sekunden Kommentare.
»Rechtsextreme politische Bildung funktioniert.«
So weit so gut. Aber was jetzt folgt ist spektakulär: Sie werden, liebe Leser_innen innerhalb weniger Tage mit politischer AfD-»Bildung« zugeschüttet, immer noch abwechslungsreich, provozierend, man kann lachen und sich ärgern (über die Altparteien) und man fragt sich, wieso die Altparteien überhaupt noch jemand wählt. TikTok wurde in meinem Selbstversuch ruckzuck zum dominierenden AfD-Propaganda- und »Bildungs«-Kanal. AfD-Sprech wurde zur Selbstverständlichkeit, ganz normal, als wenn alle Jugendlichen so ticken würden, oder?
Die Antwort ist für die seriöse politische Bildung ernüchternd: ja, so ticken extrem viele, die auf TikTok unterwegs sind und das sind fast alle Jugendlichen und sie tun es stundenlang. Die, die sich dabei (versehentlich) drei AfD-Reels reingezogen haben, werden vom blauen Tsunami überrollt, weil der Algorithmus sie mit einer Unmenge an AfD-Reels zumüllt. Wieder stundenlang, wenn man möchte. Ein Alptraum für alle Bildungsprofils: Große Teile unserer Jugend ziehen sich stundenlanges rechtsextremes Denken rein. Täglich. Sie gehen uns verloren. Rechtsextreme politische Bildung funktioniert. Sie hat einen Hype.
Was daraus folgt
Wenn es die politische Bildung nicht schafft, ihre analoge Arbeit ins Digitale zu verschieben und massenhaft launige demokratische Reels zu produzieren und dagegenzusetzen, dann wird die politische Bildung zukünftig immer rechtsradikaler dominiert werden. Die AfD-Fans werden ihren derzeitig großen Vorsprung weiter ausbauen. Die spielen dann Champions-League und wir Demokraten eiern wie der HSV in der zweiten Liga hinterher. Keine Chance, das verlieren wir. Bye, bye Demokratie!
Ein von mir sehr geschätzter Bildungsmensch widersprach dieser Digitalthese. Er sagte, durch den persönlichen Austausch könne man viel mehr erreichen. Da mag er inhaltlich und auf der Beziehungsebene recht haben. In seinem Seminarraum saßen 23 Bildungshungrige.
Jedes Reel der Rechtsradikalen erreicht 50.000 bis eine Millionen »Bildungshungrige« täglich und zwar mehrfach täglich, denn digital wird ohne Unterlass 24/7 abgefeuert.
Lassen Sie sich dieses ungleiche Machtverhältnis auf der Zunge zergehen, das uns als Bildungsverlierer ausweist. Und dann investieren Sie bitte in die digitale Bildung mit spannenden Reels, die uns fesseln, bei denen wir lachen, uns begeistern und uns über die antidemokratischen Blauen empören können. Gebt digital contra, kommuniziert konfrontativ gegen die Demokratiefeinde und vor allem täglich und massenhaft!
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