Was politische Bildung nicht ist
Wer auf Menschen zugeht, um deren als problematisch eingeschätzte politische Einstellungen beseitigen zu wollen, muss sich über deren Verweigerung nicht wundern. Gleiches gilt auch für die Idee der Werteerziehung. Was sollen in einer pluralistischen Gesellschaften die Werte sein, zu denen erzogen werden soll? Wer legt die Maßstäbe fest und warum erscheinen diese unhinterfragbar? Sehr viel individuumszentrierter und »politischer« ist die Orientierung an der Menschenrechtsbildung und dem Eröffnen von »Rechten auf…«. Die Indienstnahme der politischen Bildung für Präventionsstrategien schadet ihr nachhaltig, weil so deren Glaubwürdigkeit verspielt wird.
Beteiligungsprojekte schließlich, die keine substanziellen Veränderungen bewirken, sind keine. Politische Bildung ist mehr als die nett gemeinte Erfahrung, gefragt worden zu sein. Erst die Reflexion von Beteiligungsprojekten – gelungene und gescheiterte gleichermaßen – kann Bildungsprozesse ermöglichen und so zum Transfer auf die gesamtgesellschaftliche und politische Ebene beitragen. Auch dem oft beschworenen Spillover-Effekt von sozialem Engagement zur politischen Teilhabe fehlt bis heute der empirische Nachweis.
Die an den Menschenrechten orientierte Antidiskriminierungspolitik ist eine wichtige Voraussetzung für die gleichberechtigte politische Teilhabe aller. Antidiskriminierung ist aber weder aktive Teilhabepolitik noch politische Bildung. Im Gegenteil, wenn das Spannungsverhältnis zwischen (politischer) Gleichheit und Anerkennung von Differenz nicht reflektiert wird, besteht die Gefahr, gerade in jene identitätspolitischen Argumentationsmuster zu verfallen, die autoritäre Politikangebote stärken.
Was ist dann aber politische Bildung?
Politische Bildung ist eine Einladung, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen, die eigenen Interessen zu klären, zu formulieren und gemeinsam mit anderen in die politischen Aushandlungsprozesse einzubringen. Politische Bildung zielt auf politische Mündigkeit, auf kritische Urteils- und Handlungsfähigkeit. Daher kann sie »nur« eine Lernbegleiterin sein, die ansetzend an den eigenen Erfahrungen und Interessen, den Menschen ein offenes Angebot macht. Politische Bildung ist der Prozess der individuellen Auseinandersetzung mit der Welt. Dieser Prozess ist nie zu Ende. Was wir tun können und müssen, ist Anregung zu geben. Politische Bildung schafft Zeiten und Räume für Lerngelegenheiten. Sie regt an, sie unterstützt und sie stellt zur Verfügung. Diese Offenheit und Freiheit steht im eklatanten Widerspruch zu jeglichen Versuchen politischer Steuerung und mag verunsichern und irritieren. Aber nur so kann sie als ein »erfolgreiches Instrument« in einer offenen Gesellschaft und für eine offene Gesellschaft wirksam werden.
Menschen haben ein Recht auf politische Bildung.
Dabei muss politische Bildung auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren und gleichzeitig der Versuchung widerstehen, ad hoc aktuelle Moden und politische Erwartungen bedienen zu müssen. Die Liste zur Weiterentwicklung der politischen Bildung im letzten Jahrzehnt ist angesichts des Tempos des gesellschaftlichen Wandels lang.
Drei Entwicklungen in der politischen Bildung des letzten Jahrzehnts haben es verdient, hervorgehoben und verstärkt zu werden:
Erstens: In zunehmendem Maße wird die moderne Menschenrechtsentwicklung (z. B. UN-Behindertenrechtskonvention) aufgegriffen und für Konzepte der politischen Bildung innovativ fruchtbar gemacht. Eng mit der Menschenrechtsentwicklung verbunden ist die Vorstellung, dass Menschen ein Recht auf politische Bildung haben und zwar von Anfang an. Lange standen Angebote der politischen Bildung mit Kindern unter adultistischem Generalverdacht und wurden tabuisiert. Dabei sind Kinder nicht nur durch die aktuelle Medienentwicklung mit gesellschaftspolitischen Fragen konfrontiert und haben Fragen, auf die sie altersgerechte Antworten erwarten.
Zweitens: Die soziale Ungleichheit politischer Teilhaben betrifft auch die politische Bildung. Die schulischen Strukturen politischer Bildung sind jenseits des Gymnasiums deutlich schlechter aufgestellt. Außerschulische Angebote einer aufsuchenden politischen Bildung müssen offensiv und emphatisch auf diejenigen Menschen zugehen, die zurecht den Eindruck haben, dass ihre Alltagsinteressen im politischen Betrieb immer weniger Berücksichtigung finden. Gemeinsam werden Ansätze entwickelt, um dem mit neuen Zugängen etwas entgegenzusetzen.
Drittens: Politische Bildung wirkt, nicht nur biografisch, sondern auch berufsbiografisch, aber: Forschung zur langfristigen Wirkung von politischer Bildung findet selten einen Finanzier – außer als Programmevaluation im Feld der Präventionserwartungen. Daher wissen wir darüber viel zu wenig.
Entwicklungsaufgaben
So wichtig das »Dagegenhalten« in den sozialen Medien ist, damit Hass, Hetze und Fake News nicht unwidersprochen bleiben, als Strategie alleine greifen sie zu kurz. Politische Bildung kann so immer nur den neuesten Trends hinterherargumentieren. Was umfänglich benötigt wird, sind Angebote zur Stärkung des eigenen kompetenten Umgangs mit Medien insgesamt. Konzepte hierzu sind durchaus vorhanden, wer aber stellt dafür die Ressourcen zur Verfügung? Und schließlich kann die politische Bildung nicht kompensieren, was von politischer und ökonomischer Seite an mangelnden demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen im Netz hinterlassen wird. Aber die Kommerzialisierung von politischer Kommunikation und Meinungsbildung gehört auf die politische Agenda und kann nicht auf die pädagogische abgeschoben werden.
Politische Bildung kann mangelnde demokratische Strukturen im Netz nicht kompensieren.
Und inzwischen tritt der »intellektuelle Rechtsextremismus« selbst als Akteur politischer Bildung auf und erwartet künftig eine erhebliche finanzielle Ausstattung über die staatliche Finanzierung der parteinahen Stiftungen. Die politische Bildung ist ebenso wie die demokratische Politik zur Selbstreflexion aufgerufen. Nur die kritische Auseinandersetzung mit den Übergängen zu autoritären Strategien schützt vor der Vereinnahmung.
Politische Bildung wird nur dann umfänglich Wirkung entfalten, wenn sie schon da ist, bevor Politik nach ihr ruft. Dies wird nur gelingen, wenn eine Verankerung der politischen Bildung als pädagogisches Prinzip im Alltag vieler pädagogischer Disziplinen (und darüber hinaus) gelingt, z. B. in (Sport)Vereinen, an den Universitäten, bei der sozialen Arbeit, in der Kita usw. Dies setzt eine entsprechende Professionalisierung des (nicht nur pädagogischen) Personals voraus.
Was definitiv nicht hilft
Die Liste der Wortkompositionen mit Demokratie wird ständig länger, »Politik« als Begriff dagegen vermieden. Wer Demokratie so unreflektiert derart als das Gute, Wahre und Harmonische beschwört, muss sich über den Überdruss bei den Menschen nicht wundern. Demokratie muss verstanden werden als die auch konflikthafte Aushandlung von machtvollen und kontroversen Interessen. Dass dies allerdings friedlich und nach rechtsstaatlichen Prinzipien erfolgt, scheint in Zeiten des Rechtspopulismus ein besonderes »Lernziel« zu sein. Wir sollten aber dringend aufhören, die Demokratie ähnlich zu überfordern wie die politische Bildung. Nur so können beide ihre bedeutsame Wirkung entfalten.
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