Menü

©
picture alliance / Zoonar | Toni Rantala

»Hat uns die Identitätsdebatte weitergebracht?«

Dabei ist die Zündschnur der Kritiker:innen recht kurz. Ein Beispiel: Wenn sie sich ihre Dreadlocks abschneiden würde, könne sie gerne auftreten, hieß es etwa in der Ausladung der Musikerin Ronja Maltzahn, die bei einer Fridays-for-Future-Demonstration in Hannover auftreten sollte. Dreads seien ein Fall von »Cultural Appropriation«, also von ausbeuterischer Aneignung kultureller Codes, »ohne die systematische Unterdrückung dahinter zu erleben«, so die Erklärung.

Mehr als diese Absage hat es nicht gebraucht, um die jüngste Empörungswelle auszulösen, die quer durchs deutschsprachige Feuilleton brandete. Es war bekanntlich nicht das erste Aufbrausen gegen »Cancel Culture« und Identitätspolitik, bei dem in immer kürzeren Abständen aufgeregt vor »US-amerikanischen Verhältnissen« gewarnt wird, die auch das linksliberale Medienspektrum heraufdräuen sieht. Während sich rechtsreaktionärer Spott in solchen Fällen im Wesentlichen auf die Formel »Wo kommen wir denn da hin? Darf ich jetzt auch keine Pizza und kein Yoga mehr machen?« bringen lässt, lautet der linke Einwurf im Kern: »Können wir uns bitte mit den brennenden Problemen beschäftigen und endlich echte linke Politik machen, statt bloße Symbolpolitik zu betreiben?«

In diesem konkreten Fall ist die Kritik: Durch das Anbiedern an »Wokistan« habe Fridays for Future sich und seine klimapolitische Radikalität diskreditiert. Doch was genau hat den Imageschaden wirklich verursacht? Die übereifrige und zweifellos kritikwürdige Aktion einer kleinen Ortsgruppe, von der kein Mensch Notiz genommen hätte, wäre es nicht zu dieser schrillen Skandalisierung gekommen? Viel eher war es doch der völlig unverhältnismäßige Aufschrei, der sich wie immer das dankbarste Opfer sucht, um dem eigenen Ärger über eine vermeintlich völlig aus dem Ruder gelaufene Identitätspolitik Luft zu machen. (Vor zehn Jahren hieß der Kampfbegriff übrigens noch »Political Correctness«, die Empörung darüber war dieselbe.)

Wer sich wirklich Sorgen um das Standing linker Politik macht – wozu es wirklich genug andere gute Gründe gibt! –, der:die drischt nicht unentwegt auf zur Karikatur entstellte Pappkameraden ein. Nur um sich ja nicht mit dem grundvernünftigen Kern der Kritik auseinandersetzen zu müssen, den das Gros aller emanzipatorischen Bewegungen formuliert. Denn auch wenn es selbstverständlich immer wieder empörende Entgleisungen gibt: Dem überwiegenden Teil des als Identitätspolitik diffamierten Aktivismus, sei es Black Lives Matter, feministische oder queere Bewegungen, geht es um ein Verbinden von Klassen-, Klima- und Gleichstellungspolitik.

Dieses Verbinden beherzigt, was seit dem berühmten Satz der US-amerikanischen Schriftstellerin und Aktivistin Audre Lorde eigentlich ein Gemeinplatz sein sollte: »There is no such thing as a single-issue struggle, because we do not lead single-issue lives«. Es war deshalb wohl auch nicht zufällig das Combahee River Collective, das den Begriff Identitätspolitik 1977 geprägt hat. Dieses Kollektiv schwarzer, lesbischer Frauen hatte sich in einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezieht, nicht wiedergefunden. Dessen Lebensrealität entsprach nicht ihrer Lebenssituation und nicht ihren Ausbeutungserfahrungen. Ihr Kampf gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte ließ sich von dem für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit nicht trennen.

Wie der politische Kampf des Combahee River Collectives richteten sich deshalb zum Beispiel feministische, und damit identitätspolitische Bewegungen zu allen Zeiten auch gegen weibliche Armut und formulierten eine elaborierte Ökonomiekritik, mit der sie unter anderem die Anerkennung von Reproduktionsarbeit sowie eine radikale Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit forderten. Und anders als rechte Identitätspolitik, der es um die Sicherung von Privilegien und die Exklusion von Minderheiten geht, kämpft linke Identitätspolitik nicht für unsolidarischen Separatismus und Partikularismus, wie so oft behauptet wird, sondern für Partizipation, Inklusion und Solidarität.

Doch die Stimmen, die einen Antagonismus zwischen Klassen- und Kulturkampf heraufbeschwören und stattdessen die Rückkehr zum »single-issue struggle« fordern, werden immer lauter. (Früher war vom »Hauptwiderspruch« die Rede, woran sich vor allem Feministinnen erinnern sollten.) Die Stimmen gehören Francis Fukuyama, Zygmunt Bauman, Nancy Fraser oder Mark Lilla, der fordert, linke Politik müsse sich wieder Anliegen widmen, die »einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen«.

Insbesondere die »liberalen Eliten« und der von ihnen verfochtene »progressive Neoliberalismus«, von dem Nancy Fraser spricht, hätten für eine nun von rechts besetzte »Repräsentationslücke« gesorgt, argumentieren auch Autor:innen wie Cornelia Koppetsch. Ins selbe Horn bläst auch Sahra Wagenknecht mit ihrem Buch Die Selbstgerechten, in der sie mit den »Lifestyle-Linken« und ihren Luxusproblemen abrechnet (es sei hier aber auch daran erinnert, dass dazu vor Kurzem auch noch Klimapolitik gehörte). An Wagenknechts Position lässt sich gut verdeutlichen, dass diese Haltung nicht nur moralisch, sondern auch politstrategisch falsch ist. Wer rassistische und nationalistische Ressentiments bedient, wie Wagenknecht das tut, der etabliert keine wählbare, neue Linke, sondern macht eben gar keine linke Politik mehr. Und wer sich auf eine Klassenpolitik kapriziert, die migrantisierte und marginalisierte Menschen ausschließt und ihre Anliegen zu skurrilem Firlefanz erklärt, hat keine politische Zukunft – das steht zumindest zu hoffen.

Denn dieser irrigen Entgegensetzung von Klassen- und Identitätspolitik liegt ein hoffnungslos veraltetes Bild des proletarischen Subjekts zugrunde. Selbst wenn, wie so oft, unbezahlte Haus- und Familienarbeit ausgeblendet wird, besteht »das Proletariat« eben nicht nur aus dem Industriearbeiter, dessen Vorfahren schon unter Kaiser Wilhelm in Deutschland lebten, sondern zu einem sehr großen Teil aus prekarisierten Pfleger:innen, scheinselbstständigen Zusteller:innen und informellen Dienstleister:innen, darunter überproportional viele Menschen mit Migrationsbiografien. Caroline Criado-Perez veranschaulicht diese Größenordnungen in ihrer Studie Unsichtbare Frauen für die USA: »Dem US-Bureau of Labor Statistics zufolge stellt die Kohleindustrie, die im Wahljahr 2016 zum Inbegriff der (implizit männlichen) Arbeiterjobs wurde, insgesamt 53.420 Stellen mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 59.380 Dollar. Zum Vergleich: Die 924.640 mehrheitlich weiblichen Reinigungskräfte und Haushälterinnen verdienen im Durchschnitt jährlich 21.820 Dollar. Wer ist also die wahre Arbeiterklasse?«, fragt Criado-Perez.

Die links- und rechtspopulistische Kritik an Identitätspolitik krankt aber nicht nur an der antiquierten Vorstellung eines homogenen, weißen Industrie- und Produktionsproletariats. Sie verkürzt Wahlmotive auch auf ökonomische Prekarisierung beziehungsweise führt sie auf eine kosmopolitische Elitenpolitik zurück, die von sogenannten bildungsfernen Schichten als moralisch bevormundend erlebt würde. Sie übersieht dabei geflissentlich, dass auch Rassismus und Sexismus zentrale Wahlmotive sein können.

Rassistische und sexistische Denk- und Diskursmuster sind jedoch uralte und kulturgeschichtlich tief verwurzelte Probleme und keine bloßen Sekundärphänomene, die bei bestimmten Bevölkerungsgruppen erst durch Deklassierung, soziale Not und eigene klassistische Diskriminierungserfahrungen auftauchen, wie das von linkspopulistischer Politik à la Wagenknecht gerne behauptet wird. Entsprechend müssen sie auch als eigenständige Probleme ernstgenommen und entschlossen adressiert werden – und nicht nur als die vielbeschworenen »Ängste und Sorgen der einfachen Leute«.

An der mühevollen, aber auf lange Sicht lohnenden politischen Arbeit, bei der intersektionale Interessenskonflikte verhandelt werden, statt die Probleme bestimmter Menschen zu priorisieren, während andere bagatellisiert werden, führt kein Weg vorbei. Diese politische Arbeit darf Differenzen nicht leugnen, sondern muss sie als Bedingung der Möglichkeit für Solidarität bejahen. Einer Solidarität, die auf Unterschieden basiert und die eben nicht in der Parteinahme für die Gleichen und Ähnlichen besteht, sondern darin, sich mit Menschen zu solidarisieren, mit denen man gerade nicht den Beruf und den Lebensstil, die nationale Zugehörigkeit oder die geschlechtliche Zuschreibung teilt. Linke Politik gibt es nur mit dieser unbedingten Solidarität.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben