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© picture alliance / Westend61 | Oxana Guryanova

Hat uns die Identitätsdebatte weitergebracht?

Doch der Reihe nach. Kaum hatte die demokratische, die rechtsstaatlich verfasste Welt begriffen, dass das Russland Wladimir Putins tatsächlich sein Nachbarland Ukraine militärisch zu erobern suchte und als postsowjetischen, autonomen Staat auszulöschen begann, hieß es in den allpräsenten sozialen Medien, nun sei es mit dem identitätspolitischen Spuk vorbei. Endlich könne wieder über echte Politik geredet werden, über Krieg und Frieden, über ökonomische Zwänge und geostrategische Folgerungen.

Nicht mehr also zum Beispiel über die Integration von Minderheiten ins gesellschaftliche Ganze. Es waren nicht nur hartleibige, konservative Stimmen, die im Meer der Tweets und Postings äußerten, mit dem Reden über Unnötiges wie Teilhabe am öffentlichen Stimmengewirr aufzuhören, sondern auch linke: Identitätspolitik, dieses zähe Ringen um Anerkennung und Repräsentation von Minderheiten, dieses zur Kenntnis Nehmen von Menschen, die der weißen, heterosexuellen Mann/Frau-Systematik nicht entsprechen, die sei an ihr Ende gekommen.

Dieser Befund, mehr Hoffnung als Diagnose, verkennt, was sich im vergangenen halben Jahrhundert nicht nur in Deutschland als neue soziale Realität herausgebildet hat – und diese wird nicht einfach durch eine Renaissance des öffentlichen Diskurses um Krieg und Frieden und wie das nach wie vor militärdesinteressierte Deutschland mit ihm umzugehen habe, revidiert. Deutschland erntet seit Jahren die späten Früchte der Zuwanderung seit den frühen 60er Jahren und des Aufbruchs der 68er. Die Bundesrepublik hätte es viele Jahre eher begreifen können und müssen: Unser Land ist ein multikulturelles, eines, das unentwegt mit Einwanderung politisch wie sozial umzugehen hat, es ist divers gehalten, es ist kein kulturell und in der politischen Repräsentation monochromes Gefüge.

Mit diesem hegemonialen Setting gebrochen zu haben, ist ein Verdienst dieser von vielen klassischen Linken geschmähten Identitätspolitik, aber nicht ihr alleiniges, vielleicht nicht einmal in erster Linie ihr Verdienst. Alle neuen sozialen Bewegungen seit den frühen 70ern – sei es die feministische oder die der Schwulen und Lesben – verwiesen auf Ungleichberechtigungen, auf politisch missliebige Strukturen, die Frauen, Homosexuelle, nichtweiße Menschen, Behinderte, Sintezze und Romnja und so weiter benachteiligen, herabsetzen, diskreditieren.

Nicht der geringste Gewinn all dieser Bewegungen war, ist und bleibt, dass es moralisch unwürdig geworden ist, hässlich und entwertend über Angehörige von Minderheiten zu sprechen. Auch misogyne, also frauenfeindliche Zoten oder miese Bemerkungen stehen nicht nur in der Kritik. Die Äußernden haben sich zu rechtfertigen und zu entschuldigen und nicht wie früher üblich die Diskreditierten zu schweigen beziehungsweise sich zu fügen. Letzteres ist passé. Eine TV-Sendung des WDR, in der empört verhandelt wurde, dass man »Zigeunersoße« nicht mehr sagen dürfe, um auf diese böse »Cancel Culture« zu verweisen, geht auch nicht mehr, zumindest weil in dieser Sendung tatsächlich viele zu Wort kamen, nicht jedoch eine einzige Person der einst als »Zigeuner« diskriminierten Gruppe.

Mit der gar nicht mal so neuen Sprachkultur ist einiges gewonnen: Diese exzesshaft selbstzufriedene Art, über Minderheiten zu sprechen, nicht mit ihnen, ist nur noch als kurios zu bezeichnen. Dass damit kein gesellschaftliches Paradies ins Werk gesetzt ist, ist ebenso offenkundig.

Ein neues soziales Wahrnehmungsmuster per Dekret

Identitätspolitik war und ist jedoch deshalb kein Gewinn, weil die Sprachregelungen faktisch autoritär von oben in die verwaltungstechnischen und politischen Sphären eingebaut worden sind. Da gibt es Stadtverwaltungen, die das Gendersternchen als Marker in den Anreden vorschreiben; Universitätslehrende, die es als Manko verstehen, wenn einer ihrer Studierenden statt des Sternchens oder des Doppelpunkts die Nennung beider Geschlechtsformen bevorzugt, etwa in der Formel »Sehr geehrte Damen und Herren«. Da gibt es Menschen, die sich für Transmenschen und ihren diskriminierungsfreien Alltag einsetzen, aber bestreiten, dass die Biologie mehr als nur zwei Geschlechter kennt, und die nicht möchten, dass Frauen, die kürzlich noch biologisch männliche Wesen waren, als Frauen verstanden werden müssen. Auf das Wörtchen »müssen« kommt es hier an: Es wird ein neues soziales Wahrnehmungsmuster dekretiert, nicht vorgeschlagen und zur Verwendung anempfohlen.

Was Identitätspolitik letztlich aber zu einem politischen Feld der Absurdität gemacht hat, war nicht allein der autoritäre Modus, mit dem eine neue Sprachwirklichkeit angeordnet wird. Sondern dass alle Fragen auf Sprachliches, nicht auf soziale Wirklichkeiten fokussiert werden. Rassismus ist von Übel, immer, ja. Aber nicht alles, was als rassistisch, frauenfeindlich oder homophob verstanden werden könnte, verdient gleich Empörung und Protest im Namen des globalen Opfertums.

Inzwischen schaffen es mehr Nachkommen früher als »Gastarbeiter« verunglimpfter Zuwanderer als jemals zuvor qua Bildung in bessere Jobs und haben bessere Lebensperspektiven; mehr Frauen denn je sind erwerbstätig und lassen sich nicht in die Rolle der Hausfrau hineindrängen; Schwules und Lesbisches ist noch längst nicht überall und bei jeder Gelegenheit selbstverständlich und Teil neuer deutscher (»westlicher«, mitteleuropäischer) Normalität, aber im Vergleich mit den gesellschaftlichen Atmosphären vor einem halben Jahrhundert ist mehr als nur ein bisschen an Diversität und gelebter Vielfalt geschafft worden. Das kann kein Ruhekissen verfassungspatriotischer Selbstgewissheit sein, aber dies anzuerkennen gibt auch Auskunft über die Möglichkeiten, die es immer gab und weiter geben wird.

Denn das ist ja bei allen identitätspolitischen Diskursen der große Mangel: Das Wehklagen über fehlende Sagbarkeit und Repräsentation hatte stets eine Dimension des Gesellschaftlichen nicht im Blick – die womöglich gewichtigste, die der sozialen Gerechtigkeit und der Ausgrenzung aller, die nicht den publizistisch agilen Mittelschichten angehören. Nicht »Weiße«, nicht »weiße Männer mit Macht« sind automatisch für Missstände verantwortlich – und ihre Opfer alle Nichtweißen, rassistisch diskriminiert und absichtsvoll unten gehalten. So sagen es aber beinahe sämtliche identitätspolitischen Statements.

Wer aber über soziale Fragen nicht reden will, auch die von Weißen, macht mit Identitärem, und sei es von links, nur Politik für Besitzstandswahrung, für Neoliberale und weiße Konservative. Die politische Missachtung während der Coronapandemie gegenüber Menschen in Hochhaussiedlungen traf in der Tat vorwiegend Menschen, die über geringe soziale Chancen verfügen – aber dort leben eben auch weiße Menschen, die von den mittelschichtigen, woken, aufgeklärten, eingeweihten und karrierebewussten Zirkeln nicht wahrgenommen werden.

Es geht also meistens nicht um ethnische oder gar kulturelle Fragen, die der Identitätspolitik, sondern es geht um die Klassenfrage, die von Bildung und der Organisation von Chancengleichheit – und damit, um mit einer Chiffre von Kanzler Olaf Scholz zu sprechen, um »Respekt«. Die Historikerin Hedwig Richter erwähnte in einem Text, der auf das putinsche Bombardement der Ukraine reagierte, zu Recht auf den Umstand, dass Wladimir Putin nichts als eine Identitätspolitik von rechts inszeniere: ein ans Völkische reichendes Denken in ethnischen Kategorien, die sich wie »Russisch« buchstabieren. Nicht gemeint sind dieser Definition nach alle, die in dieses Bild nicht passen – und wenn sie sich nicht fügen, verdienen sie die militärische Heimsuchung.

Anders formuliert: Der kulturelle Unterschied zwischen der Ukraine und Russland mag kleiner sein als der zwischen Spaniern und Türken – aber der politische ist einer ums Ganze. Während in Russland Gesetze installiert wurden, die es verbieten, positiv über Homosexuelles zu sprechen, gibt es diese Strafandrohungen in der Ukraine nicht – an den Fronten agieren längst schwule und lesbische Soldaten und Soldatinnen, die für ihr Land und damit für ein europäisches Selbstverständnis kämpfen. Sie tun dies offen, ohne schamvolle Diskretion. Sie sind Teile einer universalistischen Idee ihres Staates und ihrer Gesellschaft – und damit ein werdender Teil des freien Europas. Dass die woken Kreise an Universitäten und in den Medien zu diesen Kämpfen noch nichts zu sagen wussten, spricht nicht für sie. Im Gegenteil.

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