Ich sehe was, was Du nicht siehst. Man kann das auch draußen spielen, unter Wolken, auf Wiesen und Feldern, im Wald und am Meer, in Dörfern und Städten. Ich sehe ein Bild, das Du nicht siehst. Ich höre Musik, die Du nicht hörst. Ich lese ein Gedicht, das Du nicht liest. Das ist noch kein Kunststück, aber eine Art Vorschule dafür. Wenn wir nur ein wenig genauer hinschauen, dann begegnen uns überall Zeichen, Buchstaben, Wörter, Sätze, die wir selbst verwandeln können – zum Beispiel in Literatur.
Literatur, so hat es einmal der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr formuliert, ist vor allem die Geste, sie dazu zu erklären. Wer lesen möchte, der muss etwas mit Liebe betrachten. Als sei es wertvoll und viel zu schade, um einfach daran vorbei oder darüber hinweg zu gehen. »Man kann auch«, schrieb der mit einem Zigarrenfabrikanten befreundete Hermann Hesse, »das ›Colorado maduro‹ auf einer Zigarrenkiste lesen, mit den Worten, Buchstaben und Anklängen spielen und dabei innerlich einen Gang durch alle hundert Reiche des Wissens, der Erinnerung und des Denkens tun.«
Leonardo da Vinci empfahl im 16. Jahrhundert die Flecken auf einer Mauer, die Asche eines Feuers und der Schlamm auf dem Boden anzuschauen, weil uns verworrene und verschwommene Dinge erfinderisch machten. Der Zen-Mönch und Dichter Matsuo Bashō reiste im 17. Jahrhundert auf
schmalen Pfaden durchs japanische Hinterland an uta-makuraa (›Gedichtkopfkissen‹) – landschaftlich besondere, schon von anderen bedichtete Orte wie eine kleine, auf einen Felsen gebaute Hütte: »Unwillkürlich kam mir der Vers, den ich auf einen Pfeiler geklebt, hinterließ: Kein Specht zerstört / mit seinem Klopfen diese Hütte – / im sommerlichen Baumschatten ...«.
»Wer lesen möchte, der mussetwas mit Liebe betrachten.«
Goethe hat sehr viel später, 1780, sechs Gedichtzeilen in einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn in Thüringen an die Holzwand geschrieben: »Über allen Gipfeln / Ist Ruh / In allen Wipfeln / Spürest Du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest Du auch.« Der Maler William Turner hat in Ausstellungen neben seinen Bildern eigene Gedichte platziert. In Landschaftsgärten im englischen Stil erinnern uns Epigramme, Inschriften an Brunnen, in Grotten, auf Gedenksteinen und Fassaden, an die literarisch-mythologische Dimensionen der Natur und an unsere Fähigkeit, das Gewöhnliche in der Welt durch die Kunst zu verklären.
Mit der konzentrierten literarischen Vertiefungstechnik schöner Orte finden wir unsere Individualität und gehen zugleich in dem auf, was wir tun: etwas unsere eigene Form geben. Diese Form ist künstlich, wiederholbar und damit unvergesslich. Die Wirklichkeit – der Raum, durch den wir uns dabei tatsächlich bewegen, die Welt, die uns umgibt und in der wir zum Beispiel über Dinge stolpern oder uns ein Bein brechen können – ist ein Reallabor für unsere Geistesgegenwart: Was alles kann Kunst werden? Was könnte poetisch, schön, berührend, eindrücklich, aufregend, verstörend, aber eben auch fassbar und damit auf ungefährliche Weise begreifbar sein?
Literatur als Fundsache
Einen Schritt weiter geht die Literatur, der wir überall auf der Welt in öffentlichen Räumen begegnen können. Sie wird von uns nicht erfunden, sondern nur gefunden. Sie fällt uns zu. Von der Seite, von oben oder unten. Steht oder hängt uns gegenüber. Regnet auf uns herab, spritzt uns an, klebt an uns oder leuchtet für uns. Wir können sie anfassen, an ihr riechen, sie auf der Zunge zergehen lassen oder ihr ein Ohr leihen. Über sie hinweg, an ihr vorbei oder durch sie hindurch gehen. Ihr hinterher schauen oder auf sie zu hüpfen. Sie erscheint an Hauswänden und Bussen, Treppen, Mauern, Laternenpfählen und Bäumen, auf T-Shirts, Tüten, Taschen, Kaffeetassen, Nachthemden, Stoffetiketten, Wollsocken, Litfaßsäulen, Parkbänken, Stühlen, Rasenflächen, Hausdächern und Pflastersteinen, unter Autorädern, in Schaufenstern, Zügen, Unterführungen, Galerien, Museen, Kaufhäusern, Cafés und wo und wie wir es uns sonst noch ausdenken mögen.
Wie wäre es zum Beispiel, hat uns Hans Magnus Enzensberger, der Erfinder unterschiedlichster öffentlich ausgestellter Poesieautomaten, 2006 als Frage aufgeben, »einen Text auf Zigarettenpapier zu drucken, der beim Rauchen verbrennt?« Oder: »Ein Fahrrad, in dessen Reifenprofil eine Losung geprägt ist, die sich auf dem weichen Boden eines Waldwegs abdrückt«. Oder: »Ein barockes Gedicht über die Vergänglichkeit, einem Stück Seife eingeprägt, das langsam verschwindet, wenn man sich damit wäscht … Und so weiter!«
»Wir haben die Fähigkeit, das Gewöhnliche durch die Kunst zu verklären.«
Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk eröffnete mit dem Museum der Unschuld 2012 in Istanbul ein ganzes Haus für seinen vier Jahre zuvor erschienenen gleichnamigen Roman. Im vergangenen Jahr sind in der Wanderausstellung Der Trost der Dinge Exponate aus diesem Museum mit Exponaten der Dresdner Kunstsammlungen und des Münchner Lenbachhauses in einen Dialog getreten. Museen können wie Romane, so Pamuk, die Geschichte einzelner Individuen erzählen, denn ihr »ganz besonderer Wert« liegt darin, »zu zeigen, in welchem Zusammenhang sich die Objekte zueinander befinden, wie sie sich auf Menschen und deren Gedanken und Sorgen beziehen.« Als »reales 3-D« hat der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge seine Ausstellungen (Pluriversum, Gärten der Kooperation) beschrieben, weil sie Texte, Bilder, Dinge und Filme mit unseren Schau-, Lese- und Körperbewegungen verknüpfen.
Außerhalb von Literaturinstitutionen wie Museen, Archiven, Bibliotheken und Literaturhäusern dominiert im öffentlichen Raum mit der Lyrik die kleinste der großen literarischen Formen. Auf den ersten Blick sind Gedichte Dinge für sich. Gerahmt, gefasst, verdichtet, widerständig, hartnäckig, konkret, skulptural, aber auch leicht, mobil, weich, wandelbar und vergänglich. Guerilla Poetry auf Zetteln wird vom Wind verweht. Raining Poetry wird erst sichtbar, wenn sie nass wird, und Protected Poetry, wenn die Sonne auf den Schirm scheint, der sie behütet. Seit 2017 erweckt eine App in Amsterdam ein mit bloßen Augen unsichtbares Poëzie Museum zum Leben. Der Architekt Peter Zumthor hat 1998/99 für die Stadt Bad Salzuflen dreizehn Landschaftspavillons für jeweils ein Gedicht entworfen, die bislang nur im Modellbau realisiert worden sind: Von außen betrachtet ist jedes Gedicht eine Landschaft, von innen ein Haus.
Literatur als Mittlerin zwischen uns und der Welt
Literatur im öffentlichen Raum ist immer eine Intervention. Sie tritt zwischen uns und die Welt. Meldet sich buchstäblich und handgreiflich zu Wort. Färbt den Raum mit ihren Farben. Stimmt ihn mit ihren Tönen. Lässt uns mitmischen, »Ich« sagen und »Ich« sein. Daher finden wir Literatur im öffentlichen Raum häufig an Nicht-Orten – an Orten, an denen wir Teil einer anonymen Masse oder einer unmenschlichen Vergangenheit sind. Seit 1986 gibt es in der Londoner U-Bahn Poems on the Underground, seit 1992 in New York Poetry in Motion, seit 2009 in Seoul Gedichte aus der Stadt. 2021 – im zweiten Jahr der Coronapandemie, wo Projekte im öffentlichen Raum eine Möglichkeit waren, Literaturveranstaltungen zu realisieren und zu honorieren – hat das niederrheinische Literaturhaus im Rahmen des Festivals Lyrik macht Stadt mitten in der Krefelder Fußgängerzone einen Pop-Up-Store eröffnet, die »Lyrikzentrale«. Im selben Jahr wurde in Köln eine Fußgängerunterführung mit dem Projekt TRANSIT – Vorübergehende Literatur am Ebertplatz zwischengenutzt.
2003 platzierte Robert Montgomery in London Words in the City at Night, um gegen den Irak-Krieg zu protestieren. 2014 entzündete er vor dem Louvre in Paris als Kritik an historischen Kriegsdenkmälern ein fire poem. Als 2013 in Istanbul zahlreiche Menschen gegen die Stadtbebauungspläne der Regierung auf den Straßen demonstrierten, entstand mit şiir sokakta (»Das Gedicht ist auf der Straße«) eine literarische Protestbewegung, die den Slogan der Pariser Studentenunruhen 1968 aufgegriffen hat: »La poésie est dans la rue«.
2001 warf das Kunstkollektiv Casagrande über dem Präsidentenpalast in Santiago de Chile aus sechs Flugzeugen 400.000 Lesezeichen mit Gedichten ab, um mit diesem Poesie-Regen an einen militärischen Gewaltakt zu erinnern, ohne seine traumatisierenden Dimensionen zu wiederholen. Weitere »Bombardeo de poemas« folgten an historisch aufgeladenen Orten in Dubrovnik, Guernica, Warschau, Berlin, London, Mailand und Madrid.
Von 2012 bis 2018 stand das 1953 erstmals veröffentlichte spanisches Gedicht avenidas von Eugen Gomringer an der Südfassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin. Für Gomringer war das Gedicht ein Beispiel dafür, wie sich Wörter zueinander verhalten und wechselweise in Bewegung bringen können (so wie die Dinge in Pamuks Museum der Unschuld). Für die Studierenden, die 2018 durchgesetzt haben, dass Gomringers Gedicht entfernt und durch ein Gedicht von Barbara Köhler ersetzt worden ist, reproduzierte es eine männliche Kunsttradition und erinnerte an die sexuelle Belästigung von Frauen. Eugen Gomringers Tochter Nora klebt seitdem Sticker mit dem Gedicht ihres Vaters weltweit an Wände und fotografiert sie. Schon 2014 ließ sie sich dessen Gedicht vokale auf ihren Unterarm tätowieren und hat Fotos davon in den sozialen Medien veröffentlich.
Ein Pakt mit der Literatur
Die Popsängerin Lady Gaga trägt seit 2009 auf ihrem Arm ein Tattoo mit einem Rilke-Zitat: »Prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?« Für sieben Euro und 27 Cent können wir selbst das Zitat aus Rilkes Briefen an einen jungen Dichter im Format fünf auf zwölf Zentimeter als »tattoo for a week« kaufen. Wenn wir es möchten, kann unser Körper eine Ausstellungsfläche für Literatur sein.
Doch noch einmal zurück zum Anfang. Unabhängig von ihrer individuellen künstlerischen, politischen und finanziellen Motivation erinnert uns Literatur, die uns in öffentlichen Räumen als Geschenk zufällt, weil sie aus der Bücherreihe tanzt, immer auch an den Zauber des ersten Sprechens und Schreibens: Etwas formulieren, in den Mund nehmen, auf der Zunge zergehen lassen, auf dem Papier festhalten und ihm staunend ein Eigenleben schenken. Vielleicht erinnert sie uns auch daran, dass wir einmal bereit waren, sprechenden Tieren in Wolken zu lauschen und an Nikolaus und Osterhase zu glauben, auch wenn wir ahnten, dass sie erfunden sind. Literatur im öffentlichen Raum zeigt uns schnell, wie schön es sein kann, einen Pakt mit ihr zu schließen – mit Fiktionen, die gerade keine Fake News sind, mit Wörtern und Sätzen, die zumindest einen Augenblick lang unsere eigene Welt verändern können, weil sie wunderbar vieldeutig sind.
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