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Heimat – eine gefährdete und gefährliche Utopie

»Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen.« Der Satz stammt von Theodor Fontane, der viel gereist ist und spät sesshaft wurde, der einige Jahre lang als Korrespondent einer Berliner Zeitung in England lebte und später mit seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg und mit seinem Roman Der Stechlin zum Chronisten seiner brandenburgischen Heimat wurde.

Was ist »Heimat«? Ist es das Dorf, die Stadt, das Land, wo man geboren, wo man in die Schule gegangen ist, die ersten Freundschaften geschlossen, die erste Liebe erlebt hat? Ist es überhaupt ein Ort, nur ein Ort? Wenn wir Heimat sagen, meinen wir gewöhnlich mehr als nur eine Ortsbestimmung.

»Die Erinnerung gehört dazu, die ins unterbewusste Gedächtnis eingebrannte Mischung aus Geschmack, Geruch, Geräuschen, der Duft von Bratwurst und Rotkohl auf dem Küchentisch, das grelle Gelächter der Möwen im Himmel, der Schrei der Bussarde, die hohen Wolken, die Luft, die nach salziger See riecht, nach Autoabgasen oder dem Morgennebel über herbstlichen Wiesen. Heimat ist Weißwurst und Weizenbier, der Dialekt der Kindheit, das Klopfen der Skatkarten auf dem Wirtshaustisch, die Lieblingsmusik der Eltern, das Gutenachtgebet, der Geruch von Lebkuchen und Weihnachtsbaum im Wohnzimmer und das Aroma der Sonntagsbrötchen.« Das alles, schreibt der Autor Peter Sandmeyer, ist uns vor allem dann schmerzlich und beglückend nah, wenn wir es uns aus großem zeitlichen oder räumlichen Abstand ins Bewusstsein rufen. Heimat ist Erinnerung, Traum- und Wunschgebilde, es ist das, was wir in unserem Hinterkopf mit uns führen, wenn wir auf Reisen gehen, wenn wir in die Welt hinausziehen oder in sie vertrieben werden. Oft gerät Heimat erst dann in den Fokus unseres Fühlens und Sehnens, wenn wir sie verloren haben.

»Heimweh« – das Wort ist so deutsch, dass Übersetzer oft große Schwierigkeiten haben, seinen vollen Gehalt, den damit verbundenen Kranz an Assoziationen, seine Gefühlsqualität, in anderen Sprachen wiederzugeben. Das Wort ist im deutschen Sprachraum vor allem durch einen in den Jahren 1794 bis 1796 veröffentlichten vierbändigen Roman des Schriftstellers und Universitätsprofessors Johann Heinrich Jung-Stilling etabliert worden. Jung-Stilling gibt dem Wort darin eine deutliche Spitze gegen die revolutionären und demokratischen Bestrebungen seiner Zeit: »Meine und aller rechtschaffenen Christen Empfindung in den gegenwärtigen Zeiten hat viel Ähnliches mit dem natürlichen Heimweh; man möchte sich fertigmachen und nach Hause reisen; denn wahrlich, es wird einem schwer, länger in diesem Lande der Fremdlingschaft auszuhalten, wo man alles dulden will und dulden soll, nur die Christen nicht; wo man wohl ungeneckt Christentum lästern, aber nicht frei mehr bekennen darf, und wo man Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zum Ziel hat, die Christen aber davon ausschließen will: sollte man da nicht das Heimweh im höchsten Grade bekommen?«

Seitdem hängt dem Begriff gerade in Deutschland auch immer ein Geruch von Bigotterie und reaktionärer Gesinnung an. Heimweh muss aber durchaus nicht Sehnsucht nach der vermeintlichen Idylle einer vormodernen Gläubigkeit sein. Der Schmerz wegen des Verlustes der Heimat, die Sehnsucht nach der vertrauten kleinen Welt der Kindheit und Jugend, die uns in der Fremde zuweilen überfällt, ist zudem, wie wir aus der Literatur wissen, durchaus kein deutsches Monopol. Nie ist die Heimat schöner und begehrenswerter, als wenn man sie verlassen hat. Ist sie aber auch das, wohin wir nach Jahren, nach Jahrzehnten, von Sehnsucht getrieben und doch voller Scheu, zurückkehren? Die Wiederbegegnung mit der Heimat enthüllt fast unvermeidlich den Anteil an Verklärung, der allzu oft mit der Entfernung von der Heimat wächst. Auch darum hält die Rückkehr in die Heimat lang nicht immer, was man sich davon versprach, als man noch in der Fremde weilte.

Landschaft ist Heimat,die Landschaft vor allem, in der man als Kind, als Jungendliche/r aufgewachsen ist. Sie hat sich uns eingeprägt, ist oft so sehr Teil unseres sozialen Selbst geworden, dass wir, wenn wir uns im Alter oder aus der Ferne an sie erinnern, mit ihr ein Zwiegespräch zu führen meinen.Taunasse Wiesen, glänzend in der Morgensonne, das schuppige Rot der Föhren, das winterfahle Gras an einer Böschung, wo ich mich im Schutz einer Schlehdornhecke in der Sonne wärme, ein stiller Fluss, das Wasser dunkelgrün unter tiefhängenden Ästen, die schwarzen Scherenschnitte der Eichenkronen gegen den Abendhimmel. So ist mir die Landschaft meiner Kindheit, das nördliche Niedersachsen, unauslöschlich als ein Stück Heimat in Erinnerung geblieben. Hermann Hesse beschreibt dieselbe Erfahrung in der Erzählung Peter Camenzind so: »Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem glänzenden See und den traurigen Föhren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.«

Wer Heimat sagt, hat meistens auch solche in der Kindheit aufgenommenen und im Alter sehnsüchtig erinnerten Landschaftsbilder im Sinn.

Sprache ist Heimat – das spüren am schmerzlichsten die Menschen, vor allem die Schriftsteller/innen, die ins Exil getrieben werden. Und sie wissen in der Regel auch, dass die Heimat nicht eine ungetrübte Idylle ist, denn es war doch die Heimat, der in den pathetischen Reden des Bürgermeisters und den Liedern des Heimatdichters gepriesene Diktator, der hasserfüllte Mob aus der Vorstadt, die schweigende Mehrheit im Villenviertel, die sie vertrieben. Man kann einsam am Schreibtisch, gefangen in den Flüchtlingsgesprächen (Bertolt Brecht) der Exilgemeinde, in seinen Tag- und Nachtträumen, im Selbstgespräch überleben. Für manchen aber bedeutet der Verlust der lebendigen Sprachheimat den Tod. Für Stefan Zweig zum Beispiel, der im brasilianischen Exil so überaus freundlich aufgenommen wurde und doch den Verlust der Sprachheimat nicht verkraften konnte. In seinem Abschiedsbrief schrieb er, bevor er sich gemeinsam mit seiner Frau in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 1942 im brasilianischen Petrópolis das Leben nahm:

»Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt, und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.«

Auch solcher Schicksale wegen ist »Heimat« für kritische Gemüter oft ein problematischer Begriff. In Deutschland war er jahrzehntelang auch ein Kampfbegriff, der eigene Schuld verdeckte und sie anderen unterschob. Viele Ältere denken noch heute bei diesem Wort zuerst an die Vertriebenenverbände, die jahrzehntelang, gehätschelt von konservativen Politikern, auf ihren Schlesier-, Ostpreußen- und Egerländertreffen revanchistische Parolen skandierten: »Schlesien ist unser«, »Dreigeteilt niemals«, »Keine Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze«, »Das Sudetenland bleibt deutsch«. Meist hatten sich die Geflüchteten längst im westlichen Deutschland eingerichtet, ihre Kinder hatten hier eine neue Heimat gefunden, kannten die alte Heimat nur noch aus den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Die Rückkehr nach Ostpreußen, Schlesien oder ins Sudetenland wäre für die allermeisten auch dann nicht infrage gekommen, wenn sie politisch möglich gewesen wäre. Es ging vielen von ihnen vor allem darum, recht zu haben und die deutsche Schuld zu leugnen.

Für die meisten der von den Nazis ins Exil getriebenen Schriftsteller/innen, Künstler/innen und Wissenschaftler/innen war dagegen in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg im westlichen Deutschland kein Platz. Viele, wie Arnold Zweig, Bertolt Brecht oder Anna Seghers, zogen das östliche Deutschland vor, manche, wie Thomas Mann, ließen sich aus eigenem Entschluss lieber im benachbarten deutschsprachigen Ausland nieder. Die Exilierten waren bei den Nachkriegsdeutschen in aller Regel nicht willkommen, wohl auch, weil ihr Schicksal die, die in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft hier gebliebenen waren, daran erinnerte, dass viele von ihnen so unschuldig nicht waren, wie sie vorgaben zu sein.

Für junge Leute heute liegt das alles lange zurück wie die Filme, die nach dem Zweiten Weltkrieg den verstörten Deutschen eine heile Welt vorspiegelten: Der Förster vom Silberwald, Die Sennerin von St. Kathrein, Die Fischerin vom Bodensee, Grün ist die Heide oder Rosen blühen auf dem Heidegrab. Das Heimatbild in den kitschigen Heimatfilmen und Heimatromanen der 50er und 60er Jahre war verlogen und reaktionär, erinnerte allzu deutlich an die Blut-und-Boden-Ideologie der Nationalsozialisten mit dem unvermeidlichen Tanz um die Dorflinde.

Wer sich dagegen vor 30, 40 Jahren in Deutschland als modern, als liberal oder progressiv verstand, wollte zumeist mit Heimat nichts zu tun haben. Heimat, das war Stillstand, Rückständigkeit, Provinzialismus, Bigotterie. In Bayern hatte die CSU das Thema gepachtet und wendete es aggressiv gegen alle, die sie unbayerischer Umtriebe verdächtigte. Erst die Musik- und Kabarettgruppe Biermösl Blosn und bayerisch sprechende Kabarettisten wie Gerhard Polt durchbrachen das Monopol. Dass wir seit einiger Zeit wieder unverkrampft über Heimat reden können, daran haben sie, daran hat vor allem die 1984 gestartete Fernsehserie Heimat von Edgar Reitz über das fiktive Dorf Schabbachim Hunsrück einen nicht unerheblichen Anteil. Sensationelle Einschaltquoten, auch unter jungen Leuten, deuteten einen Wandel der Einstellung an. Die Serie traf einen Nerv, auch weil hier Heimat nicht als Winkelidylle, sondern als Reflexionsraum deutscher Geschichte vorgeführt wurde. Inzwischen haben jüngere Filmer wie Detlev Buck und Marcus H. Rosenmüller den deutschen Heimatfilm entstaubt und ihn entschlossen von den ihm zäh anhaftenden Klischees befreit.

56 % der Deutschen geben an, dass für sie Heimat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht hat das seinen Grund auch darin, dass wir inzwischen erfahren haben, was es für uns bedeutet, wenn der globale Kapitalismus Länder zu bloßen Standorten degradiert, immer mehr Menschen aus ihren vertrauten Lebenszusammenhängen reißt und ihnen eine Mobilität zumutet, die es ihnen unmöglich macht, sich irgendwo »zu Hause« zu fühlen. Viele Ostdeutsche haben durch die ihnen übergestülpte deutsche Einheit Teile ihrer alten Heimat verloren, oft die Arbeit, manchmal nur die altvertrauten Ostprodukte; nicht wenige von ihnen mussten ihr Dorf, ihre Stadt verlassen, um »im Westen« ihr Glück zu suchen und fühlen sich bis heute wie Emigranten im eigenen Land. Ein Wunder ist es nicht, wenn die, die den Sprung in die neue Zeit nicht schafften, zuweilen dazu neigen, die DDR nostalgisch zu verklären.

Ist das nach 1990 größere Deutschland Heimat? Für die übergroße Mehrheit der Deutschen ist Deutschland zu groß, zu zugig, zu gesichtslos, auch zu fremd, um als Heimat gelten zu können. Heimatgefühle löst bei den meisten Menschen nur die nähere Umgebung aus, das Stadtviertel, das Dorf, die Eckkneipe, der Dialekt, die Familie und der Freundeskreis. Erst recht gilt das für die vielen Migrantinnen und Migranten, die mittlerweile in Deutschland leben. Ihre Heimat bleibt zumeist z. B. das anatolische Dorf, der Familienclan, vielleicht verstehen sie darunter auch ein paar Straßenzüge in Kreuzberg oder Neukölln oder im Münchener Westend, die Clique mit ihrer Insidersprache, das Café an der Ecke, den Boxclub oder den Fußballverein. Je mehr Menschen im Zuge der Globalisierung ihrer Heimat entrissen und in eine fremde Umgebung verpflanzt werden, umso dringender scheint das Bedürfnis nach Beheimatung, nach Wärme und Geborgenheit zu werden.

Heimat ist heute vor allem der Gegenentwurf zur unaufhörlichen Veränderung und Beschleunigung, die uns die globalisierte Ökonomie aufzwingt. Die Arbeitsnomaden, die auf den Baustellen in Saudi-Arabien und Dubai schuften, die Heere rechtloser Wanderarbeiter in den chinesischen Megastädten, die Techniker und Ingenieure, die ein halbes Jahr in São Paolo, ein Jahr in Singapur, dann wieder einige Jahre in Südafrika tätig sind, die Manager/innen und Berater/innen, die Wissenschaftler/innen und Künstler/innen, die ständig zwischen den großen Kultur- und Businesszentren der Welt unterwegs sind – haben sie überhaupt etwas, was sie ihr Zuhause nennen? Wo finden sie es? In den schäbigen Arbeiterunterkünften, in den gesichtslosen Hotels, in den Bars, in denen sich die Entwurzelten treffen, in der VIP-Lounge auf den internationalen Flughäfen? Oder ist die Familie die letzte Zuflucht, das Bollwerk, das in einer außer Rand und Band geratenen Welt einen Rest von Beständigkeit und Vertrautheit bieten muss? Der in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa schreibt: »Die hohe Mobilität des sozialen Lebens der Spätmoderne führt also tendenziell zu Entfremdung – zum Fremdwerden der Dinge und Orte, der Menschen und Verhältnisse. Dies birgt aber die Gefahr, dass sich die Welt in eine kalte, starre, indifferente Oberfläche verwandelt, dass sie uns dauerhaft zu ›tausend Wüsten, stumm und kalt‹ (Nietzsche) wird, weil nichts mehr zur Heimat in dem Sinne gerinnt, dass es identitätsstiftende Bedeutung erlangt.«

Nicht alle sehen hierin einen Verlust, manche glauben einen neuen Menschentyp auszumachen, der so etwas Altmodisches wie Heimat nicht braucht. Johannes Goebels und Christoph Clermonts Die Tugend der Orientierungslosigkeit war für kurze Zeit ein Kultbuch, weil es die Entwicklung eines ganz neuen Menschen zu bestätigen schien: Der Internet-Chatfreund aus Toronto ist wichtiger als der Kumpel vor Ort. Die Kleinfamilie ist out, Vereine, die Stammkneipe, das Gespräch am Zeitungskiosk dito. In der neuen Freiheit der globalisierten Welt gaben die neuen Lebensästheten lieber 40 Mark im Monat für den Internetanschluss aus als 150 für eine Lebensversicherung. Das wussten die Autoren im Jahr 1997 ganz genau.

Selten haben sich gefeierte Autoren so gründlich geirrt! Menschen wandeln sich nicht in denselben Zeitmaßen, in denen sich die Dinge um uns herum, die Infrastrukturen und die Arbeitsbeziehungen verändern. In aller Regel brauchen wir Beständigkeit und stabile soziale Nahbeziehungen, und wenn um uns herum kein Stein auf dem anderen bleibt, wenn in der uns umgebenden Produktwelt eine Innovation die nächste jagt, wenn wir selbst ständig in Bewegung sind, um nur ja nicht den Anschluss zu verpassen, dann klammern wir uns wie Ertrinkende an eine im Wasser treibende Planke an die Erinnerung, an die Bilder, die Töne, die Gerüche der Kindheit, an die alten Geschichten, die wieder und wieder erzählt werden müssen, um uns die Angst vor der Ortlosigkeit zu nehmen. Oder wir ziehen uns in uns selbst zurück, der eigene Körper wird zum letzten Refugium der Beständigkeit in einer Welt des rasenden Wandels – nach Zygmunt Bauman einer der Gründe für den modernen Gesundheits- und Fitnesswahn.

Ich bin in den Niederlanden geboren, genauer in Leeuwarden, der Hauptstadt der niederländischen Provinz Friesland. Meine Mutter war Holländerin, mein Vater ein in den USA geborener Österreicher. Meine Eltern waren Esperantisten, Pazifisten und Kosmopoliten. Sie lebten lange in Frankreich, dann in den Niederlanden, nach dem Krieg kam die Familie nach Deutschland, in den 70er Jahren wanderten meine Eltern nach Kalifornien aus, wo zwei meiner Brüder bereits lebten. Wo ist meine Heimat? Wenn ich im Flugzeug aus den USA heimkehre und aus dem Fenster tief unten den ersten Zipfel Irlands sehe, erfasst mich ein Gefühl der Heimkehr. Ist Europa also meine Heimat? Wenn ich in Deutschland gelandet bin, und um mich herum die vertrauten Werbetafeln und Hinweisschilder sehe, wenn ich die vielen Menschen meine deutsche Sprache sprechen höre, bin ich angekommen. Ist darum Deutschland meine Heimat? Oder ist es immer noch das flache, von Kanälen durchzogene Land mit den von Seerosen bedeckten Seen, in dem ich geboren wurde, oder sind es die norddeutschen Heide- und Marschlandschaften, in denen ich meine Jugend verbrachte? Ist gar inzwischen der Starnberger See mit der Zugspitze an seinem südlichen Ende für mich Heimat geworden? Oder Berlin, wo ich fast 20 Jahre gelebt habe und wo meine Kinder heute zu Hause sind?

Etwas in mir sperrt sich gegen eine Festlegung. Vielleicht kann man mehrere Heimaten haben oder vielleicht setzt sich das, was ich Heimat nenne, in meinem Fall aus ganz verschiedenen Bildern, Gerüchen, Erfahrungen zusammen, die ich mir in verschiedenen Epochen meines Lebens einverleibt habe.

Fremdheitserfahrungen können stimulieren und bereichernd wirken. Sie können aber auch Angst und Fluchtreflexe auslösen. In unseren Großstädten ziehen sich immer mehr Menschen, die es sich leisten können, in separierte, von Wachdiensten gesicherte Trutzburgen zurück, den in den USA schon lange üblichen gated communities. Sich abkapseln gegen eine als bedrohlich empfundene Umwelt – der Traum von Sicherheit und Geborgenheit unter Seinesgleichen. Aber wer Heimat in möglichst homogenen Gemeinschaften sucht, neigt oft dazu, sich von Feinden umzingelt zu wähnen, verliert nicht selten den klaren Blick für die Realität der Gesellschaft, in der er lebt, betrügt sich selbst um Impulse und Anregungen von Andersdenkenden und Anderslebenden. In den Worten des Soziologen Zygmunt Bauman: »Das Projekt der Abschottung gegen die Polyphonie des städtischen Lebens in den Enklaven kommunitärer Einförmigkeit ist so selbstzerstörerisch wie selbstverstärkend (…). Mit zunehmender Neigung zur Uniformität wächst der Horror vor den Fremden draußen vor der Tür.« In den gated communities haben wir es mit einer Art Schwundstufe dessen zu tun, was Heimat als anschauliches Modell offener Menschlichkeit bedeuten kann: ein bisschen protzig und arrogant, vor allemaberengherzig, provinziell, latent aggressiv und angstbesetzt, das was der Politologe Herfried Münkler eine hinter die Errungenschaften der Moderne zurückfallende »kommunitaristische Regression« nennt.

Für Ernst Bloch war Heimat etwas, »das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war«. Als er das schrieb, lebte er schon im Exil in den USA, arbeitete tagsüber als Hilfsarbeiter und saß nachts über dem Manuskript seines dreibändigen Hauptwerks Prinzip Hoffnung. Heimat als Kindheitstraum, als lebenslange Sehnsucht, als U-Topos (Nicht-Ort), als Vorschein auch und Verheißung. Der Blochsche Heimatbegriff ist im genauen Sinn nur verständlich, wenn man ihn im Kontext der Hegelschen und Marxschen Philosophie betrachtet. Heimat ist für Bloch nicht etwas, was man hat oder woran man sich erinnert, weil man es nicht mehr hat. Heimat ist für ihn etwas, was uns noch bevorsteht, was im geschichtlichen Prozess werden will und werden soll.

»Heimat« ist für Bloch das Gegenstück zum marxistischen Begriff der »Entfremdung«, ist der utopische Flucht- und Zielpunkt, in dem sich alles Fremdsein, die ganze Widersprüchlichkeit des Lebens auflöst und die Menschen ganz bei sich selbst sind und versöhnt miteinander leben. Die Frage ist allerdings, ob ein solches Maß an Übereinstimmung und Widerspruchslosigkeit, ob ein solcher »Umbau der Welt zur Heimat«, wie es bei Bloch auch heißt, wirklich sinnvoll und wünschenswert ist. Wäre mit der Aufhebung aller Entfremdung nicht auch das Leben selbst zu Ende?

Es steckt im Begriff der »Heimat« etwas, das sie in Konflikt bringen kann mit dem Leben, das notwendig AuseinandersetzungundVeränderung bedeutet. Wer leben will, kann nicht erwarten, kann nicht einmal wünschen, dass alles bleibt, wie es ist. Wer leben will, erst recht, wer selbstbestimmt leben will, muss die Heimat, die auch zu einer Fessel werden kann, zumindest vorübergehend abschütteln, muss mit ihr brechen wie mit einer überfürsorglichen Mutter, um ins Offene zu gelangen. Vielleicht auch, um später geläutert und mit einem durch die Erfahrung der Fremde geschärftem Blick zu ihr zurückzukehren, und sei es nur in der Erinnerung. Nur wer mit der Heimat gebrochen oder sie verloren hat, weiß, was er an ihr hatte, als er noch darin war. Auch darum ist Heimat zumeist ein Produkt der Erinnerung, kaum zu trennen von dem nostalgischen Gefühl des Heimatverlusts.

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