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Heimat, Nation – Sozialdemokratie?

Die neueste Debatte über Themen und Begriffe, welche die Sozialdemokratie aus ihrer immer schlimmeren Notlage retten könnten, hat rasch Fahrt aufgenommen. »Heimat« und »Nation« – wenn es der Partei gelänge, ihren Namen und diese magischen Wörter in Verbindung zu bringen, dann müsste sie doch gerade dort wieder Vertrauen gewinnen, wo sie es zuletzt so schmerzlich und drastisch verloren hat. So lautet die in dieser Zeitschrift und mehreren beachtlichen jüngeren Buchpublikationen verfochtene These – wie in Lob der Nation von Michael Bröning oder Thea Dorns Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Beide Begriffe setzen exakt an der Stelle an, wo die Wunde schwelt: dem vom größeren Teil der Gesellschaft schmerzhaft empfundenen Mangel an Sicherheit, verlässlicher Identität und Orientierung, der sich schon seit geraumer Zeit mit Globalisierung und Digitalisierung vertieft hatte und seit Kurzem mit den großen Zahlen von Migrant/innen infolge offener Grenzen in ein akutes Stadium eingetreten ist. Demnach ist es nicht die Ökonomie und noch nicht einmal in erster Linie die soziale Lage, welche die bedrohliche Verunsicherung in weiten Teilen der Gesellschaft nähren, sondern der Verlust an eindeutigen, für alle gültigen kulturellen Werte und dem Halt, den sie geben. Es geht um ein bohrendes Gefühl kollektiver Obdachlosigkeit, dass nach bergendem Schutz, nach dem Erhalt von »Beheimatung« geradezu zu schreien scheint. Offen bleibt da zumeist, was das ist: »Heimat«, wo sie sich findet und was sie voraussetzt.

Die Rechtspopulist/innen nicht nur in Europa mästen sich an dieser Stimmung mit Parolen, die trügerischen Trost versprechen: Sie handeln mit Rezepten, die in der modernen Welt, auch wenn sie besser eingerichtet wäre, weder praktikabel noch mit den Mindeststandards humanen Zusammenlebens vereinbar sind. Ihre Losung ist immer und überall: ethnische Homogenität! Die Art, wie sie mit den Begriffen »Heimat« und »Nation« hantieren, bietet nur billige Trostpflaster, die keinem Realitätstest standhalten und erst recht nicht den Standards für eine anständige Gesellschaft und ein gemeinsames Haus Europa. Irgendwelche Lehren aus der Geschichte, nicht nur der deutschen, sind bei ihnen nicht zu erkennen – vielleicht liegt gerade darin das Geheimnis ihres Erfolgs beim harten Kern ihrer Aktivist/innen. Deren Zahl ist, Gott sei Dank, wesentlich geringer als die der für die entsprechenden Parteien bei Wahlen abgegebenen Stimmen. Die Abwegigkeit ihrer Art des Gebrauchs der Begriffsikonen »Heimat« und »Nation« entgeht freilich der Mehrzahl derjenigen durchaus nicht, die hierzulande zunächst einmal die AfD wählen. Denn schon beim Verlassen des Wahllokals teilen drei Viertel von ihnen den Umfrageinstituten beiläufig mit, sie stimmten dem Programm der soeben gewählten Partei keineswegs zu, hielten aber deren Fragen und Anmahnungen an die Politik der anderen für richtig und dringlich. Nur das hätten sie mit ihrer Entscheidung den anderen Parteien und der Öffentlichkeit, so wirksam sie können, als Wähler/innen eben, mitteilen wollen.

Die aktuellsten empirischen Forschungen über die neu entstandenen gesellschaftlichen Interessengegensätze, die tieferen Gründe der aktuellen Parteienkonflikte und des irritierend veränderten Wahlverhaltens kommen zu gemeinsamen Ergebnissen, die nicht nur Erklärungen für die eingangs skizzierte missliche Lage bieten, sondern auch Hinweise auf Wege zu ihrer Überwindung (v. a. von Wolfgang Merkel oder Andreas Reckwitz): Die revolutionären Umwälzungen durch Globalisierung und Digitalisierung haben einen neuen gesellschaftlichen Grundkonflikt geschaffen, der sozial und politisch die Karten im gesellschaftlichen Spiel um soziale Anerkennung und politischen Einfluss neu mischt. Diese Konflikte sind durch die Wahrnehmung des staatlichen Kontrollverlusts bei der jüngsten umfangreichen Migration kulturell pointiert und emotional aufgeladen worden. Eine Art mentalitätspolitischer Klassenkampf zwischen Gruppen mit entgegengesetzten soziokulturellen Einstellungen bricht sich Bahn. Auf der einen Seite dieser unverhofften Barrikade stehen die Globalisierungsgewinner, die gesellschaftlich dominante neue Mittelklasse mit ihrem überlegenen kulturellen und ökonomischen Kapital und dem Verlangen nach offenen Grenzen; auf der anderen die an den Rand geratenen Globalisierungsverlierer aus neuer Arbeiterklasse und alter Mittelklasse, mit ihrem Verlangen nach Kontrolle und Abwehr all dessen, was ihre kulturelle Identität, ihre gewohnte Lebenssphäre und ihre sozialökonomische Sicherheit zu gefährden scheint – gegenwärtig vor allem, wie sie meinen, die vielen Geflüchteten.

In der wissenschaftlichen Forschung wird diese Konstellation mit den unhandlichen und auch nicht ganz passgenauen Begriffen »Kosmopoliten« gegen »Kommunitarier« etikettiert. Diese Art der Benennung macht zwar die innere Verwobenheit der sozialen, kulturellen und politischen Quellen des neuen Großkonflikts sichtbar, verdeckt aber die erhebliche interne Differenzierung in beiden Lagern. Denn diese Begriffe markieren treffend nur den radikalsten Idealtypus beider Lager, während deren wirkliche Mitglieder zahlreiche Varianten der Abschwächung und Mischung beider Haltungen verkörpern. So suchen viele »Kosmopoliten« durchaus nach sozialer Erdung und die meisten der »Kommunitarier« sind für den Schutz der Geflüchteten und Vielfalt durchaus offen, solange sie die Kontrolle über die Vorgänge und über ihre Lebenswelt behalten. In diesen Mischverhältnissen der sozialen Wirklichkeit liegt die Hoffnung für lebensfähige politische Kompromisse in der brisanten neuen Konfliktzone.

Wir müssen davon ausgehen, dass die große Mehrzahl in der alten Mittelklasse und in der neuen Arbeiterklasse den schmerzhaften und durch bessere Politik durchaus vermeidbaren Verlust an »Beheimatung« real verspürt und nicht erst von den rechten Agitator/innen gelernt hat. Sie fühlen sich durch die neuen Konkurrent/innen in ihren Lebenswelten sozial und/oder kulturell verunsichert. Als Ursache dieser Bedrohung machen sie den Kontrollverlust des einseitig unter den Einfluss der kosmopolitischen Interessen geratenen Staates aus, der durch die eilfertigen »Mainstreammedien« weginterpretiert und damit ihrem Einspruch entzogen wird. Der so entstehende Vertrauensverlust betrifft folglich die politische Klasse als Ganze. Die rechtspopulistischen Agitator/innen greifen diese Stimmungen auf, die sie keineswegs aus dem Nichts erfunden haben, verschärfen sie und versuchen sie mit chauvinistischen »Erklärungen« und unhaltbaren Versprechen in das Fahrwasser ihrer eigenen Absichten zu leiten. Sie heizen die Stimmung in beiden Richtungen an, mit Attacken sowohl gegen die Geflüchteten als »Ausländer« wie gegen die heimischen Parteien und Massenmedien als »Verräter«. Dabei operieren sie mit einem »völkischen« Begriff von Gemeinschaft, der eine ethnisch reine, übersichtliche Gesellschaft als Zuflucht aus aller Bedrohung, Verwirrung und Unsicherheit verheißt. Sie wollen »Heimat« und »Nation« wieder »säubern« von allem Fremden – nach außen in Form des Widerstands gegen die Einflüsse der EU auf das eigene Land, im Inneren durch die Abwehr von Migrant/innen. Mit diesen Rezepten gelingt es ihnen nicht nur in Europa, bis zu einem Drittel der Wähler/innen für sich, in erster Linie freilich gegen die »Anderen« zu mobilisieren. Überall ist ihnen mittlerweile ein großer Teil der sozialdemokratischen Traditionswähler/innen und »natürlichen« Zielgruppen verfallen.

Allmählich dämmert es allen, dass die Hoffnung jeder Grundlage entbehrt, die dunkle Wolke könnte sich von selbst verziehen, sobald sich das Wetter wieder bessert – auch ohne gründliche Bearbeitung der ursächlichen Probleme. Das ist ein gefährlicher Irrtum. Einige der Beobachter/innen, die das erkannt haben und der Sozialdemokratie oder der ganzen Gesellschaft mit unbequemen Ratschlägen auf die Sprünge helfen wollen, bevor es bald schon zu spät sein könnte, versuchen an der Wurzel des Dilemmas anzusetzen. Ihre naheliegende Empfehlung lautet, den Rechtspopulist/innen die Begriffe »Heimat« und »Nation« wirkungsvoll zu entwinden, die sie ja ohnehin nur widerrechtlich in Besitz genommen haben. Damit könne die Sozialdemokratie auch symbolisch ein eindeutiges Signal setzen, dass sie selbst nunmehr die Ursachen der sozialen und kulturellen Verunsicherungen und Bedrohungsängste erkannt hat und an der Wurzel packen will. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht. Satte vier Fünftel der Menschen in unserem Land wollen »Heimat« und bekennen sich zu ihrer »Nation« mit unspektakulärer Selbstverständlichkeit. Zum politischen Problem wird das für sie selbst und die Gesellschaft erst in dem Moment, in dem diese beiden großen Lebenswerte bedroht erscheinen. Und die Begründungen dafür sind überzeugend, dass beide und die zugehörigen Begriffe im Kern nicht unrettbar durch den tödlichen Missbrauch kontaminiert sind, den völkische Blut-und-Boden-Ideologen mit ihnen getrieben haben. Es gibt nicht nur die reale Erfahrung, sondern auch »einen legitimen Begriff von Heimat« (Thea Dorn, Gustav Seibt) und ein Empfinden nationaler Zugehörigkeit (Michael Bröning). »Heimat« und »Nation« sind zwar, wie kritische Stimmen ermahnen, immer vor allem etwas Vorgestelltes, aber eben keineswegs nur – und auch als Vorgestelltes sind sie ja real empfunden. Besonders für »Heimat« sind so viele schöne Metaphern der Geborgenheit, der Sehnsucht, der fraglosen Anerkennung, der Lebenssicherheit, des Vertrauten und des Vertrauens geprägt worden, dass deutlich wird, wie viel Lebenswichtiges und oft auch Tröstendes sie für die allermeisten Menschen in sich birgt. Exklusion, Verschlossenheit, ethnische Reinheit, der ganze fundamentalistische Plunder der diversen ideologischen Scheinheimaten gehören freilich nicht dazu. »Nation« ist dem alltäglichen Leben etwas ferner, aber doch zum lebendigen Inbegriff einer Solidargemeinschaft geworden, zu der alle mit eigenen Leistungen beitragen sollen und in der im Gegenzug bürgerliche und soziale Grundrechte allen die gleiche politische Teilhabe und sicheren sozialen Schutz garantieren. Das gilt ungemindert auch dann, wenn der EU ein weiteres Zusammenwachsen gelingt und der Handlungsbereich ihrer transnationalen Souveränität wächst. Seit dem Vertrag von Maastricht hat das Subsidiaritätsprinzip Verfassungsrang und die realistische Vision einer europäischen Republik der Nationalstaaten lässt beiden Polen, den Nationen und der politischen Union, ihr Recht. So empfindet es auch die große Mehrzahl der Unionsbürger/innen, die ihre jeweilige nationale Identität und ihre europäische Identität produktiv zu verbinden wissen.

Kein Zweifel also, geboten ist in der gegebenen Lage eine Politik, die deutlich und offensiv die Chancen für soziale und kulturelle Beheimatung gewährleistet und Gefahren für die abweist, wo sie erkennbar werden; eine Politik, die das europäische Einigungswerk zuversichtlich voranbringt, ohne den Schutz, die Teilhabechancen und das Identitätsangebot der ihr zugehörigen Nationalstaaten infrage zu stellen. Die Rehabilitierung der Begriffe setzt ihre Klärung voraus. Dazu gehört bei der »Nation« die Erinnerung daran, dass sie in politischer Gleichheit und kultureller Toleranz gründet. Bei »Heimat« geht es, wie Wolfgang Thierse zu Recht mahnt, nicht nur um intakte Infrastrukturen, sondern um deutlich mehr. Die Attribute des Vertrauens und des Vertrauten, auf die der Begriff in allen seinen Varianten zielt, setzen eine öffentliche Kultur oder, wie Thea Dorn vorschlägt, verbindliche »Zivilisiertheit« voraus, die alle, die ihr zugehören, verlässlich teilen. Das verlangt die Kontrolle der Einheimischen über die Maßstäbe des Zuzugs, ebenso wie die Bereitschaft der Hinzukommenden zur aktiven Integration – verstanden als Garantie ihres mitgebrachten Glaubens und ihrer privaten Lebensführung, verbunden mit der gleichberechtigten Teilhabe an den Ressourcen der Aufnahmegesellschaft, allerdings unter der Bedingungen ihrer aktiven Anerkennung der öffentlichen – also sozialen, zivilen und politischen – Kultur des Gastlandes.

Anders kann das »neue Wir« (Paul Scheffer) nicht entstehen, das die Ansprüche auf Heimat der Einheimischen und der Hinzukommenden miteinander versöhnt. Wenn Politik die eigentlichen Inhalte, um die es bei »Heimat« und »Nation« geht, konsequent verficht, kann sie denjenigen, für die diese Begriffe nur verführerische Parolen ohne Gebrauchswert für ein gutes Zusammenleben sind, den Schneid abkaufen und sie zwingen, Farbe zu bekennen. Zu ideologischen Parolen müssen die beiden sensiblen Begriffe im linken Sprachgebrauch dabei aber nicht werden, der unbefangenere Gebrauch verbunden mit der praktischen Einlösung ihres Versprechens reicht auch.

Michael Bröning: Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. J. H. W. Dietz Nachf., Bonn 2018, 112 S., 12,90 €. – Thea Dorn: deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten. Knaus, München 2018, 336 S., 24 €.

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