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Neue Bücher zur Krise Europas Heimatgefühle

In seinem Buch Der Zerfall analysiert der langjährige Chefkorrespondent der Washington Post William Drozdiak die akute Krise demokratischer Politik anhand einer Reihe von Länderporträts. Berlin erscheint darin als das »neue Machtzentrum«, London steht für »das abtrünnige Reich«, Brüssel für die »Hauptstadt Europas« – allerdings mit dem Hinweis auf den »Turmbau zu Babel«.

Der biblische Turmbau ist ein Symbol politischer Hybris; er scheiterte bekanntlich an einer großen Sprachverwirrung. Angesichts »des riesigen Doms, in dem das Europäische Parlament in Straßburg tagt«, fühlt der Autor sich »auf unheimliche Art« an dessen Darstellung durch den flämischen Maler Pieter Brueghel den Älteren erinnert. Und mit »24 offiziellen Sprachen und ganzen Heerscharen von Übersetzern und Dolmetschern« erinnert ihn das Europaparlament mit seinen 751 Mitgliedern an dessen Baumeister.

Anders aber als in Babylon gibt es in Brüssel genug Übersetzer und notfalls könnten sich die Europäer durchaus auch auf Englisch verständigen. Wenn sie sich denn verständigen wollen. Aus Sicht des Amerikaners Drozdiak spricht derzeit Vieles dagegen. Unter anderem die Entwicklung gerade jenes Landes, das sein Landsmann Bernie Sanders als großes Vorbild für die USA benannt hat: »Amerika, so sagte er, solle eher so werden wie Dänemark. Diese kleine und homogene Nation mit 5,6 Millionen Menschen führt beständig die Rangliste der glücklichsten Gesellschaften der Welt an.«

Gerade das offene und egalitäre Dänemark betreibt seit Jahren eine sehr strikte Einwanderungs- und Abschreckungspolitik. Zu dieser gehört auch das Anfang 2016 verabschiedete »Juwelengesetz«, welches Behörden erlaubt, das Gepäck von Flüchtlingen zu durchsuchen und Gegenstände, die den Wert von 10.000 Kronen (1.340 Euro) übersteigen, zu konfiszieren. Treibende Kraft ist vor allem die »Dänische Volkspartei« (DF), die laut Drozdiak »Xenophobie mit linkssozialistischen Elementen kombiniert: Einerseits pflegt sie ihre gegen Einwanderer gerichtete Rhetorik, andererseits stellt sie sich als standhaften Verteidiger des dänischen sozialen Wohlfahrtsstaates dar.« Ob die Synthese aus völkisch-nationalen und sozialistischen Elementen in Dänemark segensreicher ausfällt als einstmals beim südlichen Nachbarn, bleibt abzuwarten. Unterstrichen werden muss hier aber, was ein Gewährsmann Drozdiaks als das »tiefere Problem« bezeichnet, nämlich »dass die Menschen wenig Vertrauen in europaweite Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit haben«.

Rip Van Winkles verlorene Welt

Vielleicht wäre das anders, wenn in Europa ein wenig mehr Dänisch gesprochen würde. Laut der Autorin Louisa Thomsen Brits, deren Buch Hygge ein Bestseller ist, sei dieser Begriff ein Schlüsselwort für das Glück der Dänen: »Hygge ist ein Stück Selbsterfahrung, Gemeinschaft mit Menschen und Orten, die uns das Gefühl von Heimat und Selbstbestätigung gibt, die uns Mut und Trost vermittelt.« Es ähnelt der deutschen »Gemütlichkeit«, die auch erst in einer etwas rauen Umgebung zur Geltung kommt.

Was könnte gemütlicher sein, als nach einem harten Arbeitstag in sein Dorf und sein Haus zurückzukehren, wo über dem Esstisch ein »Kalender der heimattreuen Jugend, ein Runengebäck aus Salzteig und Stickdeckchen mit völkischen Sprüchen drauf« hängen? Dies ist nun nicht mehr Dänemark, sondern ein Dorf in Bayern. Die 1992 geborene Heidi Benneckenstein hat es in ihrem Buch Ein deutsches Mädchen als typischen Eindruck aus ihrem »Leben in einer Neonazi-Familie« beschrieben. Als sie im Kindergarten den Engel des Krippenspiels geben sollte, sei ihr Glück darüber vom Vater zunichte gemacht worden: »›Jetzt hör endlich auf!‹ schimpfte er. ›Wir glauben dieses Zeug nicht und fertig.‹« Das appelliert natürlich an die ideologiekritischen Reflexe, solch autoritäre Ideologie und solche NS-Devotionalien als Surrogate zu entlarven.

Aber woher sollte dann jenes »Gefühl von Heimat und Selbstbestätigung« kommen? Wie soll es wiederkommen, nachdem es für Viele verloren gegangen ist? Nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebten Millionen von Menschen, dass ihre mühsam erworbene Lebens- und Berufserfahrung für nichtig erklärt wurde, und im Zuge der Digitalisierung setzte sich dieser Prozess auch im Westen fort. Ganze Lebenswelten wurden auf den Kopf gestellt oder verschwanden. Zechen wurden zu Industriemuseen, und die Landwirtschaft wurde zur Industrie. Mobilität war ein Schlagwort, das die Unbehaustheit zur Tugend verklärte. Aber wohin, wenn man sich einmal zur Ruhe setzen will?

Schon in den Jahren bevor in Dänemark 2001 die Tendenz nach rechts wahlentscheidend wurde, konnte man von dänischen Gesprächspartnern hören, dass es Viertel in ihren Städten gäbe, wo gar kein Dänisch mehr gesprochen würde. Es waren weltgewandte, weltoffene und tolerante Menschen, doch gerade weil sie oft über Monate und Jahre hinweg im Ausland waren, waren sie auch besonders sensibel für solche Rip-Van-Winkle-Erlebnisse.

Entwertung der Erfahrung

In seinem Buch Kurzschluss zeigt der Jura-Professor und Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig Felix Ekardt, wie »einfache Wahrheiten die Demokratie untergraben«. Den politischen Populismus beschreibt er als die Beschwörung einer Vorstellungswelt, »nach der sich die Gesellschaft angeblich in homogene, gegnerische Gruppen aufteilt, typischerweise das ›authentische‹ Volk und ›die korrupte Elite‹, wobei dem entmachteten Volk vorgeblich die Macht durch einfache, klare Maßnahmen zurückgegeben werden soll«. Verkürzt gesagt heißt das: AfD – Alternative für Deutschland. Die AfD appelliere an all jene, die sich von der herrschenden Politik »unbeachtet, abgehängt oder gar missachtet fühlen«, schreibt Michael Wildt in Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Wie die Begriffe »Nation«, »Nationalstaat« oder »Reich« zählt auch das »Volk« zu jenen Ermächtigungsformeln, mit denen der realen Politik Einhalt geboten werden soll, indem man an eine vermeintlich höhere und zugleich einfachere Instanz appelliert. Schon gegen Ende der DDR aber hatte der Ruf »Wir sind das Volk!« etwas Befremdliches, weil er behauptet, dass »wir« alle seien.

»In einer immer komplexeren Welt scheint das Versprechen einer Rückkehr zu einer angenehmen Einfachheit aktuell einen immer stärker anschwellenden Zulauf zu finden«, konstatiert dazu Felix Ekardt, um am Ende eine Steigerung der Lernfähigkeit und ein Aushalten der Komplexität zu postulieren. Aber war die Welt von Gestern wirklich so viel einfacher als die heutige, als die globalisierte und digital vernetzte? Hat nicht vielmehr jede Innovation versprochen, unser Leben einfacher und sicherer zu machen? War die gute alte Hygge-Welt nicht einstmals auch eine der Tuberkulose, des Kindbettfiebers und der unversicherten Brandschäden?

Kann es sein, dass die Welt gar nicht komplexer, sondern nur unverständlicher geworden ist, weil sie sich immer schneller verändert? Heimat, das war dort, wo man sich auskannte. Dieses Auskennen und solche Erfahrungen waren früher das Ergebnis eines langen Lernprozesses. So gehörten Heimat und Selbstbestätigung zusammen. Zu Hause war nicht nur »es« am besten, sondern auch man selbst. Walter Benjamin hat schon für das frühe 20. Jahrhundert auf die fundamentale Entwertung der Erfahrung durch den technischen Fortschritt hingewiesen. Diese Technik kommt uns entgegen, macht alles zum Kinderspiel und lässt nur die Alten verzweifeln.

Nationen und Regionen

Ein Kinderspiel ist offenbar auch die Politik, ein Kinderspiel namens »Piratenpartei« etwa oder ein rhetorisches Strategiespiel namens mit Rechten reden. So heißt ein viel diskutierter »Leitfaden«, den Per Leo, Maximilian Steinbeis und Daniel-Pascal Zorn bei Klett-Cotta herausgegeben haben. Gegenstück ist ein bei Antaios erschienenes Werk von Martin Lichtmesz (alias Martin Semlitsch) und Caroline Sommerfeld. Laut Verlag »zwei der temperamentvollsten und klügsten Vertreter einer Neuen Rechten«. Es trägt den Titel Mit Linken leben, was irgendwie durchblicken lässt, dass man aufs Reden wenig Wert legt. Vielmehr scheint es Rechten wie Linken vor allem darum zu gehen, rhetorisch sowie gestisch klarzustellen, dass man einen Gegner hat, von dem man sich fundamental unterscheidet.

Nur macht das die eigene Position nicht substanzieller, denn Politik braucht Inhalte und nicht nur Haltungen. Eine bloße Haltung ist etwa die Eigensinnigkeit sogenannter »Reichsbürger«, die den Fortbestand des Deutschen Reiches proklamieren und den Organen der Bundesrepublik jede Legitimität absprechen. Andreas Speit hat über diese »unterschätzte Gefahr« einen lesenswerten Sammelband herausgegeben. Dass manche selbst ernannte Reichsvertreter eigene Personalpapiere samt Führer- und Waffenscheinen ausstellen sowie Seminare etwa für den Umgang mit illegitimen Finanzbeamten veranstalten, beleuchtet die Heterogenität dieser Szene. Manche von ihnen scheinen die Berufung aufs Reich als eine Art Steuersparmodell auszulegen, das man durch Rückgabe eines Personalausweises in Kraft setzen kann. Andere horten Waffen und sind dazu bereit, diese gegen die Polizei einzusetzen, wie in Georgensgmünd 2016.

So wie es das Reich gegeben hat, so auch dessen Untergang. Das gilt auch für Nationalstaaten, die keine natürliche Rückzugsoption aus der EU bieten, sondern darauf gefasst sein müssen, dass abtrünnige Regionalpolitiker die Flucht nach Brüssel antreten, wie es das Beispiel Spanien zeigt. Gleichwohl wird man der Europaskepsis und dem Hang zur nationalen Abschottung gegen den wachsenden Migrationsdruck nicht Herr werden, indem man die Flucht nach vorne antritt. Vielmehr muss man gerade das für sich gewinnen, was viele Menschen durch die EU bedroht sehen: Heimatgefühl und den Wunsch nach Identität und Integrität. Auf regionaler Ebene ist Europa schon weit länger und enger verbunden als auf multilateraler staatlicher Ebene. Kultur und Handel, aber auch Arbeitsmigration und politisches Exil bis hin zu zahllosen Kriegen, Flucht und Vertreibung haben seine Regionen und Menschen auf vielfältigste Weise miteinander verbunden. Es gibt zahllose Anknüpfungspunkte für ein Europa der Regionen, und hier liegt ein wesentlicher Ansatzpunkt: Menschen, die sich von der Politik abgewendet und das Vertrauen in sie verloren haben, kann man nicht mit Appellen, sondern nur vor Ort und daheim wiedergewinnen.

Heidi Benneckenstein: Ein deutsches Mädchen. Mein Leben in einer Neonazi-Familie. Klett-Cotta, Stuttgart 2017, 252 S., 16,95 €. – William Drozdiak: Der Zerfall. Europas Krisen und das Schicksal des Westens. Orell Füssli, Zürich 2017, 328 S., 24  €. – Felix Ekardt: Kurzschluss. Wie einfache Wahrheiten die Demokratie untergraben. Ch. Links, Berlin 2017, 192 S., 18 €. – Andreas Speit (Hg.): Reichsbürger. Die unterschätzte Gefahr. Ch. Links, Berlin 2017, 216 S., 18 €. – Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburger Edition 2017,160 S., 12 €.

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