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© Gerngross Glowinski Fotografen

Politisch-künstlerische Annäherung zwischen Ost und West Heisig malt Schmidt

Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Kristina Volke ist Stellvertretende Leiterin und Kuratorin in der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages. Sie veröffentlichte Bücher zum Wandel von Kunst und Kultur in Ostdeutschland und zum Zusammenhang von Kultur und Entwicklung. Im September 2018 erschien bei Ch. Links »Heisig malt Schmidt«. Über die Entstehung des Kanzlerporträts hinaus liefert sie darin Hintergrundwissen zu den Biografien von Helmut Schmidt und Bernhard Heisig, dem ostdeutschen Maler, sowie über die verhärteten Fronten zwischen Ost und West in den 80er Jahren. Die Fragen stellte Klaus-Jürgen Scherer.

NG|FH: Der vor drei Jahren verstorbene Helmut Schmidt wäre am 23. Dezember letzten Jahres 100 Jahre alt geworden. Pünktlich zu diesem Termin haben Sie das Buch Heisig malt Schmidt vorgelegt. Helmut Schmidt kennen wir ja als altersweisen Weltökonomen, in seiner Kanzlerschaft als erfolgreichen Krisenmanager der Bundesrepublik, bei den damaligen Jusos – Stichwort: Umweltschutz und Friedensbewegung – nicht unumstritten. Sie zeigen nun eine ganz andere Seite von Schmidt. Ganz in Ihrem Sinne formulierte Andrea Nahles kürzlich: »Er wusste, musizierend und kunstbegeistert, um die kulturellen Dimensionen des Politischen.«

Kristina Volke: Richtig. Schmidt wollte sich immer so verstanden wissen. Es gibt ein paar Aufsätze und Publikationen, in denen er sich ausführlich dazu äußerte, woher sein enges Verhältnis zur Kunst kam. Deshalb ist bekannt, dass er sowohl durch sein Elternhaus als auch durch seine Schulzeit an der reformpädagogischen Lichtwarkschule in Hamburg geprägt wurde. Er spielte verschiedene Instrumente und hat dann, als er Politiker in Hamburg wurde, offensichtlich begonnen, aktiv Kunst und Kultur zu rezipieren. Er ging oft in Konzerte und ins Theater und hat dabei auch die Hamburger Schauspieler persönlich kennengelernt. Mit vielen von ihnen verband ihn eine lebenslange Freundschaft. Aber es war ihm wichtig deutlich zu machen, dass er einen langen Weg zur Kunst zurückgelegt hatte – ich vermute, er betonte das auch in Abgrenzung zu den bürgerlichen Politikern. In seinen Erinnerungen berichtet er zum Beispiel davon, dass er ins Theater gegangen ist und dafür Carlo Schmid brauchte, damit dieser ihm die großen Texte des Theaters erklären konnte, weil er selbst sich eben noch nicht als so firm verstand.

Anders war das bei der Malerei. Schon als Jugendlicher hatte er die Expressionisten kennen- und schätzen gelernt: Ab 1937 fuhr er als in Bremen stationierter 18-jähriger Soldat an seinen freien Tagen zu seinem Onkel nach Fischerhude. Dort hat er die Malerinnen und Maler um Otto Modersohn und Olga Bontjes van Beek kennengelernt und gelegentlich begonnen, ihre Kunst zu sammeln. Später meinte er einmal, was er in seiner Jugend an geistiger Orientierung erhalten habe, stamme zu großen Teilen von den Menschen in Fischerhude, das für ihn die einzige geistige Oase in der Nazizeit gewesen sei.

NG|FH: Wie kam es denn dazu, dass Schmidt ausgerechnet den in der DDR bedeutenden Bernhard Heisig aussuchte, damit er das offizielle Porträt für die Bonner Kanzlergalerie malt?

Volke: Das ist eine etwas längere Geschichte. Zunächst muss man wissen, dass Schmidt während seiner Kanzlerschaft ein außergewöhnliches Kunstprogramm initiierte. Natürlich nicht als Kulturpolitiker, denn dafür war er nicht zuständig. Aber im Rahmen seiner Möglichkeiten, etwa, als es um die künstlerische Ausstattung des neuen Kanzleramts ging, das seiner Meinung nach ja den »Charme einer rheinischen Sparkasse« hatte. Sein erstes großes Engagement also galt der Kunst der Expressionisten, denn er stattete das neue Kanzleramt in einem solchen Maße mit ihren Bildern und Skulpturen aus, dass man sich manchmal eher wie in einem Museum gefühlt haben muss als in einem Regierungssitz. Er verstand das als Teil einer Wiedergutmachung an den einst verfemten Künstlern, die für ihn stellvertretend für Humanität, Freiheit und Widerspruchsgeist standen. Sie in Bonn so prominent zu zeigen, war hoch symbolische Politik, ein Statement, das nach innen und außen wirken sollte und vor allem gegen Geschichtsvergessenheit und für eine verantwortungsvolle Politik kämpfte. Zum Zweiten hat er wenig später dafür gesorgt, dass eine große Henry-Moore-Skulptur vor das Kanzleramt gestellt wurde, was er als Bekenntnis zu Europa und als Zeichen für Weltoffenheit, Erneuerung und Toleranz verstand. Die meist kritischen Reaktionen darauf gaben ihm recht. Und er hat zum Dritten die Kanzlergalerie gegründet und dafür zunächst einmal die noch ausstehenden Kanzlerporträts, unter anderem das von Willy Brandt, beauftragen lassen.

Offensichtlich hatte er sich schon in seiner Amtszeit Gedanken über sein eigenes Porträt gemacht und war schon Mitte der 70er Jahre zu Oskar Kokoschka gefahren, von dem ja auch das berühmtere der beiden Konrad-Adenauer-Bildnisse stammte. Schmidt verbrachte drei Tage bei Kokoschka, musste aber dabei feststellen, dass das wohl nichts mehr werden würde …

NG|FH: … Kokoschka war Jahrgang 1886 …

Volke: … ja, Kokoschka war zu alt. Schmidt fühlte sich in der Skizze, die damals entstand, nicht richtig getroffen. Zudem wusste er, dass sein Porträt ohnehin erst nach Ende seiner eigenen Amtszeit entstehen könnte. Als er dann nach Amtsende vom damaligen Staatsminister im Bundeskanzleramt Philipp Jenninger gefragt wurde, wen er denn wählen würde, fasste er zunächst Olga Bontjes van Beek aus der Künstlerkolonie Fischerhude ins Auge. Er muss sie sehr verehrt haben, ich fand bei meinem Besuch des Schmidtschen Wohnhauses kurz nach seinem Tod einen Katalog auf der Lesebank, er muss sich also oft mit ihrem Werk beschäftigt haben. Aber sie war damals auch schon über 80 und hätte den Auftrag nicht mehr gemeistert. Danach hat Schmidt offensichtlich mit vielen Leuten gesprochen, unter anderem mit Hans Otto Bräutigam, der 1982 bis 1990 Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin war. Er und seine kulturaffinen Mitarbeiter – darunter zum Beispiel der spätere Leipziger Bürgermeister Georg Girardet – haben ihm die Leipziger Maler ans Herz gelegt. Nicht nur, aber eben auch Heisig, für den Schmidt sich ohne Zögern entschied, obwohl er den Medien der Bundesrepublik als »Staatskünstler« der DDR galt.

NG|FH: Sie zitieren auch den schönen Satz von Schmidt: »Kunst vereinigt nicht nur verschiedenartige Kunsteinflüsse, sondern sie verbindet auch Völker, sie führt Menschen über die Grenzen zueinander.« Es war ja sozialdemokratische Ansicht, es gebe trotz der beiden deutschen Staaten eine systemübergreifend fortbestehende deutsche Kulturnation.

Volke: Als sich Schmidt für Heisig entschied, gab es noch kein Kulturabkommen. Das wurde trotz der Bemühungen Schmidts erst 1986 unter Helmut Kohl geschlossen. Es gab natürlich schon seit den 70er Jahren einen regen Kulturaustausch, der Schriftsteller, Theaterensembles und jede Menge anderer Künstler aus der DDR in die Bundesrepublik gebracht hatte, aber die Entscheidung Schmidts war trotzdem extrem ungewöhnlich. Man darf nicht vergessen, dass gerade die bildende Kunst ein Schauplatz der Systemauseinandersetzung gewesen war. Abstrakte Kunst nach amerikanischem Vorbild hier, realistische Kunst nach sowjetischem Vorbild da. So jedenfalls lauteten die Stereotypen, die auf beiden Seiten ernst genommen wurden und mit großen Vorurteilen belegt waren. Vor allem gegenüber den bildenden Künstlern aus der DDR, die quasi als Erfüllungsgehilfen der Staatsideologie galten. Genauer schauten nur wenige hin, etwa Eduard Beaucamp, der Kritiker der FAZ, der Galerist Dieter Brusberg oder der damalige Herausgeber des art-Kunstmagazins Axel Hecht. Aber die Beteiligung von DDR-Malern wie Bernhard Heisig, Werner Tübke und Wolfgang Mattheuer an der documenta 6 hatte im Jahr 1977 noch zu einem großen Skandal geführt. Schmidts Entscheidung war also wider den Zeitgeist – und wiederum ein hoch symbolischer Akt, der über den eigentlichen Gegenstand, das Porträt also, weit hinauswies.

NG|FH: Welche Rolle spielte Heisig in der DDR? Es gibt einen Abschnitt in Ihrem Buch, der überschrieben ist mit »Autonomer Staatskünstler«. Das ist ja irgendwie ein Widerspruch.

Volke: Genau, das ist ein Paradoxon, eines, das Heisig allerdings ganz gut beschreibt. Heisig war in dem Sinne Staatskünstler, dass er innerhalb des DDR-Kunstsystems ein arrivierter Künstler war, ein Funktionär als Rektor der Leipziger Hochschule und stellvertretender Vorsitzender des Verbandes Bildender Künstler der DDR. Er war mit unsagbar vielen Preisen ausgezeichnet worden, man hatte ihm ein großes Atelierhaus gebaut, das er allerdings zur Miete bewohnte, er publizierte und äußerte sich permanent öffentlich. Heisig gehörte neben Tübke, Mattheuer und Willi Sitte zur sogenannten »Viererbande«, die die DDR häufig ins Ausland entsandte, wie etwa bei der erwähnten documenta 6. Und trotzdem war er künstlerisch autonom und hat im Laufe der Jahrzehnte jene für ihn typische Malerei der geschichtslastigen, mythisch aufgeladenen Simultanbilder entwickelt, die stilistisch an der Malerei des Expressionismus anknüpften, er aber mit neuen malerischen Mitteln weiterentwickelte. Er war ein Berserker, der weder sich noch seine Betrachter schonte – und war dafür lange Zeit mit Kritik und Häme aus der SED-Kunstpolitik bedacht worden. 1963 hatte man ihn aus der Hochschule geworfen und auch danach immer wieder öffentlich mit der Behauptung gedemütigt, dass seine Bilder hässlich, schlecht, geschichtspessimistisch oder sonst was seien. Als er Anfang der 70er Jahre an die Hochschule zurückkehrte, war das einem neuen Kurs in der DDR-Kunstpolitik geschuldet und nicht der Tatsache, dass er klein beigegeben hatte.

NG|FH: Ist das nicht für die DDR-Kunstgeschichte ziemlich typisch, dass Kulturschaffende nicht schwarz oder weiß tickten, sondern beides repräsentierten: einerseits oft grundsätzlich auf Seiten des Sozialismus standen und den Staat nicht prinzipiell infrage stellten, manchmal sogar mit der Staatssicherheit redeten, auf der anderen Seite aber immer auch nach Freiräumen suchten, sich im Namen von mehr Demokratie mit der Obrigkeit anlegten …

Volke: … völlig richtig …

NG|FH: … bis zur »Biermann-Resolution«?

Volke: Absolut, zumindest galt das wohl für Heisigs Generation und auch die vorangegangenen Generationen – und im Übrigen auch für den gerade erwähnten Wolf Biermann, der die DDR ja nicht freiwillig verlassen hatte, sondern ausgewiesen wurde, als er in Köln ein Konzert gab. Aber diese Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeit, oder muss man vielleicht besser sagen, freiwillige Indienstnahme, wirkte sich auch auf etwas aus, das ich gern als den »Gesprächsraum Kunst« in der DDR bezeichne. Auf der einen Seite war Kulturpolitik der symbolische Schauplatz für die einst in der Sowjetunion ausgedachte Konzeption einer sozialistischen Kunst, die vor allem dazu dienen sollte, die gesellschaftlichen Ideale abzubilden. Diese Propagandamaschine hat sich aber trotz großer Repressalien, die zu ihrer Durchsetzung angewendet wurden, nie realisiert – und das vor allem, weil Künstler wie Heisig sich aktiv dagegen gewehrt haben. Sie haben sich ihre wachsende Autonomie hart erstritten und damit zugleich einen Gesprächsraum etabliert, in dem man Gesellschaft grundsätzlicher diskutieren konnte als in den öffentlichen Medien – und der deswegen auch so wichtig war.

NG|FH: Heisig hat in seinen Werken voller Kritik am großen Rad von Politik und Geschichte gedreht, da war von »Welttheater« die Rede – ein großes Wort. Aber wie ist das eigentlich mit der Porträtmalerei großer Persönlichkeiten? Da denkt man eher an Herrscherbilder zur Glorifizierung ihrer Macht, ist das nicht etwas eigenartig, dass es in der Demokratie weiter solche Porträts gibt?

Volke: Ja, darin verbirgt sich tatsächlich ein Antagonismus, weil die Kanzlergalerie natürlich an die lange Tradition von Herrscherporträts anknüpft. Und zugleich sind es aus einem einfachen Grund keine Herrscherbildnisse: Sie entstanden nicht zu Amtszeiten, sondern im Nachhinein. Damit repräsentieren sie nicht die Macht, sondern sind Teil eines Geschichts- und Traditionsbewusstseins, in dem es nicht um Repräsentation, sondern um Kontinuität und Ideengeschichte geht. Schmidt selbst verstand die Einrichtung der Kanzlergalerie als einen Weg, der als geschichtslos geltenden Bonner Republik eine eigene Genealogie zu verleihen. Zudem muss man im Kopf behalten, dass es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen einem klassischen Herrscher und einem demokratisch gewählten Politiker, einem Volksvertreter gibt.

Aber so ganz ist der Widerspruch natürlich nicht aufzulösen, sonst würden die Kanzlerbildnisse nicht so große öffentliche Beachtung finden. Übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in England, man sieht es auch in den USA, wo es ebenfalls eine große Traditionslinie solcher Bildnisse gibt. Als die Obamas ihre Porträts in Auftrag gaben, ging es ihnen um mehr als nur postume Erinnerung. Vielmehr lieferten sie mit den Gemälden von Amy Shepard und Kehinde Wiley symbolisch hoch aufgeladene Statements, in denen es auf einer Metaebene um Repräsentation und Macht selbst geht. Ihr Amtsnachfolger Donald Trump hat von alldem nichts verstanden oder es ist eben nicht seine Auffassung, wie das gerade erst im Weißen Haus aufgehängte Gemälde The Republican Club von Andy Thomas zeigt, das ihn selbst in die Mitte einiger seiner republikanischen Amtsvorgänger stellt und vor allem eines will: Macht repräsentieren.

NG|FH: Einige Jahre nach Entstehung des Schmidt-Porträts fiel die Mauer und die deutsche Einheit wurde auf einmal möglich. Plötzlich wurde ein sogenannter deutsch-deutscher Bilderstreit ausgerufen. Es stand die These im Raum, dass in der DDR unter Bedingungen der Diktatur gar keine Kunst hätte entstehen können, dass es dort nur kommunistische Auftragskunst gegeben habe. Darüber wurde ernsthaft diskutiert. War Heisig da nicht auch involviert?

Volke: Er war mittendrin und sogar eine Art Nukleus, an dem sich der Streit verschiedene Male entzündete. Dazu muss erwähnt werden, dass 1989, zur Zeit des Mauerfalls, gerade eine große Retrospektive im Martin-Gropius-Bau in Westberlin stattfand. Heisig hatte sozusagen den Schritt zum gesamtdeutschen Maler geschafft, als sich quasi über Nacht die bislang so offene Atmosphäre total veränderte. Der sogenannte deutsch-deutsche Bilderstreit begann mit einer polarisierenden Äußerung von Georg Baselitz, mit der er den Leiter des Kölner Museums Ludwig verteidigte, weil der keine DDR-Kunst mehr zeigte. Baselitz prägte damals den Satz, dass es in der DDR überhaupt keine Künstler gegeben hätte, weil sie alle im Auftrag gearbeitet und damit nicht nur die Freiheit, sondern auch die Liebe, das Leben und die Kunst verraten hätten.

Der daraufhin über viele Jahre heftig geführte Streit um Kunst aus der DDR wurde immer wieder an Heisig festgemacht, er galt quasi als typisches Beispiel für den sozialistischen Kunstbetrieb und damit als jemand, den man eben jetzt nicht mehr ausstellen und beachten sollte im Gegensatz zu vielen anderen wesentlich oppositionelleren Künstlern.

NG|FH: Aber der Deutsche Bundestag hat das dann anders gesehen.

Volke: Ja, und ich bin immer wieder stolz, dass ich heute an dieser Stelle als Kuratorin arbeite, auch wenn die Entscheidung für Heisig weit vor meiner Zeit dort lag. Als der damalige Kunstbeirat im Zuge des Hauptstadtbeschlusses und der Umgestaltung des Reichstagsgebäudes durch Sir Norman Foster begann, ein großes, immerhin mit 3 % der Bausumme finanziertes Kunstprogramm zu realisieren, bezog man auch Künstler aus der DDR in diese Pläne ein. Bernhard Heisig war nicht der einzige, dabei waren auch Carlfriedrich Claus und Hermann Glöckner, letzterer war allerdings schon verstorben. Der Streit entfachte sich zunächst an der von Sebastian Preuss im Feuilleton gestellten Frage, ob das nicht viel zu wenige Künstler aus der DDR seien und die Bundesrepublik sich mal wieder nur selbst wahrnehme und feiere. Aber die Frage fand keine Beachtung, vielmehr wurde sie in ihr Gegenteil verkehrt, denn die so öffentlich gewordene Beteiligung Heisigs führte zu einer gewaltigen Petitionswelle vor allem von oppositionellen Künstlern aus der DDR, die meinten, die Beauftragung Heisigs komme einer Legitimation des Unrechtsstaates und der DDR-Kunstdiktatur gleich. Diese Diskussion ist natürlich im Kunstbeirat als zuständigem parlamentarischen Gremium geführt worden, aber vor allem auch in der Öffentlichkeit. Der Druck, hier moralisch und politisch richtig zu entscheiden, muss enorm gewesen sein, denn es gibt kaum einen symbolischeren Ort als das Reichstagsgebäude. Der Kunstbeirat hat sich unter dem Vorsitz von Wolfgang Thierse, aber auch wesentlich durch die Fürsprache von Thomas Krüger, der damals noch Bundestagsabgeordneter und Mitglied des Kunstbeirates war, für die Beteiligung Heisigs ausgesprochen und die wirklich weise Begründung gegeben, dass es erstens keine Gesinnungsprüfung für Kunst geben könne und Heisig zweitens bewiesen habe, dass er ein selbstkritischer Künstler war, der sich der Kunst nicht zu Propagandazwecken bedient hatte, sondern in ihr nach Antworten auf die Fragen nach Schuld und Verantwortung suchte, die aus der deutschen Geschichte und insbesondere aus dem Nationalsozialismus erwachsen.

NG|FH: Er hat vor allem nach der Wende immer wieder dieses Ikarusmotiv gemalt …

Volke: … auch schon vorher!

NG|FH: Das Motiv zeigt vielleicht besonders deutlich dieses Spannungsverhältnis zwischen der Utopie und ihrem tendenziellen Scheitern an der Realität.

Volke: Ikarus war in der DDR-Kunst ein wichtiges Thema, viele Künstler haben sich an der Metapher für die Gefahren und Potenziale menschlicher Utopien abgearbeitet, denn die Parallelen zum Sozialismus waren einfach naheliegend. Auch Heisig hat es in seinen Gemälden immer wieder verwendet. Oft ist Ikarus dabei als Stürzender zu sehen, das Ende der Utopie war damit vorweggenommen. Eines der wenigen Gemälde, in denen er das anders handhabte, war sein Gemälde für die Galerie im Palast der Republik. Ich widme ihm im Buch einige Gedanken, weil es mir in der Koinzidenz mit dem Lied vom sterbenden Ikarus Wolf Biermanns wichtig erschien. Das übergeordnete Thema der Galerie lautete: »Dürfen Kommunisten träumen?«, es war also eine offene und deshalb ausgesprochen provokante Frage. Ich glaube, dass er in diesem Moment tatsächlich seiner innersten Hoffnung Ausdruck verleihen wollte, dass die Utopie des Sozialismus doch vielleicht irgendwie funktionieren könnte. Das Verrückte ist, dass Wolf Biermann wenige Wochen später ausgebürgert wurde. Sein Lied über Ikarus beschreibt im Gegensatz zu Heisig die Unmöglichkeit dieser Utopie im Sozialismus.

NG|FH: Biermann besingt in seiner Ballade vom preußischen Ikarus den preußischen Adler auf dem Geländer der Weidendammer Brücke über der Spree.

Volke: Genau. Heisig malte den Ikarus nach der Wende ebenfalls als abgestürzt. Er liegt vergessen und verlassen wie kaputter Schrott im Hinterhof.

NG|FH: Kommen wir zum Schluss noch einmal auf Helmut Schmidt zurück. Nach allem, was Sie über Heisig dargestellt haben, ist noch überraschender, dass Schmidt, dem ja der Satz »Wer Visionen hat, der sollte zum Arzt gehen« nachhängt, sich für Heisig entschied. Schmidt hatte ja den Ruf eines pragmatischen Machers und Realpolitikers …

Volke: … und nicht den, ein besonderer Freund der DDR zu sein.

NG|FH: Genau. So wurde das SPD/SED-Papier von 1987 von ihm abgelehnt und für die damaligen Jusos war die von ihm erfundene NATO-Nachrüstung der Sündenfall.

Volke: Das passt aber zu dem Thema Symbolpolitik. Schmidt hat sich in Güstrow, als er in der DDR zum Staatsbesuch war, bewusst zu der Skulptur Schwebender Engel von Ernst Barlach mit dem Antlitz von Käthe Kollwitz über dem Taufbecken im Dom führen lassen. Er war in der Barlach-Sammlung und hat sich im Dom einen Orgelchoral von Johann Sebastian Bach vorspielen lassen. Das Ganze war kein offizielles Kulturprogramm der DDR-Gastgeber, sondern entsprach seiner persönlichen Leidenschaft für Barlach und Bach. Aber es sollte offensichtlich auch symbolisch, so habe ich das jedenfalls gelesen und interpretiert, ein Zeichen dafür sein, dass Kunst und Kultur die Deutschen als Nation eint.

Und genauso ist der Schritt zu verstehen, Heisig als Maler zu wählen. Er wollte offensichtlich ein Zeichen dafür setzen, dass die Deutschen trotz Mauer und Zweistaatenlösung immer noch eine geeinte Nation sind, dass die Deutschen zusammengehören. Und was gibt es Besseres, als dafür ein solch überraschendes Zeichen zu setzen, das sich über alle eingeübten Abgrenzungen und Vorurteile hinwegsetzte?

Kristina Volke: Heisig malt Schmidt. Eine deutsche Geschichte über Kunst und Politik. Ch. Links, Berlin 2018, 224 S., 30 €.

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