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Neuerscheinungen zur künftigen weltpolitischen Rolle Chinas Herausforderung oder Feindbild?

Gerhard Stahl bemüht sich in seinem aktuellen Buch China. Zukunftsmodell oder Albtraum um ein differenziertes Bild des gegenwärtigen China. Es geht aus von der Veränderung der westlichen Einschätzung der geopolitischen Rolle Chinas und wirft die Frage auf, wie Europa sich diesem Land gegenüber verhalten soll. Ziel des Buches – so Stahl – ist es, einen »tieferen Blick auf die vielschichtige widersprüchliche chinesische Gesellschaft« zu werfen. Stahl ist kein »China-Experte« und er war erst 2008 zum ersten Mal in diesem Land. Von 2014 an hat er an der Business School der Peking University HSBC eine Zeit lang im Master-Programm unterrichtet.

Das Buch wirft zunächst einen kurzen Blick auf Chinas neuere Geschichte, seine Öffnungspolitik ab den 80er Jahren und seine geopolitische Rolle. Es befasst sich mit dem politischen System, der Urbanisierung und ihren Kontexten, der Regional- und Innovationspolitik, dem Wandel zu nachhaltiger Entwicklung und der Öffnung internationaler Märkte. Es beleuchtet die »Neue Seidenstraße« und Chinas Geopolitik und Soft-Power, Taiwan und die Taiwan-Frage, den neuen Kalten Krieg mit den USA, die chinesisch-russische Freundschaft, die Handelsauseinandersetzungen mit dem Westen, geht der Frage der Menschenrechte, der EU-China-Beziehungen nach und gibt zuletzt einen Ausblick auf die Zukunft.

Stahl zufolge sollte die EU eine Politik zwischen den USA und China verfolgen und sich für eine multipolare internationale Ordnung und eine »friedliche regelbasierte internationale Zusammenarbeit« einsetzen. Zugleich sollte die EU von China die Zusammenarbeit zur Lösung globaler Probleme einfordern und ihre Werte über einen intensiven Austausch mit China vermitteln.

Für Alexander Görlach (Alarmstufe Rot) ist China eine aggressive Weltmacht, die sich an keine Regeln hält. Durch dieses Verhalten bestehe eine akute Kriegsgefahr. Er zieht eine deutliche Linie zwischen Demokratien und Autokratien wie Russland und China. China kennzeichnet er als »totalitären« Staat.

Eine Differenzierung ist notwendig

Görlach ist ebenfalls kein »China-Experte«. Sein Buch stützt sich primär auf Medienquellen, lediglich zwei wissenschaftliche Bücher werden von ihm benannt. Begriffe wie totalitär, autoritär oder Diktatur, die er zur Kennzeichnung Chinas verwendet, sind analytisch wenig hilfreich, weil sie weder etwas über die Qualität des institutionellen Gefüges eines Systems aussagen noch über die Gründe von Erfolg oder Scheitern eines Systems. Es gibt erfolglose autoritäre Systeme und erfolgreiche, eine Unterscheidung, die wichtig ist, um politische Systeme einschätzen zu können.

Totalitär bezieht sich zum Beispiel auf die Existenz einer totalitären Ideologie, die Herrschaft einer Partei, die sich auf diese Ideologie stützt, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol, eine zentralisierte Wirtschaft und eine permanente Mobilisierung der »Massen«. Unter dem Einfluss der frühen Totalitarismustheorie wurden die sozialistischen Systeme nicht unter dem Aspekt des Wandels, sondern unter dem Aspekt der Stagnation untersucht. Diese wissenschaftliche Sackgasse führte zu einseitigen und wenig differenzierten Schlussfolgerungen, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse, wie wir sie in der Volksrepublik China nach dem Ende der maoistischen Ära erlebten, nicht zu erklären vermochten.

Im Interesse notwendiger Differenzierung wurde deshalb die Unterscheidung zwischen totalitären und autoritären Regimen eingeführt. Systeme mit kollektiver politischer Führung, mit einem begrenzten politischen Pluralismus, in denen eine exklusive Ideologie keine zentrale Rolle spielt, keine extensive politische Mobilisierung der Bevölkerung stattfindet und ein Mindestmaß an politischer Partizipation herrscht, galten damit als autoritär und nicht als totalitär.

In autoritären Systemen ist Willkür eingegrenzt, der Einzelne besitzt, unter der Voraussetzung, dass er sich nicht gegen das System auflehnt, ökonomisch und sozial weitgehende Entscheidungsfreiheit. Unterschiedliche soziale Gruppen, Interessen und Organisationen werden akzeptiert, solange diese sich in das bestehende System einfügen und keinen Systemwechsel einfordern.

Görlach macht nicht einmal den Versuch zu erklären, wie denn der enorme und rasche ökonomische und gesellschaftliche Wandlungsprozess China seit Ende der 70er Jahre zustande kommen konnte. Und mit seiner Argumentation, die chinesische Diktatur funktioniere »nur mit Angst und Einschüchterung« gibt er jede weitere Analyse auf. Der singapureanische Diplomat und Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani hat auf solche Argumente einmal mit einer Frage geantwortet: Wenn China ein so unterdrückerischer Staat wäre wie im Westen oft behauptet, wie käme es dann, dass (vor Beginn der Pandemie) jedes Jahr 130 Millionen chinesische Staatsbürger ins Ausland gefahren und 130 Millionen freiwillig wieder zurückgekehrt seien.

Aussagen wie »Überall in der Volksrepublik unterhält die Partei Zellen, deren Aufgabe es ist, die Mitbürgerinnen und Mitbürger auszuspionieren« verdeutlichen, dass Görlach im Grunde genommen keinerlei Verständnis von den politischen Prozessen in China besitzt.

Darüber hinaus enthält das Buch eine große Zahl sachlicher Fehler. Chinesische Kampfjets dringen nicht fortgesetzt in den »taiwanesischen Luftraum« ein, sondern in die Luftverteidigungszone, die nicht Teil des Hoheitsgebietes eines Staates ist und daher auch keine Grundlage im Völkerrecht hat. Sie wurde von Taiwan einseitig festgelegt und umfasst auch Teile der Volksrepublik China.

Selbst einfache handwerkliche Fehler unterlaufen ihm: Einer Grafik zufolge wählt der »Nationale Volkskongress« das Zentralkomitee und die Zentrale Disziplinkontrollkommission der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Beim Volkskongress handelt es sich jedoch um das chinesische Parlament, das mit der Wahl der Parteigremien nichts zu tun hat. Es ist der Nationale Parteitag der KPCh, der das ZK wählt. Auch ist es nicht richtig, dass der Nationale Volkskongress überhaupt keinen Einfluss auf Anträge, Gesetze und politische Vorgaben habe. Auch wenn sein Einfluss begrenzt bleibt, erörtern seine Mitglieder gleichwohl Gesetzesvorhaben, werden Anträge von Gruppen und Mitgliedern (yi'an und ti'an) – besonders im Falle von Beschwerden gegenüber staatlichen Behörden – an die entsprechenden staatlichen Behörden weitergeleitet, wobei die Letzteren gesetzlich verpflichtet sind, innerhalb einer bestimmten Frist eine Antwort zu geben.

Die »rote Linie« ist die Partei

Auch, dass die »letzten kritischen Stimmen zum Verstummen« gebracht worden seien, ist so nicht richtig. Der kanadische Geschichtsprofessor David Ownby etwa betreibt seit Jahren eine Internetplattform über aktuelle intellektuelle Diskurse in China, die im Westen kaum wahrgenommen werden, aber in China enormen Einfluss besitzen. In chinesischen Aufsätzen und Buchpublikationen und auch im Internet finden sich immer wieder überraschende Beiträge und Kritik am Verhalten des Staates oder von Behörden auf zentraler wie lokaler Ebene. Die »rote Linie« ist die Partei. Sie ist weitgehend tabu, nicht aber der Staat und so gibt es vielfältige Kritik an staatlichem Verhalten wie in jüngster Zeit etwa im Hinblick auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine oder die Pandemiepolitik.

Görlach legt zwar bei existierenden Problemen den Finger in die Wunde, so zum Beispiel bei der Politik gegenüber den ethnischen Minderheiten in der Region Xinjiang, das Vorgehen in Hongkong oder Menschenrechtsfragen. Eine überzeugende Analyse der Hintergründe vermag er indessen nicht zu liefern. Würde man es auf den Punkt bringen wollen, dann ist China für ihn ein Schurkenstaat, der die Welt erobern und nach seinem Gutdünken gestalten will.

Görlachs Auffassung ist: Die demokratischen Länder des »Westens« repräsentieren das »Gute«, China das »Böse«. Eine historische und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Land unterbleibt ebenso wie die Einordnung des chinesischen Verhaltens in die außenpolitische Strategie der Vereinigten Staaten. Letztere hat John Mearsheimer, einer der bedeutendsten US-Professoren für internationale Beziehungen bereits vor Jahren in The Tragedy of Great Power Politics folgendermaßen charakterisiert: China wolle aufsteigen, die USA jedoch wollten alleinige Weltmacht bleiben. Dies müsse notwendig zu einem militärischen Konflikt führen. Görlachs ideologisch geprägter Blick übersieht von daher das hintergründige Wesen des Konfliktes.

Herrschaft über die Netze

Das neue Buch von Jonathan E. Hillman (Chinas Digitale Seidenstraße) argumentiert, China habe sich angeschickt, die Welt zu vernetzen und die globale Ordnung neu zu gestalten. Die USA und ihre Verbündeten, so ein Kernargument, müssten darauf reagieren, um den Wettbewerb mit China nicht zu verlieren. China habe sich »nicht nur zum größten Big Brother« entwickelt, sondern sei global gesehen auch der wichtigste Anbieter von moderner Kommunikationstechnologie. Die Welt sehe sich einem »Netzwerk-Krieg gegenüber«, wobei der Autor zugleich Vorschläge unterbreitet, wie die Vereinigten Staaten diesen Krieg für sich entscheiden könnten.

Im Endeffekt konstatiert Hillman für China einen Plan wie es über Kommunikationstechnologie und die »Herrschaft über die Netze« die Welt zu beherrschen suche.

Die Argumentation ist dabei durchaus ambivalent. Hillman sieht im Verhalten der USA gegenüber China durchaus ein Abgleiten in Richtung »Paranoia«: »China scheint überall zu sein, vereint und alles im Griff zu haben«. Nicht nur der »Siegeszug Chinas« sei eine Gefahr für die USA, sondern auch eine »mögliche Überreaktion« darauf. Zugleich weist er darauf hin, dass die chinesische Führung zwar Themen vorgebe, aber keine detaillierte Marschrichtung. Es herrsche ein »Mangel an Koordination und Kontrolle« auf chinesischer Seite.

Er beklagt die jahrzehntelange Leichtfertigkeit der Weitergabe von Kommunikationstechnologien durch US-Firmen aufgrund kommerzieller Interessen und getragen von der frühen Hoffnung, diese Technologien würden letztlich zu einem Demokratisierungsprozess in China beitragen. Das Ergebnis sei, dass China dadurch seine Kommunikationstechnologien habe rasch entwickeln können und heute der führende Anbieter weltweit sei, vor allem im Hinblick auf Entwicklungsländer aber auch auf ländliche und ärmere Märkte in westlichen Ländern. Zugleich leite China »gezielt Datenströme« um, wobei Hillman zugleich zugibt, dass der »Unterschied zwischen unschuldigen Fehlern und gezielter (…) Manipulation« unmöglich zu erkennen sei.

Die USA und ihre Verbündeten müssten mit anderen Demokratien auf technologischem Gebiet eng zusammenarbeiten. Die USA müssten technologisch wieder die Führerschaft übernehmen und als Gegengewicht gegen China eine Allianz der Demokratien schaffen, wobei »nationale Interessen« als »Kompass für die US-Außenpolitik« fungieren sollten. Um China von Märkten zu verdrängen, spiele zugleich die »Bezahlbarkeit« von Technologien eine gewichtige Rolle.

Der »America Competes Act of 2022« mit dem die USA ihren Führungsanspruch in Hochtechnologien und gegen China unterstreichen, der US-Eindämmungsversuch im Hinblick auf hochmoderne Halbleiter und andere Maßnahmen verdeutlichen, dass die USA bereits in diese Richtung gehen. Die Warnung vor einer Paranoia in den USA sowie vor Protektionismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus veranschaulichen, welche Gefahren lauern, wenn Chinas Aufstieg zur Weltmacht einseitig als Plan zur Weltbeherrschung interpretiert wird.

Insgesamt gesehen, bemüht sich das Buch von Stahl um eine differenzierte Betrachtung Chinas und spricht sich für eine eigenständige Politik sowohl gegenüber China wie auch den USA aus. Es ist als Einstieg in die Problematik gut geeignet. Görlachs Buch gibt trotz Benennung realer Probleme Chinas und dessen Verhaltens im Vergleich zu dem von Stahl ein eher undifferenziertes und einseitiges Bild wieder. Das Buch von Hillman wiederum weist auf ein Problem hin, das für die globale Zukunft in hohem Maße relevant bleibt: die Frage der Sammlung und Verwendung von Daten und Informationen als geopolitischer und globaler Machtfaktor, auch wenn das Buch weitgehend von einer US-amerikanischen Perspektive getragen wird.

Gerhard Stahl: China. Zukunftsmodell oder Albtraum? Europa zwischen Partnerschaft und Konfrontation. J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2022, 192 S., 22 €. – Alexander Görlach: Alarmstufe Rot. Wie Chinas aggressive Außenpolitik im Pazifik in einen globalen Krieg führt. Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, 240 S., 24 €. – Jonathan E. Hillman: Chinas digitale Seidenstraße. Der globale Kampf um die Herrschaft über die Daten. Plassen, Kulmbach 2023, 352 S., 24,90 €.

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